Roberto Saviano und die TV-Serie „Gomorrha“

Bild: ©Netflix

Roberto Saviano, geboren 1979 in Neapel, ist der zurzeit berühmteste Schriftsteller Italiens. Seine Berühmtheit halt allerdings einen Preis, denn seit Erscheinen seines Mafia-Romans „Gomorrha“ 2006 steht er unter Polizeischutz und muss andauernd seine Wohnung wechseln, denn in diesem Weltbestseller nannte er die Namen der Mitglieder der Camorra und wurde daraufhin mehrfach bedroht. An das muss man denken, wenn man sich jetzt auf Netflix die 5 Staffeln „Gomorrha“ ansieht, denn in dieser Serie geht es wirklich ultrabrutal zu. Nicht nur Mitglieder der „Familien“ und ihre Soldaten werden ermordet, auch viele Unschuldige und kleine Gauner, die die Not zu Verbrechern macht, kommen blutigst ums Leben. „Italien ist ein gefährliches Land – mit einer gewaltvollen Politik, einer unvollendeten Demokratie und einem feigen Vasallen-Journalismus“, erklärte Saviano in einem Interview.

Die TV-Serie, die meist an den Originalschauplätzen in den heruntergekommenen Sozialsiedlungen Neapels und nach Salvianos Roman gedreht wurde, zeigt uns das Leben in unserem Nachbarland abseits des Dolce-Vita-Klischees. Die Polizei wird nicht ernst genommen und bei Bedarf geschmiert, die Politik ist oft selbst in Korruption verstrickt. Es geht immer nur darum, dass die Richtigen am Gewinn profitieren. Schwer verständlich für Nicht-Italiener ist die enge Beziehung der Mafia-Bosse zum katholischen Glauben und zur Kirche. Nach dem Mord wird gebetet, Madonna-Statuen sind selbst noch im kleinsten Versteck. Und ihren bisweilen gar nicht so großen Reichtum genießen die Drogenhändler in völlig verkitschten kleinen Wohnungen mit Prunk nach dem ästhetischen Geschmack von Donald Trump. Die von Gier und Eitelkeiten gesteuerten Konflikte und Schachzüge würde man gerne der blühenden Phantasie der Drehbuchschreiber zuschreiben, wenn man nicht wüsste, dass sie vom penibel recherchierenden Roberto Saviano stammen. In einem Interview erklärte er einmal das Denken in Italien mit dem berühmten Pferde-Wettkampf in Siena. Ziel des Palio wäre nicht zu gewinnen, sondern dafür zu sorgen, dass auf keinen Fall der Gegner und Nachbar Erster wird.

Auch wenn die Dialoge nicht immer wirklich glaubhaft klingen, die Kameraführung ist sehrgelungen. Und die Lichttechniker schaffen es, eine ganz eigene Farbigkeit zu kreieren, die an alte Farbfilme (als es noch Agfachrome gab) erinnert. Ein Sommertag in Neapel scheint in Licht zu ertrinken.

In seinem neuesten Roman „Falcone“ setzt Saviano nun einem noch berühmteren Mafia-Jäger ein Denkmal. Der hartnäckige Untersuchungsrichter Giovanni Falcone starb bekanntlich 1992 bei einem Sprengstoff-Attentat der Mafia in Palermo. In der Vorbemerkung heißt es da (angesichts der haarsträubenden Geschichten, die er dann erzählt): „Alle auftretenden Personen hat es wirklich gegeben, jedes Ereignis ist tatsächlich geschehen. All das ist gewesen.“

Gomorrha ist auf netflix.com zu sehen.

