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Wetterlady und Powerfrau

Wir müssen Barrieren brechen


Eser Akbaba hat eine klare Botschaft in ihr neues Buch „Sie sprechen ja Deutsch!“ verpackt. Im Interview mit wienlive spricht sie offen über Stolpersteine und will Mut machen.
Text: Ursula Scheidl / Foto: Stefan Joham


Strahlend wirbelt sie mit wildem Lockenkopf herein – unverkennbar ihr Markenzeichen. Seit März 2013 präsentiert Eser Akbaba das ORF-1-Wetter, aber der Weg dorthin war nicht immer einfach. In ihrem Buch erzählt sie, mit welchen Schwierigkeiten ihre Familie konfrontiert war, als sie in Österreich ankam, und was es heißt, als Gastarbeiterkind zwischen zwei Welten aufzuwachsen.

wienlive: Sie sind in Wien geboren. Wann waren Sie das erste Mal mit diesem erstaunten Satz „Sie sprechen ja Deutsch!“ konfrontiert?
ESER AKBABA: Ich bin mit Deutsch als Erstsprache aufgewachsen und kam mit einem Jahr in den Kindergarten. Zu Hause wurde mehrheitlich türkisch gesprochen, aber ich kann Deutsch viel besser als meine Muttersprache Zaza oder Türkisch. Einmal kam ein älterer, sehr netter, adrett gekleideter Mann auf mich zu. Offenbar kannte er mich aus dem Fernsehen. Er sagte: „Sie sprechen aber sehr gut Deutsch.“ Ich war so verdutzt, das passiert mir wirklich sehr selten (lacht)! Ich antwortete: „Danke sehr, Sie aber auch.“ Es passiert immer wieder, ich weiß nicht warum. Mittlerweile sollte es eigentlich selbstverständlich sein, dass die Nachgeneration sehr gut Deutsch spricht, teilweise sogar noch besser als die Muttersprache.

Sie sprechen ein sehr schönes Deutsch, obwohl Sie in Simmering aufgewachsen sind. Wieso wollten Sie schon als kleines Mädchen Moderatorin werden, das ist doch eher ungewöhnlich?
AKBABA: Wir sechs Kinder haben mit den Eltern immer „Zeit im Bild“ geschaut, danach kam das Wetter. Carl Michael Belcredi hat mich fasziniert – mit seinen karierten Pullis –, wie er über das Wetter, die Wolken und Hochs und Tiefs gesprochen hat. Das wollte ich auch machen. In unserer Souterrain-Wohnung gab es zudem einen kleinen Spiegel, der mich magisch angezogen hat, da habe ich immer reingesprochen.

Wie haben Ihre Freunde und Eltern auf Ihren Berufswunsch reagiert?
AKBABA: Das war ein Traum, den ich aufblühen lassen habe. 2009 wurde ich entdeckt, habe das aber selber noch nicht so wirklich realisieren können. Ich war bei der Zeitschrift „biber“ bei einer Podiumsdiskussion. Bibi Handlos, meine Entdeckerin, hat mich angesprochen, dass ich als Moderatorin zum ORF sollte. Das war schon ein großes Thema, medial, aber auch natürlich innerhalb der Familie.

Warum glauben Sie, haben Sie es geschafft?
AKBABA: Ich bin ja nicht die Einzige, die das alles, was ich erlebt habe, erlebt hat, aber ich bin die einzig Sichtbare. Es gibt so viele andere Esers da draußen, Ärztinnen, Rechtsanwältinnen, Managerinnen. Aber man sieht sie nicht so wie mich jeden Tag im Fernsehen. Deswegen kann ich sagen, ich habe es geschafft im Sinne, dass ich sichtbar bin – vom Gastarbeiterkind zur ORF-Moderatorin – da gibt’s wirklich nicht viele. Aber man kann es schaffen. Man kann es wirklich schaffen.

Warum haben Sie das Buch geschrieben?
AKBABA: Eigentlich wollte ich es mit 80 schreiben. Aber mein Kollege Jürgen Pettinger hat mich letztes Jahr dazu überredet. Da bin ich genau 40 geworden. Ich habe ihm im Studio zwischendurch immer Geschichten erzählt, diese andere Welt, die er nicht kennt, hat ihn sehr interessiert. Nach einem Todesfall in der Familie war ich nicht sicher, ob ich das schaffe. Er hat gesagt, wir machen das jetzt einfach!

