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Musik, Lärm und Stille bei Heimito von Doderer – der 4. D-Day für Doderer am 21. September im Café Landtmann

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Heimito von Doderer, 1966 verstorben, war gewiss einer der eigenständigsten Autoren, die Wien je hervorgebracht hat. Wienlive und das echo medienhaus erinnern seit 2021 alljährlich am 21. September – das ist der Tag, an dem sein bekanntestes Werk „Die Strudlhofstiege“ spielt und mit einem brutalen Unfall mit einer Straßenbahn beginnt – an diesen Schriftsteller, der in der Nachkriegszeit als der Dichter Österreichs galt. Am D-Day für Doderer wird über ihn und sein Werk im Rahmen einer Veranstaltung mit Gästen diskutiert. 

Heuer, beim 4. D-Day für Doderer, geht es mit dem Autor, Regisseur, Ausstellungsmacher und Musikexperten Otto Brusatti um „Musik, Lärm und Stille“ im Werk von Heimito von Doderer. Die Schauspielerin Chris Pichler wird ausgewählte Stellen lesen, Wienlive-Chefredakteur Helmut Schneider wird moderieren.

Doderer war ein leidenschaftlicher Bewunderer Ludwig van Beethovens, auf seinem Schreibtisch stand stets eine Partitur der VII. Symphonie und er behauptete sogar, täglich darin zu lesen. Sein letztes, unvollendet gebliebenes Romanprojekt nannte er im Tagebuch Roman No 7. – davon wurde nur der Teil „Die Wasserfälle von Slunj“ veröffentlicht, „Der Grenzwald“ erschien posthum als Fragment. Brusatti: „Doderer war auch ein heimlicher Musikstrukturalist  – wie viele andere und vor allem in der österreichischen Literatur, wie Ingeborg Bachmann etwa oder Thomas Bernhard. Er baute musikalische Formen ein, in seine Texte. Man merkt es vorerst kaum, man soll es zumeist auch gar nicht merken.“

Bezeichnend war auch, dass er seine frühen Erzählungen Divertimenti nannte – ein Ausdruck aus der Musik für unterhaltsame Stücke. Auch darüber wird beim D-Day gesprochen werden, besonders über die Erzählung „Die Posaunen von Jericho“, in der Verdis Triumphmarsch aus „Aida“ für einen derben Streich herhalten muss.

Bekannt ist auch, dass Doderer in seinen Romanen viel mit dem Gegensatz Stille und Lärm arbeitet – namentlich die Straßenbahnen verbreiten etwa in der „Strudlhofstiege“ gehörigen Lärm. Im Roman „Die Dämonen“ werden etwa die Revolutionsversuche rund um den Justizpalast oder dann – vice versa – die Schilderungen über psychische Probleme mancher Protagonisten von geschilderten Klang-Spuren begleitet.

Dazu gibt es an diesem Abend kurze Musikstücke (W.A. Mozart) aus der Konserve zu hören. Die Buchhandlung analog wird wieder vor Ort einen Büchertisch aufstellen.

21. September, 19 Uhr, D-Day für Doderer – Café Landtmann, Universitätsring 4, 1010 Wien, Eintritt frei – Anmeldung ist nicht nötig!


Szenen des US-Alltags – „Der Spielzeug-Sammler“ von James McBride

Szenen des US-Alltags – „Der Spielzeug-Sammler“ von James McBride

Der in einer New Yorker Sozialsiedlung aufgewachsene James McBride ist bei uns nicht so bekannt wie es ihm gebühren würde. Dabei ist er einer der Lieblingsschriftsteller Barack Obamas und schon viele Auszeichnungen erhalten. In seinem Erzählband „Der Spielzeug-Sammler“ stellt er seine Meisterschaft unter Beweis. Alle Stories sind gut gebaut und sprachlich exzellent. Trotz der zum Teil erschütternden Szenen blitzt bei ihm immer wieder Humor und eine Liebe zu seinen Figuren durch.