Roberto Saviano: Falcone
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
Hanser
548 Seiten
€ 32,00

„Leben und Sterben in Wien“ von Thomas Arzt als Uraufführung im Theater in der Josefstadt

„Leben und Sterben in Wien“ ist ein schwungvoller Abend. – ©Moritz Schell

Ursprünglich hätte das Auftragsstück schon in der Corona-Zeit 2021 uraufgeführt werden sollen, doch heuer – zum 90. Jahrestag der Februarkämpfe, als die Sozialdemokraten gegen den Dollfußschen Klerikalfaschismus ankämpften – passt es sowieso besser. Denn „Leben und Sterben in Wien“ von Thomas Arzt ist zeitlich zwischen dem „Schandurteil“ im Prozess gegen die Mörder von Schattendorf 1927 –inklusive Brand des Justizpalastes – und dem gescheiterten Aufstand der Sozialdemokraten im Februar 1934 begrenzt. Mittendrin die Magd Fanni, die in ihrem Heimatdorf nicht nur unmenschlich schwer arbeiten muss, sondern dort auch vom Bauern sexuell missbraucht wird. Ihre für sie verwirrende Liebe zu der anderen Außenseiterin Sara bringt sie noch dazu in große Gefahr. Sie flieht ins Rote Wien, wo gerade der Freispruch für die Schattendorf-Mörder verkündet wird, und gerät in die Kreise der „Sozis“. Dabei ist sie schwanger, aber ausgerechnet eine Gräfin sowie Saras Vater – ein Revuetheaterdirektor (Günter Franzmeier) – helfen ihr.

Nun klingt das freilich alles ziemlich konstruiert, aber Regisseur und Hausherr Herbert Föttinger hat daraus mit Hilfe der exzellenten Live-Musik von Matthias Jakisic – er selbst sitzt mit Geige und Elektronik vorne in der großen Loge – einen recht wirkungsvollen Musiktheater-Abend geschaffen, der vom Publikum der Premiere ausgiebig gefeiert wurde. Vieles erinnert an Brecht/Weill, einiges an Jura Soyfer, wobei Arzt auch nicht vor modernem Jargon zurückschreckt. Oft bleiben Sätze unvollständig, man muss sich auch beeilen, die viele Handlung in den nicht einmal 3 Stunden (inklusive Pause) unterzubringen.

Im engagierten Ensemble stechen vor allem Frauenrollen hervor. Katharina Klar spielt die Hauptrolle der Fanni sehr glaubhaft und umschifft gekonnt überall lauernde Klischees. Ebenso schnörkellos agieren Johanna Mahaffy als ihre Geliebte und Schutzbündlerin und Ulli Maier als Gräfin. Selbst Fannis Kind  (Clara Bruckmann) ist überzeugend. Als böse Dorfalte und brutale Apologetin der Gewalt glänzt Lore Stefanek auf der dunklen Seite der Macht.

Ein schwungvoller Abend, der über so manche Schwächen des Textes und der Handlung (Fanni schießt auf einen Polizisten, wird verhaftet und gefoltert und ist schon wenig später wieder hoffnungsvolle Studentin in der Freiheit) hinwegtröstet.

Infos & Karten: josefstadt.org

„Dies ist keine Botschaft (Made in Taiwan)“ im Volkstheater

Szenefoto aus „Dies ist keine Botschaft“. – ©Claudia Ndebele

Der heutige Status Taiwans ist der China-Politik Richard Nixons geschuldet. Nixon sah 1971 in Mao einen möglichen Verbündeten gegen die Sowjetunion und erfüllte die Bedingungen Chinas für eine bilaterale Annäherung. Daraufhin flog Taiwan als „Republic of China“ aus den Vereinten Nationen (deren Gründungsmitglied es war) und aus dem UN-Sicherheitsrat. Seither wird der Inselstaat diplomatisch nur von wenigen Kleinstaaten wie dem Vatikan oder Belize als Nation anerkannt und lebt unter der ständigen Bedrohung durch den großen Bruder.