Was ist Ihnen in Ihrem Leben besonders gut oder weniger gut gelungen?
AKBABA: Meine Haare (lacht). Nein. Das war ein Scherz, ich glaube, was mir gut gelungen ist, ist mein Buch. Ich glaube auch, dass ich gezeigt habe, dass ich etwas in diesem Land erreicht habe, was viele vielleicht noch erträumen oder vielleicht gar nicht einmal zu träumen wagen. Ich bin stolz darauf, weil es war schon ein steiniger Weg. Was ist mir weniger gut gelungen? Na ja, ich hab’s nicht so mit der Männerwelt, wobei, wer weiß? Was nicht ist, kann ja noch werden!

Sie wirken immer so fröhlich, optimistisch und ausgeglichen, gibt es irgendetwas, das Sie aus dem Gleichgewicht bringen kann?
AKBABA: Es fällt mir nicht schwer, ein fröhlicher Mensch zu sein, ich denke, mir geht’s gut, ich lebe in einem schönen, sicheren Land, wenn wir es mit anderen vergleichen. Ich versuche immer das Positive zu sehen, aber natürlich bringen mich manche Situationen auch auf die Palme, da kommt dann mein südländisches Blut durch. In Anatolien kann man ordentlich streiten. Meine Familie kennt das. Unsere Gesprächskultur ist anders, ich rede gerne mit Händen und Füßen. Da ist man temperamentvoll, obwohl ich mittlerweile schon viel gelassener bin.

Sie sind Vorbild für viele junge Mädchen. Welche Botschaft, möchten Sie ihnen mitgeben?
AKBABA: Ich tu mir sehr schwer mit dem Begriff Vorbild. Weil jeder sollte aus sich selbst das Beste mitnehmen. Wenn ich aber der Nachgeneration vermitteln kann, du schaffst es, wenn du es willst, du musst nur dahinter sein, dann bin ich gerne ein Vorbild.

Wo ist Ihre Heimat?
AKBABA: Ich habe schon als kleines Kind immer im Sommer einen Monat im Dorf bei den Großeltern oder auch in Istanbul verbracht. Natürlich fühle ich mich zu meinen Wurzeln stark hingezogen. Aber Heimat ist für mich Wien. Ich bin hier geboren und aufgewachsen. 


„Sie sprechen ja Deutsch“
Eser Akbaba, Jürgen Pettinger.
Mit Illustrationen von Hüseyin Işık
184 Seiten, Format 13,5 x 21,5
Kremayr & Scheriau, € 22,–

Schillernde Persönlichkeit

„Menschen im Hotel“


Vicki Baum war in der Weimarer Zeit eine Bestsellerautorin – „Menschen im Hotel“, das bekannteste Buch der Wienerin, ist aber auch heute noch unbedingt lesenswert.
Text: Helmut Schneider / Foto: Max Fenichel


Manchmal bedarf es eines Zufalls, damit man einen Roman liest, den man immer schon im Fokus hatte. Als ich kürzlich meine Wohnung verlies, fand ich am Fensterbrett beim Ausgang die Taschenbuchausgabe von Vicki Baums Roman „Menschen im Hotel“. In unserem Haus ist es üblich Dinge, die zu schade zum Wegwerfen sind, dort abzulegen – ich habe dort auch schon unzählige Bücher zur freien Entnahme platziert. Ein Wink des Schicksals sozusagen, denn Vicki Baum war mir als schillernde Persönlichkeit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wohl bewusst, gelesen hatte ich allerdings noch nie etwas von ihr, galt sie doch immer als sogenannte Unterhaltungsschriftstellerin. Ein blöder Ausdruck sowieso, denn gerade gute Literatur ist immer Unterhaltung. Nach ein paar Seiten war aber ohnehin klar: Vicki Baum ist eine exzellente und höchst raffinierte Erzählerin. Sie hat das in diesem Roman von 1929 perfektioniert, was Autoren und Filmemacher bis heute praktizieren. Spannung aufbauen und dann – im entscheidenden Moment – zum nächsten Erzählstrang springen und so weiter. Cliffhanger nennt man das beim Film. Soweit mir bekannt, war das damals freilich in Hollywood noch längst nicht üblich.