In der Titelgeschichte will ein jüdischer Händler einem in Armut lebenden Priester einen wertvollen Spielzeugzug abkaufen, ohne ihn zu übervorteilen. Nach dem Deal stößt er aber auf das Doppelleben des Geistlichen. Besonders eindrucksvoll sind die Geschichten über eine Band – „The Five-Carat Soul Bottom Bone Band“ – in einem heruntergekommenen höchst gefährlichen Viertel in der ehemaligen Stahlstadt Pittsburgh. Und in gleich mehreren Stories führt uns James McBride in de Zeit des Amerikanischen Bürgerkriegs. Aber es gibt auch Phantastisches: Im Fegefeuer steigt ein Boxer tatsächlich gegen den überheblichen Teufel noch einmal in den Ring und in den letzten Seiten des Bandes erzählt ein Löwe von Problemen in einem Zoo.


James McBride: Der Spielzeugsammler
Aus dem Amerikanischen von Werner Löcher-Lawrence
Btb
320 Seiten
€ 24,70

Stephen King ist nicht nur einer der erfolgreichsten Autoren aller Zeiten, der 78-jährige ist auch der am besten konsumierbare Chronist der amerikanischen Alltagsgeschichte.

12 neue Geschichten von Stephen King

Stephen King ist nicht nur einer der erfolgreichsten Autoren aller Zeiten, der 78-jährige ist auch der am besten konsumierbare Chronist der amerikanischen Alltagsgeschichte. Kaum ein popkulturelles Phänomen, das er nicht in Horror umgewandelt hätte – man denke etwa nur an bösartige Straßenkreuzer, mordende Haustiere oder gemobbte Teenager, die plötzlich Superkräfte haben. Der Vielschreiber wird ein Werk hinterlassen, das eine Bibliothek füllen könnte. Im neuen Erzählband sind die meisten Protagonisten bereits im Alter des Autors, wir bekommen also eine Menge typisch amerikanische Biografien geliefert. Der Titel  „You want it darker“, also: „Ihr wollt es dunkler“ – ist eine Referenz an Leonard Cohens letztes Studioalbum, veröffentlicht zwei Wochen vor dem Tod des kanadischen Sängers und Songwriters.

In „Zwei begnadete Burschen“ scheint der Autor über Talent nachzudenken. Es geht darin um zwei durchschnittlich begabte Freunde in einer Kleinstadt, die nach einer unheimlichen Begegnung bei der Jagd plötzlich zum Starautor und zum Starmaler werden. Aber was haben sie im Wald gesehen?

Einzelne Geschichten erreichen fast Romanlänge. So bewohnt in „Klapperschlangen“ ein pensionierter Werber nach dem Krebstod seiner Frau die einsame Villa eines reichen Freundes im Sommer in Florida, wo er auf eine Nachbarin trifft, die immer einen quietschenden Kinderwagen dabei hat, in der sie ihre Zwillinge spazieren führt – die sind allerdings bereits seit 40 Jahren tot, umgekommen durch das Gift von Klapperschlangen. Meisterhaft baut Kind hier Spannung auf, nach und nach begreifen wir, dass der Mann Sympathien für die schrullige Nachbarin entwickelt, denn sein Sohn starb im selben Alter wie die Zwillinge.

„Die Träumenden“ spielt in den 70er-Jahren und entwickelt sich zu einer Horrorgeschichte im Stil von Lovecraft. Der Protagonist ist ein Mann, der soeben von seinem Einsatz in Vietnam zurückgekommen ist.

„Der Antwortmann“ ist quasi die Summe amerikanischer Biografien, gespiegelt durch eine Art Hellseher, der seine Dienste nur an ausgewählten Tagen und Orten anbietet. Ein Anwalt scheitert immer wieder an den richtigen Fragen. King hatte diese Geschichte vor Jahrzehnten begonnen, aber erst jetzt fertiggestellt, wie er im Nachwort erzählt, in dem auch seine bemerkenswerte Analyse über seine Leser steht: „Horrorgeschichten werden besonders von Leuten geschätzt, die mitfühlend und empathisch sind.“ Da fühlt man sich doch gleich besser!