Die Gruppe Rimini Protokoll tourt jetzt mit dem Abend über Taiwan „Dies ist keine Botschaft (Made in Taiwan)“ durch europäische Theater. Im Volkstheater wurde die Produktion sehr, sehr freundlich aufgenommen, denn die drei Protagonisten – eine Musikerin (Debby Szu-Ya Wang), ein Diplomat (David Chienkuo Wu war u.a. Botschafter in Belize) und eine Netz-Aktivistin (Chiayo Kuo) taten unter der Regie von Stefan Kaegi wirklich viel, um Sympathien für ihr Land zu gewinnen. Mit Videoprojektionen und Musikdarbietungen wurde die Eröffnung einer Botschaft in Österreich – im Volkstheater – geprobt. Denn natürlich traut sich auch Österreich – wie auch alle anderen Länder der EU nicht, offiziell Beziehungen zu Taiwan aufzunehmen. Dabei ist Taiwan, das etwa so groß wie Österreich ist aber mehr als doppelt so viele Einwohner hat, seit 1990 eine echte Demokratie. Die drei Spieler aus Taiwan erzählen jede Menge absonderliche Geschichten, die man nur vor dem Hintergrund der imperialen Weltpolitik verstehen kann. Debby Wangs Vater gründete etwa die Firma Possmei, einen inzwischen bedeutenden Getränkekonzern, der mit den Zutaten für Bubble Tea weltweit erfolgreich ist. Die Bevölkerung des Inselstaates wird ständig zu Waffenübungen ermuntert, da man permanent mit einer Invasion Chinas rechnen muss. Dabei waren die Chinesen einst auch nur Migranten auf der Insel und es gab und gibt Ureinwohner in Taiwan. Und bis zum 2. Weltkrieg war Taiwan 50 Jahre lang eine Provinz des japanischen Kaiserreichs. Zur großen chinesischen Übernahme kam es bekanntlich durch den General Chiang Kai-shek, der den Krieg gegen Mao verloren hatte und sich auf Taiwan zurückzog, wo er bis zu seinem Tod diktatorisch herrschte.

Ein interessanter Abend zu einem weltpolitisch brisanten Konflikt.

Informationen & Termine: www.volkstheater.at

Kunstfreiheit unter Goebbels – Daniel Kehlmanns Roman „Lichtspiel“ über G. W. Papst

Daniel Kehlmann wird tatsächlich von Roman zu Roman immer besser. Sein Buch über den österreichischen Filmregiegiganten G. W. Papst (geboren 1885 in Böhmen, gestorben 1967 in Wien) zeichnet sich durch bestes schreiberisches Handwerk, Fokussierung auf ein Thema und sogar durch Humor aus. Kehlmann konzentriert sich nämlich auf einen – allerdings sehr wichtigen – Aspekt aus dem Leben von Papst. Warum kehrte er aus Hollywood nach Deutschland zurück als dort bereits Hitler seinen Krieg vorbereitete und wie überlebte er unter der Propagandamaschinerie von Joseph Goebbels im Kulturbetrieb? Und vor allem: Würde Papst dadurch moralisch schuldig?

Gleich zu Beginn steht eine der witzigsten Szenen des Buches, die aber bereits auf das Kernthema hinweist. Ein bereits fast dementer Regieassistent von Papst – Franz Wilzek – hat einen Auftritt bei Heinz Conrads „Was gibt es Neues“ und streitet mit dem stetig mehr angepissten Moderator über einen Film, der kurz vor Kriegsende von Papst gedreht wurde. Dieser Film – „Der Fall Molander“ – nach einem Roman des NS-Dichters Alfred Karrasch – gilt als verschollen und wurde auch nie geschnitten. Allerdings sollen dabei – wie im Roman breit geschildert – KZ-Häftlinge als Statisten eingesetzt worden sein.

In Hollywood hatte man Papst, der sich mit „Die freudlose Gasse“ in die erste Riege der Stummfilmregisseure katapultiert hatte, 1934 genötigt, ein schlechtes Drehbuch zu verfilmen – der Streifen „A Modern Hero“ war dann dementsprechend erfolglos. Er versucht vergebens Greta Garbo – seine Entdeckung – für ein Filmprojekt zu begeistern und kehrt zunächst nach Frankreich zurück. Um seine mutmaßlich kranke Mutter zu sehen, kommt er wieder nach Österreich, das es damals allerdings schon gar nicht mehr gab. In seinem Schloss hat der Hausmeister, ein NS-Parteigänger, bereits die Macht ergriffen. Plastisch beschreibt Kehlmann – permanent die Erzählperspektive wechselnd – auch die Audienz bei Goebbels oder die Kameraden von Jakob, den Sohn des Regisseurs. Der Roman über den Filmregisseur ist dabei durchaus sehr cineastisch geworden. Das mag manche Exegeten der reinen Literaturlehre stören, die Leser werden ihm allerdings danken.