Von Wien nach Hollywood Hollywood ist auch ein gutes Stichwort, denn dorthin verschlug es die Wienerin nach vielen Jahren in Deutschland letztendlich, wenn auch nicht ganz freiwillig. Vicki Baum hieß eigentlich Hedwig Baum und wurde 1888 auf der Wieden in Wien als Tochter eines jüdischen Regierungsbeamten geboren. Sie besuchte das Pädagogium und ließ sich von 1898 bis 1904 zur Harfenistin am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde ausbilden. Nach einem Engagement im Symphonieorchester des Wiener Konzertvereins kam sie 1913 als Harfenistin nach Darmstadt. 1916 heiratete sie den Dirigenten Richard Lert und ab 1919 veröffentlichte sie erste Bücher. Ihr endgültiger Durchbruch war dann 1929 ihr Roman „Menschen im Hotel“, den sie selbst auch dramatisierte und der schließlich sogar am Broadway lief ehe er in Starbesetzung (Greta Garbo und Joan Crawford) verfilmt wurde. 1931 übersiedelte sie selbst in die USA, zumal ihre Bücher von den Nazis stark angefeindet und nach der Machtergreifung Hitlers sogar verbrannt wurden. 1949 bereiste Vicki Baum Europa: Portugal, Frankreich, Italien, Schweiz und Belgien, nicht aber Deutschland und Österreich. Sie verstarb 1960 in Los Angeles. Ihre zahlreichen Romane, die oft verfilmt und in mehrere Sprachen übersetzt wurden, werden teilweise heute noch verlegt. Menschen im Hotel Die spannendste Figur in diesem Roman, der in einem Berliner Nobelhotel spielt, ist sicher die des todkranken Unterbuchhalters Kringelein, der vor seinem baldigen Ende noch einmal richtig leben will und dabei dort absteigt, wo sein Chef, Generaldirektor Preysing, immer zu nächtigen pflegt. Er, der sich sein ganzes Leben lang kaum die Kohle leisten konnte, will mit dem bisschen Ersparten vor seinem Tod noch den Duft des Reichtums schnuppern. Weitere Protagonisten sind ein verarmter Graf und Hochstapler, der zum Dieb wird, ein Kriegsveteran mit halben Gesicht (allein weil Baum massiv gegen den Krieg wetterte, war sie den Nazis schon verdächtig), eine Prima Ballerina, die das Abflauen ihrer Karriere erleben muss, besagter Generaldirektor und ein hübsches Berliner Mädel, das aus Not nicht nur Schreibarbeiten, sondern auch sich selbst verkauft. Vicki Baum versteht es, soziale Ungerechtigkeiten erlebbar zu machen, ihre Protagonisten sind nicht einfach schwarz oder weiß gezeichnet, sondern menschlich. Selbst der bluffende Generaldirektor oder der Juwelendieb und Fassadenkletterer haben ihre guten Seiten. „Menschen im Hotel“ mit seiner heute noch gültigen Gesellschafts- und Zivilisationskritik ist nichts Geringeres als ein Romanklassiker, den man immer wieder lesen kann.


Statistik einmal spannend

Echte Zahlen


Klemens Himpele, Chef der Wiener Statistik, hat ein wunderbar lesbares Buch
über „echte Zahlen“ geschrieben und stellt dabei einige Halbwahrheiten richtig.
Text: Helmut Schneider / Fotos: Wiener Linien/Johannes Zinner; Ludwig Schedl


Statistiken mögen knochentrocken sein. Wer sie aber zu lesen weiß, gewinnt dadurch wichtige Erkenntnisse über unsere Gesellschaft und unseren Lebensraum. Klemens Himpele, Leiter der Magistratsabteilung Wirtschaft, Arbeit und Statistik der Stadt Wien, weiß, wie man Statistik
anschaulich präsentiert. In seinem neuen Buch nimmt er sich selbst als „zuagraster Piefke“ auf die Schaufel und berichtet über seine neue Wahlheimat (seit 2012) unterhaltsam und trotzdem
wissenschaftlich fundiert. Er klärt etwa auch selbstkritisch auf, wo Zahlensammler nur vermuten können und welche Tücken manche Vergleiche in sich haben. Etwa die vielen Listen, in denen Wien global an erster Stelle ist. Da werden natürlich immer verschiedene Kriterien verschieden gewertet. Außergewöhnlich ist freilich trotzdem, dass Wien immer hervorragend abschneidet, manchmal als eine der wenigen Städte in Europa.

WIEN UND DIE BUNDESLÄNDER
Der Wahlwiener Himpele ist als geborener Deutscher in Wien bekanntlich keine Einzelerscheinung. Die meisten Deutschen in Österreich leben ja auch in Wien. Den höchsten Anteil an der Bevölkerung stellen sie freilich in Tirol. Was man auch nicht vermuten würde:
Wien hat die niedrigste Quote an Kindern, die unehelich geboren werden. Kärnten hat die höchste. Und: Im Jahr 1910 waren 49 Prozent der Bevölkerung in Wien geboren. Heute sind es 47 Prozent. Aber noch nie kamen auch so viele Menschen aus den Bundesländern nach
Wien, um hier zu leben. Klarerweise sind darunter viele Studenten, denn Wien ist schließlich die größte deutschsprachige Universitätsstadt – noch vor dem viel größeren Berlin.