Stephen King: Ihr wollt es dunkler
Übersetzt aus dem Englischen von: Wulf Bergner, Jürgen Bürger, Karl-Heinz Ebnet, Gisbert Haefs, Marcus Ingendaay, Bernhard Kleinschmidt, Kristof Kurz, Gunnar Kwisinski, Friedrich Sommersberg und Sven-Eric Wehmeyer
Heyne Verlag
736 Seiten
€ 29,50

Frauenbilder einst und jetzt - Rollenzuschreibungen und Erwartungshaltungen von 1914 bis in die Gegenwart 

Alsergrunder Kultursommer: Frauenbilder einst und jetzt – Rollenzuschreibungen und Erwartungshaltungen von 1914 bis in die Gegenwart 

Gabriele Kögl im Gespräch. – Foto: ©Stefan Burghart

Bei den Open-Air-Autor:innenlesungen mit Musik am 1. Juli werden Gabriele Kögl und Christian Klinger aus ihren aktuellen Romanen „Brief vom Vater“ und „Die Geister von Triest“ lesen. Anna Anderluh wird selbst Komponiertes singen und sich auf der Autoharp begleiten. Moderator der Veranstaltung des Alsergrunder Kultursommers ist Gerhard Danner. 

In Kögls Roman „Brief vom Vater“ geht es um eine Frau in einer Kleinstadt – die Friseurin Rosa, die den gesellschaftlichen Aufstieg versucht. Rosas erster Ehemann, Sigi, ist der Schützenkönig im Ort. Mit ihm hat sie einen Sohn und lebt einfach und zufrieden. Nach ein paar Jahren wird ihr das Leben mit ihm allerdings langweilig – sie verlässt ihn und heiratet den wohlhabenden Klaus, der stolzer Besitzer einer Drogerie ist. Rosas Sohn vermisst den Vater und läuft vergebens dessen Liebe hinterher. Sigi beginnt ein neues Leben mit neuer Frau und neuer Familie, verwindet jedoch nicht, dass auch seine zweite Ehe in die Brüche geht, und verübt Selbstmord. Ein neu gebautes Shoppingcenter leitet unterdessen den wirtschaftlichen Niedergang zahlreicher Geschäfte im Ort ein. Rosa und Klaus verlieren alles. Und Rosa muss miterleben, wie auch ihr Sohn sich viele Jahre nach dem Freitod des Vaters das Leben nimmt. 

In Klingers „Die Geister von Triest“ wird im Triest des Ersten Weltkriegs eine schrullige alte Frau, die von allen nur „die Hexe“ genannt wird, bestialisch ermordet in ihrem Häuschen aufgefunden. Der leidenschaftliche Rennradfahrer Gaetano Lamprecht, Ispettore der Triestiner Polizei, begibt sich auf die Spur des zunächst noch sehr rätselhaften Mörders. Dabei taucht er tief ein in die Geschichte Triests und in die Verstrickungen des Kunsthandels. Er muss sich mit halbseidenen Ganoven und generationenübergreifenden Flüchen herumschlagen. Dabei an seiner Seite: seine kluge Schwester Adina, seine Sekretärin Clara und die schöne Witwe Alessia – die Gaetanos Leben gehörig auf den Kopf stellt … 
  

Montag, dem 1.7.2024 um 19 Uhr am Spittelauer Platz 4, 1090 Wien
Der Eintritt ist frei. 

Der in New York lebende Londoner Hari Kunzru schreibt packende Romane über Schicksale von Künstlern und Literaten – und er liebt gängige Titel mit Farben. „Red Pills“ und „White Tears“ hießen Vorgänger, jetzt also „Blue Ruins“.

Junge Wilde aus London gefangen in der Pandemie – Hari Kunzrus Künstlerroman „Blue Ruin“

Der in New York lebende Londoner Hari Kunzru schreibt packende Romane über Schicksale von Künstlern und Literaten – und er liebt gängige Titel mit Farben. „Red Pills“ und „White Tears“ hießen Vorgänger, jetzt also „Blue Ruins“.