Kunstfreiheit unter Goebbels – Daniel Kahlmanns Roman „Lichtspiel“ über G. W. Papst. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Daniel Kehlmann: Lichtspiel
Rowohlt
480 Seiten
€ 27,50

Im Schlachthaus der Geschichte – „Animal Farm“ von Alexander Raskatov in der Staatsoper

Szenenfoto. – ©Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Schullektüre, verstaubt – ein Relikt aus dem Kalten Krieg: Die Romanparabel „Animal Farm“ – immerhin bereits vor dem Ende des 2. Weltkrieges vom enttäuschten Kommunisten George Orwell geschrieben – galt längst als veraltet und uninteressant. Seitdem sich Russland wieder in Richtung der Stalin-Sowjetunion entwickelt, wirkt diese Geschichte einer Revolution, die sich in Windeseile in ein totalitäres System verwandelt, aber wieder hochaktuell. Der schon lange in Frankreich lebende russische Komponist Alexander Raskatov, der übrigens just an dem Tag zur Welt kam, als Stalin begraben wurde, bekam aber den Auftrag zur Vertonung von „Animal Farm“ längst vor dem Einmarsch Russlands in der Ukraine. Und – wie die Aufführung in der Wiener Staatsoper zeigt – ist seine Oper kein Russen-Bashing, sondern eine höchst zeitgemäße Allegorie auf den Verrat humanistischer Ideen im Politalltag.

In nur knapp zweieinhalb Stunden (mit Pause) sehen wir in der Staatsoper die Metamorphose einer Demokratie in eine Diktatur am Beispiel eines Bauernhofes, in dem die Tiere die Herrschaft an sich gerissen haben. In der Inszenierung von Damiano Michieletto spielt „Animal Farm“ gleich in einem Schlachthaus – eine Farm ist schließlich kein Ponyhof, wir sind sozusagen im Schlachthaus der Geschichte gefangen. Und schließlich wird das unermüdlich arbeitende Pferd Boxer (Stefan Astakhov) dann auch tatsächlich geschlachtet und wiederverwertet.

Anfangs tragen noch alle Darsteller Tiermasken, nach und nach werden sie dann sozusagen zu Menschen – verrohen also nachhaltig. Raskatov hat geschickt Tierlaute in die Partitur eingebaut, ohne das Ganze dadurch zu verniedlichen. Überhaupt ist seine Musik ebenso unterhaltsam wie abwechslungsreich, ein Klangteppich, an dem man sich – trotz großer Dramatik – auch erfreuen kann. Und es gibt gute Rollen, denn nicht nur die schweinischen Widersacher Napoleon (Bassbariton Wolfgang Bankl als „Stalin“) und Snowball (Michael Gniffke als „Trotzki“) haben ihre großen Auftritte. Dem Raben Blacky (Elena Vassilieva) haben die Librettisten – neben dem Komponisten auch Ian Burton eine wesentliche Rolle als grausamen Beobachter und Einsager zugestanden. Andrei Popov singt den Geheimdienstchef („Beria“), der ihm nicht willige Tiere kurzerhand über die Klinge springen lässt.

Der britische Dirigent Alexander Soddy bringt die Farbigkeit der Musik mit dem exzellenten Orchester der Staatsoper optimal zur Geltung. Man kann in dieser Inszenierung sowohl im Text als auch in der Musik vieles entdecken. Verdienter Jubel vom Publikum bei der Premiere.

Weitere Aufführungen am 2., 5., 7. und 10. März

www.wiener-staatsoper.at

Humanismus im Barbarenland – „Iphigenie auf Tauris“ in der Regie von Ulrich Rasche am Akademietheater 