UMWELTSTADT WIEN
Bemerkenswert ist ebenso, dass die einzige Großstadt Österreichs auch in Sachen Umwelt vorne ist. In Wien gibt es die bei weitem niedrigste PKW-Dichte pro 1.000 Einwohner (273,7 – zum Vergleich: Burgenland 668,2 oder Graz 474,6). Und Wien hat auch den geringsten Primärenergieverbrauch aller Bundesländer – Wohnungen lassen sich eben besser heizen als Einfamilienhäuser, die vielleicht auf lange Sicht sowieso ein Auslaufmodell sind. 2016 wollten noch 53 Prozent der Befragten aufs Land ziehen, 2018 sind es nur noch 42 Prozent …
Interessant ist aber auch Himpeles fast nebenbei präsentierte Darstellung unseres Wirtschaftskreislaufes. Ein Buch, das sich liest wie ein Roman!


KLEMENS HIMPELE: STATISTISCH GESEHEN
Echte Zahlen statt halber Wahrheiten
aus Deutschland und Österreich.
ecowin Verlag, 214 Seiten,
€ 24,–
ecowin.at

Die 11 Begierden des Herrn Ludwig van

Fangen wir mit dem Ärger an


Aus bekannten Gründen hätte man es fast vergessen, aber heuer ist Beethovenjahr – wir feiern seinen 250. Geburtstag. Unser Kolumnist Otto Brusatti hat ein etwas anderes Buch über Beethoven herausgebracht. Lesen Sie eine Kostprobe aus seinem Werk „Die 11 Begierden des Herrn Ludwig van“.
Text: Otto Brusatti / Foto: Arman Rastegar


ALSO
Da sitzt frau/man wieder – egal eigentlich jetzt wo – z. B. mit Ohrenstöpseln herum oder dort im Konzert zwischen den Parfümstinkenden, am liebsten eh vor einem Küchenradio beim Kartoffelschälen, gar im Lehnstuhl mit einer Partitur in der Hand oder vor 88 SW-Klaviertasten und einer sogenannten „Kritischen Sonaten-Ausgabe“. Es stellt sich bald dreierlei ein. Erstens: Wohligkeit, ev. sogar initialiter wohliges Wiedererkennen, Erinnern. Zweitens: Verblüffung, Glück und zugleich intellektuelle Vollbefriedigung. Drittens: Ärger über den Ludwig van.

FANGEN WIR MIT DEM ÄRGER AN
Er zwingt uns zu heroischen Gedanken, die wir, 250 Jahre nach seiner Geburt und am Beginn des 3. Jahrzehnts der 2000er Jahre, eigentlich schon ad acta haben legen wollen; denn sie, diese Gedanken/Empfindungen/Anleitungen richteten bisher einfach zu viel Unsinn, auch Leid, auch Unsägliches an, vor allem diese voll heroischen Heroen-Sachen. Außerdem. Er, der L. v. B., macht uns klein vor ihm und vor unserem Selbstwertgefühl. Er höhnt uns geradezu mit dem von ihm uns aufgezwungenen Gefühl (selbst wenn wir alles von ihm schon intensiv angehört haben, die Masse seiner Formidabel-Kompositionen schon studierten), dem Gefühl eines schier Unüberschaubaren seines Gesamt-Œuvres.

GEHEN WIR JETZT ZUM ZWEITEN
Er verblüfft als schaffender Mensch und zugleich als einer im schlichten, oft mühevollen und bekämpften Alltag. Als einer noch dazu mit einer Schwerstbehinderung akzelerierend wachsend seine letzten 25 Lebensjahre hindurch, von einem zunächst schlimm Verunsichert-Werden beim schlichten Zuhören bis zur jahrelangen, peinigenden, bald aber vollen, suizidgefährdenden Taubheit. – Er. Ein weitgehend unzugänglicher Mensch, der um liebevolle Kontaktnahmen, Zuwendungen und mehr,
beinahe skurril (auch in seiner Musik) manchmal infantil bettelte. – Er. Einer, der Jahre hindurch und oft in einer Schreibe, die jeden Psychoanalytiker schockiert hätte, an Stücken arbeitete, welche dann wie aus einem Guss erschienen/erscheinen, als ein Komponist, der für seine Musiknachwelt wahrscheinlich prägender gewesen ist als andere je. Dabei formulierte er in den Groß-Kompositionen nichts, was zugleich nicht auch die ästhetischen Grund-Kriterien erfüllt: Musik als Typisierung, Stilisierung und Idealisierung von all dessen, was der Mensch überhaupt hervorbringen kann; Beethoven liegt da im Bett der Klassik zwischen Kant, Fichte, Schelling und Hegel, doch diese Meister des Denkens mit ein paar, jeweils neu zusammengesetzten und rhythmisierten Noten weit hinter sich lassend und beschämend. – Er. Beethoven (vielleicht mehr noch als Mozart, mehr noch als Bach und Schubert) vermag im Großteil seiner mehr als 250 innovativen Einzelstücke seine perfekt geformte Musik tatsächlich darzustellen als sinnlich gewordener Intellekt.