Das Buch spielt sowohl in den 90er-Jahren in London – als die Jungen Wilden in der Kunstszene antraten, die Welt zu erobern – als auch in der nahen Vergangenheit der Pandemie in einem riesigen Hochsicherheitsanwesen Upstate New York. Es ist eine Dreiecksgeschichte um die beiden Maler Rob und Jay sowie der Kunststudentin Alice, die Kuratorin werden will. Ich-Erzähler Jay kommt am Beginn als Essensauslieferer  zu der besagten Villa und trifft dort unvermutet auf Alice, seine ehemalige Freundin. Er ist nicht nur ziemlich heruntergekommen und lebt inzwischen in seinem Auto, sondern hat gerade einen Covid-Anfall. Alice bringt ihn in einer luxuriösen Scheune unter, denn niemand soll erfahren, dass er hier ist. Warum das so ist und was er seit dem Ende ihrer Beziehung erlebt hat, ist das Gerüst des Buches. Wie die anderen Villenbewohner – sein ehemaliger Freund Rob und dessen Galerist mit Freundin sind Gäste eines Superreichen – dann auf sein Erscheinen reagieren, bringt die nötige Spannung ins Buch. Denn während Jay als Shootingstar plötzlich für mehr als 20 Jahre verschwand, um seine letzte Performance – das Verschwinden – aufzuführen, hat Rob als Künstler der Superreichen reüssiert, aber künstlerisch nichts weitergebracht.

Jay ist aber auch verschwunden, weil Alice ihn wegen Rob verlassen hat. Die monatelangen Drogenexzesse mit Jay waren ihr zu viel. Eine zusätzliche Ebene besteht darin, dass Jay einen jamaikanischen Vater hat, also schwarz ist, während Alice aus einer reichen vietnamesisch-französischen Familie stammt. Hari Kunzru arbeitete früher auch als Kunstkritiker, er kennt also die Diskussionen über die wahre Kunst und das Galeriengeschäft sehr gut. Es ist interessant, mit ihm über Kunst nachzudenken, wenngleich manche Schilderungen aus Jays Leben etwas klischeehaft klingen. Dafür hat der Roman am Ende fast Thrillerqualitäten. Es geht um Autorenschaft in der Kunst und natürlich auch die Frage, wofür sich Alice und Jay entscheiden, als sich die reichen Besitzer der Villa ankündigen.


Hari Kunzru: Blue Ruin
Aus dem Englischen von Nicolai von Schreder-Schreiner
Liebeskind
342 Seiten
€ 25,50

„Das dritte Königreich“ ist auch der dritte Band von Knausgårds Sternenepos

„Das dritte Königreich“ ist auch der dritte Band von Knausgårds Sternenepos

Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård wurde mit einem sechsbändigen autofiktionalen Roman zum Starautor. In der Pandemie begann er ein fiktionales Romanprojekt, in dem ein plötzlich erscheinender Stern am Himmel als Zeichen oder Katalysator für eine Reihe von Protagonisten fungiert. Die beiden ersten Bände – „Der Morgenstern“ und „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ haben beide an die 1000 Seiten, der dritte Roman der Reihe – „Das dritte Königreich“ – ist mit 650 Seiten vergleichbar dünn. Aber das ist egal, denn Knausgård ist ein begnadeter Erzähler, der uns auch Figuren, die nicht interessant erscheinen, mit Spannung folgen lässt. Und dann will man natürlich wissen, wie es weiter geht – in Erwartung von mehreren folgenden tausend Seiten. Vor allem freut man sich fast schon darauf, den einmal abgeschlossenen Romankomplex zur Gänze noch einmal in einem Zug lesen zu können.