Szene aus „Iphigenie auf Tauris“. – ©Marcella Ruiz Cruz

Stillstand gibt es bei Ulrich Rasches Interpretation von Johann Wolfgang von Goethes Ideendrama „Iphigenie auf Tauris“ tatsächlich keinen, denn alle Figuren bewegen sich gegen die sich permanent drehende Bühne. Ein eindrucksvolles Bild, das sich in den zweieinhalb Minuten der Aufführung auch nicht abnützt. Auch die Sprache folgt einem strengen Duktus mit manchmal ungewöhnlichen Betonungen. Und die Musik – ein elektronisch und oft auch bedrohlich anmutender Soundteppich (Komposition und musikalische Leitung: Nico van Wersch – Schlagwerk: Katelyn King, Keyboards: Benjamin Omerzell) – macht ebenfalls niemals Pause. Ein herausfordernder Job für alle Darsteller (Daniel Jesch, Ole Lagerpusch, Maximilian Pulst, Enno Trebs), allen voran Julia Windischbauer als Iphigenie, die sich in der Männerwelt von Tauris durchsetzen muss. Schon in der ersten Szene tragen die Männer durchsichtige T-Shirts und kommen der weiß gekleideten einzigen Frau erschreckend nahe.

Iphigenie hat nämlich wirklich keine einfache Aufgabe. Sie muss die Werbung des Königs ausschlagen und wenig später auch noch den Bruder Orest retten, der die eigene Mutter ermordete, um sich an dem Vatermord zu rächen. Dabei herrschte auf Tauris lange Zeit die barbarische Sitte, jeden Fremden kurzerhand den Göttern zu opfern.

Ulrich Rasche hat auch das Bühnenbild gestaltet, das nur aus viel Nebel vor schwarzem Hintergrund und einer aus LED-Stäben geformten Säule besteht, die während des Abends die verschiedensten Positionen einnehmen kann. In Goethes Drama passiert bekanntlich nicht viel und doch alles, wird doch das Fundament unserer Gesellschaft verhandelt – der Humanismus, der leider aktuell wieder allerorts sich auf dem Rückzugskampf befindet. So gesehen ist „Iphigenie auf Tauris“ in dieser für Zuseher ebenso fordernden wie schlüssigen Inszenierung das Stück der Stunde.


Infos & Karten: burgtheater.at

Aufwachsen in Kärnten – Julia Josts Debütroman „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht

Die 11-jährige Erzählerin J. versteckt sich unter einem Lastwagen, in dem gerade der gesamten Hausrat der Familie aufgeladen wird, denn ein Umzug steht an. In ein viel größeres Haus, das gebraucht wird, weil die Mutter unzählige Möbelstücke aus dem Dorotheum im nahen Villach aufgekauft hat – der neue Reichtum der Familie, der vom schwunghaften Verkauf von Lastwägen in die eben frei gewordenen Länder aus dem Osten herrührt, verlangt nach einer repräsentativen Bleibe.

J. will gar nicht weg, weil sie sich von ihrer Freundin Luca, ein aus Bosnien stammendes gleichaltriges Mädchen, trennen muss, mit der sie bereits erste Küsse ausgetauscht hat. Wir sind in den 90ern in Kärnten, der Vater schimpft ununterbrochen, weil seine beiden Söhne lange und die Tochter kurze Haare haben. Eine neue Zeit ist im Anmarsch, der neue Bürgermeister – ein guter Freund des Vaters – redet von Hausverstand und umgibt sich mit allerlei Kellernazis, die wieder aus den Löchern kriechen.

Die in Kärnten aufgewachsene Autorin Julia Jost, Jahrgang 1982, hat den Aufstieg Jörg Haiders miterlebt. Sie studierte in Wien und Berlin und hat bisher vor allem an diversen Theatern gearbeitet. Im April wird am Volkstheater ihr Shakespeare-Stück ROM uraufgeführt.

Für ihren ersten Roman hat sie augenscheinlich ihre eigene Jugend verarbeitet. Erstaunlich ist schon, wie viel sie in den 230 Seiten unterbringen kann, denn schließlich erzählt sie sozusagen ganz naiv mit den Augen eines Kindes. Ihre Sprache ist freilich keinesfalls einfach. Zum einen verwendet sie Dialekt und zum anderen findet sie oft ungewöhnliche Sprachbilder.