ALS BEGIERDE OHNE HERKÖMMLICHE KÖRPER
Mit über 5 Millionen an Zeichen als Basis (diese Notenköpfe und -hälse und Pausen und Taktstriche und so weiter), die zwar alles zum Inhalt haben und die sofort alles verbergen, locken wir sie nicht aus dem perfekten System he­raus, welches jedes Programm in EDV und Computern und Riesenrechnern locker hinter sich lässt, geradezu ebenfalls beschämt. Denn es handelt sich bei der Beethoven-Musik um Sicht(hör)barmachungen und zugleich vorweg schon um die Aufforderung dazu, nämlich Dingen zu begegnen, die zuvor (seit dem Urknall mindestens) gar nicht da gewesen.    


Otto Brusatti: „Die 11 Begierden des Herrn Ludwig van“ (Morio Verlag, 144 Seiten, € 12,-).

Große Erzählkunst

Leben in der Blechstadt


Abbas Khiders Roman über einen Jungen in den Slums von Bagdad, der im Gefängnis landet, ist aufwühlend, erschreckend und trotzdem oft unterhaltsam.
Text: Helmut Schneider / Foto: Peter-Andreas Hassiepen


Es gibt nicht mehr viele Historiker, die den Irak-Krieg von George W. Bush nicht als schweren außenpolitischen Fehler betrachten – hat er doch die Region nachhaltig destabilisiert. Aber wie lebte man im Irak unter Saddam Hussein? Einer, der es wissen muss, hat jetzt einen Roman veröffentlicht, der die Regentschaft des Diktators aus der Sicht eines Heranwachsenden beschreibt. Abbas Khider saß zwei Jahre lang in einem der berüchtigten Gefängnisse Husseins, weil er mit 19 Flugblätter gegen das Regime verteilt hatte. Nach seiner Freilassung gelang es ihm, nach Deutschland zu flüchten. Er erhielt Asyl, studierte in München und Potsdam Literatur und Philosophie und fing an, in der Sprache, die er hier lernte, zu schreiben. Denn als er in Deutschland landete, kannte er nur drei deutsche Wörter: „Hitler, Scheiße, Lufthansa“.

Dieser Sozialisation ist es geschuldet, dass sein Stil ganz anders ist, als man von deutschen Autoren gewohnt ist. Seine Bücher lesen sich extrem flüssig und spannend, es mangelt ihnen aber keineswegs an Poesie und Schönheit.
Und das schafft Abbas Khider sogar, wenn es wie in seinem neuen Roman „Palast der Miserablen“ um ein alles andere als erfreuliches Thema geht. Gleich zu Beginn leidet der Ich-Erzähler, der Student Shams, in einem Gefängnis und rechnet sich die kaum vorhandenen Chancen aus, dort wieder lebend herauszukommen. Die Gefängnisszenen durchziehen das ganze Buch, aber die Geschichte selbst ist die Kindheit und Jugend von Shams. Seine Familie – er hat noch eine Schwester – wohnt im Süden des Irak, doch nach dem blutigen Krieg mit dem Iran beschließt der Vater, aus dem umkämpften Gebiet in die Hauptstadt Bagdad zu ziehen. Da sie kein Geld haben, landen sie dort, wo die Ärmsten der Armen leben – im Blechviertel gleich neben der Müllkippe, wo sich die Besitzlosen aus dem Abfall selbst kleine Hütten bauen. Da es so viele sind, ist der vom Krieg geschwächte Staat zu schwach, um sie zu vertreiben. Im Gegenteil, Husseins Regime verdient noch etwas an den Armen. Denn ohne Schmiergeld geht nichts im Irak. Von Kindheit an verkauft Shams – allein oder mit seinem Vater – Kleinigkeiten wie Plastiksackerln oder Wasser und muss diese geringen Einkünfte auch noch gegen große Konkurrenz verteidigen.