In „Das dritte Königreich“ begegnen wir vielen Figuren aus den ersten beiden Bänden. Da ist die manisch-depressive Malerin Tove, die eine Stimme hört, wenn sie ihre Medikamente absetzt, weil sie wieder voll für ihre Familie da sein will. Ihr Mann schreibt an einem Roman, aber vielleicht weiß er längst, dass er nicht das Zeug zu einem Schriftsteller hat. Da gibt es die 19-jährige Line, die in den Dark-Metal-Musiker Valdemar verknallt ist, der nur für eine kleine Gemeinschaft auftritt und jegliche Aufnahmen seiner Musik verbietet. Valdemar ist überzeugt, dass auf das Reich Gottes das Reich Jesu folgt und dann das des Heiligen Geistes – das dritte Königreich. Beim Sex ritzt er sie, weil er sich völlig sicher sein will, dass seine Gefühle echt sind. Line flieht begreiflicherweise entsetzt, kann sich aber seinem Einfluss nicht entziehen, zumal sie bald weiß, dass sie schwanger ist.

Knausgård erzählt alles in der 1. Person, wir schlüpfen also in die diversen Gedankenwelten seiner Figuren. Sogar in die eines Menschen, der laut Medizin klinisch tot ist. Die Diskussionen zwischen zwei Freunden – der eine ist der behandelnde Arzt und der andere ein Hirnforscher – gehören zu den spannendsten des Buches. Denn der Forscher verweist auf Alan Turing, der feststellte, dass etwas Komplexes nur von etwas noch Komplexerem erklärt und erfasst werden könne, sprich: ein Gehirn kann kein Gehirn entschlüsseln. Und dann gibt es etwa noch einen Polizisten, der im Fall einer satanistisch hingerichteten Metal-Band ermitteln soll. Er glaubt auf dem Foto einer Überwachungskamera den Teufel selbst hervorluken zu sehen.

Wir erleben eine Gesellschaft im relativen Wohlstand – ein durch Fleiß reich gewordener Bestattungsunternehmer wundert sich etwa, dass sieben Tage hintereinander niemand stirbt – auf der Suche nach Sinn. Knausgård setzt dabei Mystik sehr wohldosiert ein. Ein bisschen Horror darf aber schon sein. Die ideale Sommerlektüre für Menschen, die nicht nur am Strand lesen. Am Ende verschwindet der Stern so plötzlich wie er gekommen ist, aber das muss ja nicht für immer sein.


Karl Ove Knausgård „Das dritte Königreich“
Aus dem Norwegischen von Paul Berf
Luchterhand
656 Seiten
€ 29,50

Heute Abend liest Shelly Kupferberg im Buchcafé-Bar Tiempo in der Taborstraße 17a, 1020 Wien, um 19 Uhr, aus ihrem Roman „Isidor“.

Isidor – Shelly Kupferberg liest aus ihrem Roman

Foto: ©Stefan Diesner

Heute Abend (14. 6. 24) liest Shelly Kupferberg im Buchcafé-Bar Tiempo in der Taborstraße 17a, 1020 Wien, um 19 Uhr, aus ihrem Roman „Isidor“ über das Leben ihres Großonkels, der ein Opfer Hitlers wurde. Hier können Sie unseren Artikel im Heft nach Erscheinen des Romans lesen. Wir haben 2022 Shelly Kupferberg auch vor dem Haus ihrer Vorfahren in Wien fotografiert.

Die sonntäglichen Bankette im Palais Rothschild gegenüber dem Musikverein, wo Isidor Geller standesgemäß auf zehn Zimmern wohnte, waren für seinen staunenden Neffen Walter Grab ein Blick in die mondäne Welt der Metropole. Hier saßen wichtige Männer aus der Wiener Wirtschaft, aber auch Künstlerinnen und Künstler wie die ungarische Sängerin Ilona Hajmassy – die Geliebte des Onkels –, die später in Hollywood als Ilona Massey Karriere machte und neben Stars wie Peter Lorre spielte. Denn Isidor hatte es in Wien zu etwas gebracht. In einer bettelarmen Familie in einem Schtetl bei Lemberg geboren, war er nach Wien gekommen, hatte seinen Namen von Israel auf Isidor geändert, Jus studiert und war durch sein kaufmännisches Geschick reich geworden. Er durfte sich Kommerzialrat nennen und verkehrte in besten Kreisen. Doch leider war er politisch naiv und übersah bis zuletzt die lebensbedrohende Gefahr durch die Nationalsozialisten, die ihn sofort nach dem „Anschluss“ 1938 verhafteten, seinen Besitz konfiszierten und ihn so brutal folterten, dass er kurz nach der Freilassung mit nur 52 Jahren starb. Seinem Neffen Walter, der später Historiker wurde und ihn nach dem Einmarsch zur Flucht drängte, gelang die Ausreise nach Palästina.  