Am Beginn steht ein tödlicher Unfall. Ein Kind wird von den Spielkameraden genötigt, in einem Schacht das verlorene Messer – ein sorgsam gehüteter alter SS-Dolch mit der Aufschrift „Meine Ehre heißt Treue“ – zu holen und ertrinkt dabei. Ein Trauma für die Kinder und die gesamte Dorfgemeinschaft. Doch Jost wollte keinen sogenannten Anti-Heimatroman schreiben, ihr schriftstellerisches Interesse gilt immer dem erzählenden Kind. Wie war das damals, in Kärnten auf dem Land aufzuwachsen? Ein Roman, der trotzdem so nebenbei das politische Dilemma in unserer Republik darstellt.

Julia Jost wird bei Rund um die Burg – heuer am 10. und 11. Mai – lesen.
Infos ab Mitte März unter www.rundumdieburg.at


„Heit bin e ned munta wuan“ im Volkstheater von Wolfgang Menardi

Szene aus „Heit bin e ned munta wuan“. – ©Marcel Urlaub

Die Bühne zeigt die offenbar große Wohnung der Frau Q im heruntergekommenen Zustand aus den 70er-Jahren, reichlich mit Kitsch, ausgestopften Vögeln und Nippes bestückt. Mittels Textausschnitten von Autoren der Wiener Gruppe wie H.C. Artmann, Konrad Bayer, Friedrich Achleitner, Oswald Wiener und Gerhard Rühm erleben wir in gut anderthalb Stunden das trübe Schicksal dieser von Samouil Stoyanov großartig dargestellten, etwas fülligen Frau Q, ihre ungesunde Liebe zu einem viel jüngeren Nachbarn (Matteo Haitzmann) von gegenüber und ihren Kampf mit dem Telefon, das immer wieder hartnäckig läutet und Frau Q einen Stromstoß versetzt. Zwischendurch stimmt Claudia Sabitzer als ehrwürdiger Pompfüneberer vor dem Vorhang auf das urwienerische Thema des Abends – den Tod – ein. Ihr Text stammt aus dem Dokumentarfilm „Die Pompfüneberer“ (1994) von Arpad Bondy und Margit Knapp. Und im kleinen TV in der Wohnung läuft entweder Edith Klingers legendäre Tiersendung „Wer will mich?“ oder ein Sissi-Film. Dabei wird Frau Q gespiegelt von einem famosen Musiktrio im gleichen bieder-spießbürgerlichen Outfit (Ingrid Eder, Flora Geißelbrecht, Sixtus Preiss), denn viele der Texte werden gesungen.

Das ergibt einen kurzweiligen Abend mit viel Spaß beim Entdecken neuer Details in diesem morbiden Wienerisch-Setting. Die Handlung – Frau Q ermordet schließlich den Nachbarn und begeht Selbstmord – hätte man eher nicht gebraucht. Und die Sissi-Franzl-Kostüme gegen Ende geben der Geschichte eine etwas zu platte Wendung. Am Ende tanzt Frau Q noch einen makabren Totentanz mit ihrem nackten Angebeteten – ebenso schaurig wie peinlich.

Infos und Karten: volkstheater.at

Frank Castorfs Theatermarathon mit Thomas Bernhards „Heldenplatz“ am Burgtheater

Szene aus dem Stück. – ©Matthias Horn

Der sogenannte „Heldenplatz-Skandal“ gehört zur österreichischen Zeitgeschichte wie der Einsturz der Reichsbrücke oder der Autounfalltod Jörg Haiders. Es ranken sich viele Legenden um das letzte große Stück Thomas Bernhards, der nur Monate später 1989 verstorben ist.

Dass man „Heldenplatz“ heute nicht mehr so spielen kann, wie bei der wunderbar präzisen Uraufführung unter Claus Peymann, war von Anfang an klar. Zumal der Deutsche Frank Castorf ja auch nicht für werkgetreue Inszenierungen bekannt wurde. Und die mehr als 5-stündige Aufführung am Burgtheater demonstriert auch eindrucksvoll die Gefahren, die ein unreflektierter „Heldenplatz“ mit sich bringen kann. Die stärksten Szenen im Stück – etwa der Monolog des Professors über die verkommenen Österreicher – allesamt Nazis – erregen noch immer die größte Aufmerksamkeit, doch sind sie nur um Haaresbreite von affirmativer Folklore entfernt. Im Burgtheater spricht – ja schreit fast – Birgit Minichmayr die berühmten „Österreich-Schmähungen“ des Professors (alle spielen an dem Abend alle) eingewickelt wie eine Mumie. In diesem Kostüm kann sie sich kaum bewegen, schafft es zur Erheiterung des Publikums aber dennoch, sich auf einen Sessel zu legen und herumzuwirbeln. Ein Höhepunkt des Abends. Derart verfremdet kann man dem Spiel gut folgen.