Bitter arm, aber lebensfroh
Was den Leser aber noch mehr erstaunt, ist, dass Shams’ Familie zwar oft nicht weiß, wie sie am nächsten Tag Essen beschaffen soll, alle aber trotzdem immer guter Dinge sind. Man freut sich über Kleinigkeiten und gibt die Hoffnung nicht auf. Das größte Glück für Shams ist seine Schwester Qamer, mit der er bis zur Pubertät in einem Bett schläft und mit der er alle seine Erlebnisse, Freuden und Sorgen teilt. Zwar ist Shams kein guter Schüler, aber ausgerechnet über das Lesen von erotischer Literatur – im Müll findet er ein Buch von Alberto Moravia – entdeckt er die Welt der Literatur. Sein Lieblingsort in Bagdad wird der Buchmarkt, wo er schließlich später sogar selbst Buchhändler wird. Allerdings muss er die Schule schaffen und auf die Universität. Wer durchfällt, wird sofort zur Armee eingezogen, was zwei Jahre schwerste Schikanen bedeutet. Wer sich zu drücken versucht, riskiert zumindest ein paar Fingerglieder – oft aber sein Leben.

Leben in der Diktatur
Der „Palast der Miserablen“ ist auch ein Buch, das zeigt, wie Diktaturen funktionieren. Denn zu deren Kennzeichen gehört es auch, dass massenweise Unschuldige leiden. Shams wird verhaftet, weil er als areligiöser Mensch in seiner finanziellen Not auch illegale schiitische Schriften verkauft. Und an der Wahrheit ist natürlich niemand interessiert.


Abbas Khider:
„Palast der Miserablen“, Hanser Verlag – 318 Seiten, € 23,70

Lesefestival

Rund um die Burg


Das Lesefestival „Rund um die Burg“ ging heuer coronabedingt am 8. Mai online über die Bühne. Und das mit sensationellem Erfolg: Insgesamt waren mehr als 7.000 Besucher dabei, also weitaus mehr als im Zelt neben dem Burgtheater Platz gehabt hätten.
Text: Helmut Schneider / Fotos: Rund um die Burg


Insgesamt lasen 48 Autorinnen und Autoren zur Feier der Literatur – mehr als doppelt so viele wie in vergangenen Jahren – bis nach Mitternacht aus ihren Werken. Darunter waren heimische Größen wie Hugo Portisch, Erika Pluhar und Michael Köhlmeier ebenso dabei wie internationale Topstars wie T. C. Boyle, Rafik Schami oder Hilary Mantel.

T. C. Boyle las in seinem Heimatort Santa Barbara in Kalifornien.

Ebenso zu erleben waren Einblicke in jene Texte, die Autoren wie Stefan Slupetzy, Eva Rossmann, Andreas Pittler oder Tex Rubinowitz für die Gratisbuchaktion „Eine Stadt. Ein Buch.“ im November schreiben. Zwei Beiträge waren – obwohl lange vor der Corona-Krise geschrieben – besonders aktuell. T. C. Boyle las in seinem Heimatort Santa Barbara in Kalifornien eine Geschichte über einen Menschen, der aufgrund seiner ansteckenden Krankheit gezwungen wird, eine Maske zu tragen. Als er das nicht tun will, wird er von den Behörden wie ein Verbrecher gejagt. Und Stefan Slupetzky überraschte mit einer Story über ein ansteckendes Virus, das Befallene zu Zombies macht. Als der Erzähler entdeckt, dass die Zombies vor Betrunkenen zurückschrecken, ist sozusagen ein Gegenmittel gefunden. Wer das einzigartige Festival verpasst hat, braucht sich nicht zu grämen: Alle Lesungen sind jederzeit abrufbar auf rundumdieburg.at.

Tex Rubinowitz las aus „Ich höre Farben“.

Unser besonderer Dank gilt folgenden Unterstützern & Partnern, die „Rund um die Burg“ auch in schwierigen Zeiten möglich gemacht haben: Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport; Stadt Wien Kultur; Capito Wien; Morawa; ORF Wien; Wiener Städtische Versicherung

Ein Gespräch über Superman und Frauenmorde

Wer ist schon ein Held?