„Vor einigen Jahren habe ich in Berlin eine Tagung über NS-Raubkunst moderiert. Und während der Vorträge dachte ich – ich hatte doch einen Urgroßonkel in Wien, der angeblich in einem Palais lebte und der sicher auch Kunst besessen hat. Mit diesem Funken im Kopf startete ich dann – zuerst im Österreichischen Staatsarchiv – eine Privatrecherche und wurde bald fündig“, erzählt Shelly Kupferberg, Enkelin von Walter Grab, der in Isidors Palais oft zu Gast gewesen war. Kupferberg ist Journalistin und vielbeschäftigte Moderatorin in Berlin. Durch die Spurensuche – anfangs noch ohne Absicht, daraus ein Buch zu machen – kam sie oft nach Wien. „Isidor“ beginnt auch mit einem Kapitel, in dem ihr Großvater 1956 Wien besucht, um zu erkunden, ob er hierher zurückkehren sollte. Denn er vermisste in Tel Aviv die Wiener Kultur ganz schrecklich. Als er – nach dem Besuch von Oper und Burg – in seiner ehemaligen Wohnung am Bauernfeldplatz vorbeischaut, öffnet ihm die ehemalige Hausmeisterin und schreit in die Wohnung hinein „Der Jud’ is wieda doa!“ Dann schlägt sie ihm die Tür vor der Nase zu. Da weiß Walter, dass er in dieser Stadt nicht bleiben kann.

Kupferberg erzählt geschickt abwechselnd von Isidor und Walter und füllt Lücken mit viel Gefühl für die historischen Hintergründe literarisch auf. So gehen wir mit dem Blick ihres Großvaters durch das Wien von 1956 oder besuchen das Schtetl, in dem Isidor aufwuchs, wo sein Vater ein angesehener Talmud-Gelehrter war und nur die Frauen Geld verdienten.

„Bei meinen Recherchen stellte ich mir bald die Fragen: ,Was bleibt von einem Menschen, wenn offensichtlich gar nichts übrig bleibt?‘ Isidor hatte ja keine Kinder und ich musste ständig überlegen, ,Wo könnte er Spuren hinterlassen haben?‘ Wäre ich gescheitert, hätten die Nazis erreicht, was sie wollten – ein jüdisches Schicksal auslöschen …“, erzählt Kupferberg bei dem Gespräch in Wien.

Sehr erstaunlich war Isidors schneller Aufstieg vom Hungerleider zum Berater der österreichischen Regierung. War das Wien um den Ersten Weltkrieg trotz des herrschenden Antisemitismus durchlässiger als heutige Gesellschaften? Kupferberg: „Ich habe mich auch gewundert, wie schnell das ging. Es war vielleicht einfach die Zeit der Selfmademen und auch Selfmadewomen – auch Isidors Schwester hat sich mit einem kleinen Hutsalon auf ihre Weise in Wien selbst verwirklicht. Ich glaube, es war gerade für Juden, für ethnische Minderheiten, eine durchlässige Gesellschaft. Historiker erklären das so, dass sich der Adel nur für Pferderennen und die Jagd interessiert hat – und kaum für Kunst. Da scheint es eine Lücke gegeben zu haben für Menschen, die etwas Neues wollten. Wobei die Unverblümtheit des Antisemitismus im damaligen Wien sogar mich noch erstaunen konnte.“