Mindestens ebenso präsent wie das Bernhard-Stück sind allerdings Texte von Thomas Wolfe („Nur die Toten kennen Brooklyn“) und John. F. Kennedy. Beide hatten Europa bereist, als die Nazis schon in Deutschland herrschten. Man lobt etwa die Sauberkeit der deutschen Städte im Gegensatz zu den italienischen und spanischen. Zwischendurch singen Inge Maux und Minichmayr Lieder auf Jiddisch. Wir befinden uns nämlich nicht in Wien am Heldenplatz, sondern – wie schon das Bühnenbild (Alexandar Denić) klarmacht – in New York beim Abgang einer Subway. Und hier, im Untergrund, spielen auch einige zentrale Szenen, die wie bei Castorf gewohnt, via Live-Video auf eine große Leinwand übertragen werden. Da will etwa ein älterer Mann (Branko Samarovski) Brooklyn erkunden, unter Zuhilfenahme eines großen Stadtplans – immer wieder wird an dem Abend eine globale Heimatlosigkeit angesprochen. Und wo Fremde sind, ist der Faschismus nicht weit. „Ihnen solt ma umbringen“ steht in Leuchtbuchstaben im Himmel von New York – wohl ein Ausspruch, den Bernhard 1988 oft hören konnte. Und Marie-Luise Stockinger rettet sich im geschickt inszenierten Video als Angebetete auf den Balken eines gerade entstehenden Hochhauses. Alle Darsteller (Marcel Heuperman, Inge Maux, Birgit Minichmayr, Franz Pätzold, Branko Samarovski, Marie-Luise Stockinger) leisten wirklich Großartiges. Und die meisten Zuseher beweisen Sitzfleisch: Man bekommt neben eindrucksvollen Momenten voller Magic und Poesie nämlich durchaus Passagen zu hören, die man kaum einordnen und aufgrund der Länge des Abends kaum mehr aufnehmen kann. Trotzdem: Wer sich auf die ausufernde Produktion einlässt, weiß danach zumindest, was Theater heutzutage noch zu leisten vermag.

Infos & Karten: burgtheater.at

Kafka & Musik – Otto Brusatti präsentiert

Otto Brusatti macht heuer mehrere frei zugängliche Veranstaltungen zum Kafka-Gedenkjahr (100. Todestag), zumal er ja gleich 2 Kafka-Bücher im Gepäck hat. In der Galerie WienARTig in der Josefsgasse 1 in der Josefstadt gibt es am 1. März auch Musik der Stippichs zu hören. David (der Sohn, Klarinetten) und Helmut (der Vater, Harmonika und Zither) Stippich werden Unterschiedliches, Neues, Überraschendes, Virtuoses spielen. Otto Brusatti selbst wird moderieren und seine beiden Bücher präsentieren:

„FÜR K. Neue Geschichten und Bilder für Franz Kafka“ (17 AutorInnen von Rang – von Monika Helfer bis Rafik Schami plus Zeichnungen von Edgar Tezak),

 „… oder: MASSAKER IM DREIMÄDERLHAUS“ von ihm selbst verfasst – „Ein schmaler, etwas absurder, also voll wirklicher Wienroman“ (Brusatti) – beide Bücher sind im echomedia buchverlag erschienen.

Freier Eintritt, aus Platzgründen wäre eine Anmeldung unter jahreskraftbaeume@gmail.com hilfreich.

Im Anschluss noch ein wenig Häppchen und Getränke!

Galerie WienARTig – Josefsgasse 1 – 1080 Wien
Lesung, Buchpräsentation, Musik
Freitag, 1. März 2024 – 19.00