Die Philosophin Lisz hirn untersucht in ihrem neuen Buch „Wer braucht Superhelden“ die Problematik von Superhelden. Ein Gespräch auch über Trump und Frauenmorde.
Text: Helmut Schneider / Fotos: Harald Eisenberger


Lisz Hirn, die Philosophin, die unter anderem bei Konrad Paul Liessmann studiert hat, denkt vornehmlich über die Auswirkungen des Patriarchats auf Frauen und Männer nach und versäumt es auch niemals, beide Geschlechter in die Pflicht zu nehmen, wenn es um Fragen gleicher Chancen geht. Nach ihrer Abrechnung mit den Folgen der konservativen Wende auf bereits als gesichert geltende Frauenrechte („Geht’s noch!“, Molden Verlag, 2019) schaut sie sich in ihrem neuen Buch „Wer braucht Superhelden“ die seltsame Welt der Superhelden an, die nicht müde werden, die Welt retten zu wollen. Superman, Batman, Spiderman & Co erweisen sich dabei als merkwürdig asexuelle Zwitterhelden, die in ihrer Hypermaskulinität Probleme fast ausschließlich mit purer Kraft zu lösen versuchen. Hirn zieht dabei einen Bogen von Machos wie Donald Trump, der bekanntlich nie einen Fehler macht, bis zu den Frauenmorden, die in Österreich derzeit traurige Rekorde aufstellen. Gewalt scheint immer noch das letzte Mittel des männlichen Selbstbewusstseins zu sein.

wienlive: Wie kamen Sie auf die Idee, gerade jetzt über Superhelden zu schreiben?
LISZ HIRN:
Ich schaue prinzipiell gerne auf Bilder, die unser Handeln motivieren und unsere Vorstellungen dominieren, und da kommt man eigentlich ganz schnell zu Heldenmythen, Heldenfiguren und jetzt vor allem bei den jungen Männern und jungen Frauen zu den Superhelden. Die sind einfach allgegenwärtig, ob jetzt auf einem T-Shirt, auf einem Häferl oder im Internet. Für mich lag es daher nahe, einmal zu untersuchen, wie dieser Superheldenmythos entstanden ist. Interessant ist dabei vor allem, welche Bilder von Moral, Männlichkeit und Weiblichkeit damit transportiert werden. Welche Sehnsucht erwecken die bei uns?

Aber wenn man sich jetzt den neuen „Joker“ anschaut – das sind ja schon gebrochene, irre Typen und nicht mehr so simple Geschichten wie in der Anfangszeit der Superhelden …
HIRN: Beim „Joker“ lässt sich aber auch ganz klar erkennen, warum er das Gegenteil von Batman ist. Die Superhelden zeichnen sich ja nicht durch Intelligenz, sondern durch körperliche, aber auch moralische Überlegenheit aus. Sie sind aber in Wirklichkeit eben auch – und das ist meine Kritik im Buch – die perfekten Untertanen. Sie helfen niemals, das System wirklich zu verbessern, zu verändern oder gerechter zu machen, sondern sie machen simple Symptombekämpfung. Und das Spannende, was man auch beim Joker-Film sieht, ist, dass der Joker sich zwar anpassen will – ja er will sogar auch Held sein –, aber er schafft es nicht. Dann erst stellt er sich diesem sehr ungerechten System entgegen, er betreibt Sabotage und hinterfragt die Ordnung. Das – finde ich – ist ein starker Spiegel für unseren Zeitgeist. Also die Helden, die Superhelden, die die Ordnung um jeden Preis erhalten wollen, und diese hyperintelligenten Superschurken, die das System in Frage stellen, uns quasi an unsere Grenzen führen und damit unsere Probleme offenlegen.

Populisten wie Trump, Salvini oder Johnson arbeiten ja auch gerne mit dem Superheldenimage. Sie schaffen bekanntlich alles. Wie kommt es dazu?
HIRN: Das Schöne daran ist, dass sich diese Superhelden auch super instrumentalisieren lassen, also auch für diese starken Männer, die diese Dominanz, diese Stärke, diese Härte, dieses Durchgreifen propagieren, ist das letzte Mittel immer auch die Gewalt. Ich meine, es ist kein Zufall, dass sich Donald Trump mit Superman vergleichen lässt, auch in seiner Werbepropaganda. Wobei man sagen muss, der Superman war ja schon als US-Propaganda-Figur im Zweiten Weltkrieg erdacht. Es ist ja kein Zufall, dass der diese Farben trägt, dass er genau so gebrandet ist. Superman hat schon immer für einen bestimmten amerikanischen Lebensstil gestritten und gekämpft. Interessant ist aber die Wandlung in der Comicgeschichte, als Superman plötzlich von einem nationalen Helden zum Helden der freien westlichen Welt und später zu einem globalen Held wird, der die ganze Menschheit rettet. Und da gibt’s einen großen Unterschied zu diesen klassischen Helden, die im nationalen Kontext funktionieren, die für eine Gruppe kämpfen, und ja, die auch ein gewisses Risiko sind für ihre Gruppe, weil sie eben auch Schwächen haben – weil sie beispielsweise Gefühle haben, weil Sexualität und Gewalt eine Rolle spielen. Das ist bei den Superhelden quasi ausgeschaltet. Superheldenfilme kommen fast ohne Blut und ohne Sex aus. Wir haben es da mit einer sehr cleanen Variante von Gewaltausübung zu tun und mit einem sehr entschärften Sexualtrieb.