Vier Jahre hat Shelly Kupferberg recherchiert und geschrieben und dabei auch alle relevanten Wiener Institute und Stellen kennengelernt. Stets wurde ihr freundlich weitergeholfen. „Immer wenn ich erzählte, es geht um eine jüdische Geschichte, waren alle sehr aufgeschlossen und hilfsbereit. In Wien habe ich als Berlinerin ja immer das Gefühl, ich wandle durch eine Filmkulisse – man spürt noch immer das Imperium. Diesen Prunk, diesen Zuckerguss finde ich total faszinierend.“


Düstere neue Welt – Andrea Grills Roman „Perfekte Menschen“

Düstere neue Welt – Andrea Grills Roman „Perfekte Menschen“

In „Perfekte Menschen“ sind wir – wie in so vielen aktuellen Romanen – irgendwann und irgendwo in einer nahen Zukunft, die keine gute ist. Zwar geht es den Eltern von Michael nicht schlecht – der Vater ist Programmierer, die Mutter eine erfolgreiche Schwimmerin, sie wohnen in einem schönen Haus – aber die Welt hat sich vollkommen digitalisiert und dadurch inhaltsleer gemacht. Gespielt wird auf technisch ausgefeilten Konsolen, Bildung und alles weitere erhalten alle über „Fieelys“, deren Besitz sogar verpflichtend ist. Die Schrift ist längst abgeschafft, man kommuniziert ausschließlich über Videos und die Natur scheint ebenfalls nicht mehr gebraucht, weil zu gefährlich.

Da wird Michael als 8jähriger von bewaffneten Soldaten – der Regierungsgewalt? – in ein weit entferntes Camp gebracht, wo Buben zu Kämpfern ausgebildet werden und er seinen neuen Namen – Balaban – erhält. Dort ist es noch trostloser als zu Hause, denn natürlich fehlt dem Buben seine Mutter. Sonst hat er ja sowieso kaum soziale Bindungen.

Andrea Grill lebt in Wien und Amsterdam, ist promovierte Evolutionsbiologin und übersetzt aus dem Albanischen. Aus Albanien stammt auch der Mythos von Balaban Badera, der – von Soldaten verschleppt – gegen die eigenen Landsleute kämpfen muss. Aber in „Perfekte Menschen“ wird nicht gar erzählt, wozu der Staat seine Kämpfer ausbildet. Es ist eine Welt, in der sich zu leben sowieso kaum lohnt. Zubetonierte Flüsse, kein Grün und keine Insekten. Es stellt sich also bald die Frage, wohin der kleine Michael fliehen soll mit seiner kleinen Hoffnung, dass es überall besser als im Lager ist. Zumal wir inzwischen wissen, dass seine Mutter ermordet wurde.

Andrea Grill hat einen Roman geschrieben, der im Tonfall und in der erzählerischen Logik an J. M. Coetzees Jesu-Romantrilogie erinnert. Das ist verstörend – auch wenn sie am Ende keine wirkliche Auflösung bietet.


Andrea Grill: Perfekte Menschen
Leykam Verlag
168 Seiten
€ 24,50

Hurra, wir lesen noch – das Alternativprogramm zur Fußball EURO ab 12. Juni

Hurra, wir lesen noch – das Alternativprogramm zur Fußball EURO ab 12. Juni

Foto: ©Katharina Schiffl

„Hurra, wir leben noch“ ist ein Bestseller des österreichischen Autors Johannes Mario Simmel aus dem Jahr 1978. Heuer wäre der 2009 verstorbene Dichter 100 Jahre alt geworden. Originellerweise nennt sich eine Veranstaltungsreihe auf der Sommerbühne des MQ „Hurra, wir lesen noch“ bei der ab 12. Juni Frauen über Bücher plaudern. Die Moderatorinnen Lilian Klebow und Teresa Vogl wollen dabei an die Tradition der Buchklubs in den USA anschließen, die bei uns nur im Roten Wien bestanden. Wahrscheinlich weil es in Europa keine riesigen Vorstadtsiedlungen mit über Tagesfreizeit verfügenden Frauen gibt. Deren Wirken sollte man auch nicht unterschätzen, Bernhard Schlink erzählte etwa, dass er den internationalen Erfolg seines Vorlesers eben jenen Buchklubs zu verdanken hat. Der Zeitpunkt für den Start des MQ-Buchklubs ist nicht zufällig gewählt, denn parallel dazu findet ja die Fußball-EURO statt. Am 12. Juni werden Lilian Klebow und Teresa Vogl ab 19 Uhr Näheres erklären. Ein Buchklub natürlich nicht nur für Frauen – der Eintritt auf der Sommerbühne ist sowieso frei.

mqw.at/programm/hurra-wir-lesen-noch

13 neue Kurzgeschichten vom Meister – T.C. Boyle „I walk between the Raindrops“

13 neue Kurzgeschichten vom Meister – T.C. Boyle „I walk between the Raindrops“

Kurzgeschichten haben es bei uns noch immer schwer. Die meisten, die sich überhaupt für Literatur interessieren, lesen lieber Romane. Möglicherweise weil Stories schwieriger zu konsumieren sind, denn man muss sich in jeder Geschichte erst zurechtfinden – wer ist der „Held“?, wo spielt das Ganze und in welcher Zeit? Das mag in den USA nicht anders sein, aber dort hatte man immerhin lange Zeit Magazine, die regelmäßig Kurzgeschichten servierten. Der Markt ist kleiner geworden, aber die höhere Achtung für Short Stories ist geblieben. Und so überrascht es nicht, dass die aktuellen Meister dieses Genres aus den USA kommen. T.C. Boyle gehört zweifelsohne dazu, wobei das deutsche Publikum nur einen Bruchteil seines tatsächlichen Outputs kennen.

13 Stories bringt Hanser jetzt heraus, die die Vielseitigkeit seine Oeuvres wieder einmal beweisen. Da machen wohlhabende Kalifornier in einem kleinen Ort in Arizona Bekanntschaft mit dem seltsamen Personal einer Bar. Zwei Welten treffen aufeinander. Eine Geschichte spielt in der Zukunft, wo selbstfahrende Autos auch gegen den Willen ihrer Besitzer entscheiden, wer einsteigen darf und in einer anderen sind wir beim Ausbruch einer Pandemie auf einem Kreuzfahrtschiff. Diese Story hat Boyle geschrieben, als wir von Corona noch so gut wie gar nichts wussten. Das Thema ist aber sowieso, wie sich Menschen verhalten, die auf engstem Raum tagelang quasi eingesperrt werden.

Boyle kann das nämlich perfekt, mit wenigen Sätzen eine Stimmung erzeugen und Personen so knapp beschreiben, dass ihre Handlungen glaubhaft werden. Und er schert sich wenig um die sogenannte political correctness. Am College haben fast gleichaltrige Lehrerinnen und Schüler sexuelle Beziehungen – ein Minenfeld fürwahr, aber dem Autor geht es nicht um Moral, sondern nur um die persönlichen Erfahrungen seiner Protagonisten. Wir sind ja in der Literatur und nicht in einem Gesetzesentwurf. Boyle liebt es auch, Unerwartetes zu bringen – in einer Geschichte sind wir etwa in Frankreich nach dem Weltkrieg, als eine Mutterkorn-Vergiftung einem ganzen Dorf Horror-Halluzinationen verschafft. Lustiger ist die Geschichte, in der selbsternannte Führerinnen Menschen 50 Dollar abknöpfen, damit sie für 2 Stunden im Wald vor der Haustüre allein sein können. Eine echte, schmerzhafte Begegnung mit der Natur erfährt ein Teilnehmer aber erst, als eine Klapperschlange in seinem Vorgarten auftaucht.


T. C. Boyle: I walk between the Raindrops. Stories.
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren und Anette Grube
Hanser
274 Seiten
€ 26,50