Die Helden in der Literatur waren immer viel komplexer – etwa ein Parzifal, der mehrmals scheitert, bis er den Gral rettet – oder Odysseus, der alles tut, um nicht in den Krieg ziehen zu müssen. Gab es vor den Comics überhaupt Superhelden?
HIRN: Für mich gibt’s da eine Zwischenkategorie, nämlich die Actionhelden, die sind nämlich nochmal anders. Die haben ja schon den Ansatz zum Superhelden, das Körperliche ist wichtig, auch das Martialische ist dabei. Auch sie sind eher die Einzelkämpfer, sei es jetzt Rambo oder der Terminator und so weiter. Wer mir als klassischer Held auch immer einfällt, ist Achill. Achill ist so dieser Typus des nationalen, regionalen Hau-Draufs, ohne den der Krieg nicht gewonnen werden kann. Aber er schmeißt auf der anderen Seite auch gleich das Handtuch, wenn er seine Sklavin nicht bekommt. Er legt sich sogar mit dem König an und sagt: „Ja, ist mir egal. Dann sterben halt alle und wir verlieren den Krieg, mir geht es jetzt ums Prinzip.“ Das wäre bei einem Superhelden undenkbar – der würde niemals so weit gehen und das System zum Wanken bringen. Nein, ganz im Gegenteil. Und da kommen schon andere Moralkategorien und Vorstellungen zum Ausdruck. Und was ich auch wichtig finde, wenn dann schließlich diese Superheldenteams gebildet werden, dann stoßen plötzlich auch Frauen dazu, einfach, um neue Marktanteile zu erschließen.

Wenn Frauen dazukommen, wird’s natürlich immer komplizierter. Das war auch schon bei Siegfried so, der ja als Folge eines Frauen-Tratschs stirbt …
HIRN:
In diesen Epen konnten Frauen natürlich noch nicht diese Heldinnenrollen einnehmen. Und wenn, dann zu einem hohen Preis. Das sieht man bei den Amazonen oder bei Jeanne D’Arc – aber auch eine moderne Superheldin muss sexuell enthaltsam sein, sobald sie sich auf die Liebe mit einem Mann einlässt, ist es für sie und ihre Superkraft eigentlich vorbei.

Wir erleben gerade eine extrem hohe Frauenmordrate. Das ist ja auch ein Zeichen. Männer werden meistens dann aggressiv, wenn sie verlassen werden. Warum?
HIRN: Aus der Sicht dieser Täter kann es eben nicht sein, dass man sie verlässt. Sie empfinden dieses Verlassen fast schon als eine Übertretung eines Rechts, das man als Mann natürlich hat. Pauschal gesprochen: Frauen morden, um aus einer Beziehung rauszukommen und niemals, um jemanden in einer Beziehung zu halten, Männer morden, wenn sie verlassen werden. Das ist eine Beobachtung, die durchaus Angst macht, weil sie sich auch in vielen Bildern findet. Deshalb auch mein Verweis auf Heinrich Manns Roman „Der Untertan“. Weil mir wichtig war zu zeigen, dass diese Superhelden nicht einfach nur so ein Einfall waren, der einfach so entstanden ist, sondern dass da auch starke philosophische Probleme dahinterliegen. Superman ist nicht einfach nur eine Marke, sondern das Erbe eines Bilds der Männlichkeit, das aus dem 19. Jahrhundert weitergegeben wurde. Neue Fantasien von Männlichkeit zu entwerfen ist eine große Herausforderung. Helden sind immer Sehnsuchtsbilder und zeigen, was in einer Gesellschaft gerade Thema ist.

Wenn ich Sie richtig verstehe – als Mann bin ich zwar auch Untertan, aber ich habe zumindest noch jemanden, der unter mir ist, nämlich meine Frau?
HIRN: Genau. Ich habe jemanden, zu dem ich aufschauen kann und der meine Rolle stärkt. Und ich hab auch jemanden, der unter mir steht.


Lisz Hirn: „Wer braucht Superhelden.“ Was wirklich nötig ist, um unsere Welt zu retten. Molden Verlag, €22