Die junge Schweizer Autorin Selma Matter wurde für ihr gemeinsam mit  Marie Lucienne Verse geschriebenes Stück „Alice verschwindet“, das zuletzt in Linz Premiere hatte, mit dem Thomas-Bernhard-Stipendium 2022 ausgezeichnet, im Schauspielhaus gewann sie das Hans-Gratzer-Stipendium. Bei der Uraufführung ihres Stücks „Grelle Tage“ hängt nun der Klimawandel als Damoklesschwert über dem Geschehen. Eine Archäologin und ihr Assistent wollen im schmelzenden Eis bei Jakutsk Mammuts vor Elfenbeinjägern – „Mammutdealern“ – schützen und stecken bald im Schlamm fest. Da wird ein Tausende Jahre alter Wolfshund aufgetaut und beginnt zu leben. Der „zerfledderte Hund“ irrt durchs Gelände, während ein weiß gekleideter Mensch die Katastrophe durch die Klimaerwärmung prophezeit. Regisseurin Charlotte Lorenz lässt den apokalyptischen Text in einem weißen, von Vorhängen umkränzten Raum spielen, in dem es nur ein kleines Podest, eine Kühltruhe, eine Eisgetränke- und eine Zuckerwattemaschine stehen. Simon Bauer, Vera von Gunten, Clara Liepsch, Sebastian Schindegger, Til Schindler und Nico Werner-Lobo spielen unterschiedliche Rollen. Bemerkenswert ist vor allem wie der Bub Werner-Lobo schauspielerisch mit dem Ensemble problemlos mithalten kann – zuerst in der Rolle des Hundes, dann als Prophet. Er ist der Star des Abends.

Von Jakutsk zum Matterhorn – „Grelle Tage“ von Selma Matter im Schauspielhaus

Die junge Schweizer Autorin Selma Matter wurde für ihr gemeinsam mit  Marie Lucienne Verse geschriebenes Stück „Alice verschwindet“, das zuletzt in Linz Premiere hatte, mit dem Thomas-Bernhard-Stipendium 2022 ausgezeichnet, im Schauspielhaus gewann sie das Hans-Gratzer-Stipendium. Bei der Uraufführung ihres Stücks „Grelle Tage“ hängt nun der Klimawandel als Damoklesschwert über dem Geschehen. Eine Archäologin und ihr Assistent wollen im schmelzenden Eis bei Jakutsk Mammuts vor Elfenbeinjägern – „Mammutdealern“ – schützen und stecken bald im Schlamm fest. Da wird ein Tausende Jahre alter Wolfshund aufgetaut und beginnt zu leben. Der „zerfledderte Hund“ irrt durchs Gelände, während ein weiß gekleideter Mensch die Katastrophe durch die Klimaerwärmung prophezeit. Regisseurin Charlotte Lorenz lässt den apokalyptischen Text in einem weißen, von Vorhängen umkränzten Raum spielen, in dem es nur ein kleines Podest, eine Kühltruhe, eine Eisgetränke- und eine Zuckerwattemaschine stehen. Simon BauerVera von GuntenClara LiepschSebastian SchindeggerTil Schindler und Nico Werner-Lobo spielen unterschiedliche Rollen. Bemerkenswert ist vor allem wie der Bub Werner-Lobo schauspielerisch mit dem Ensemble problemlos mithalten kann – zuerst in der Rolle des Hundes, dann als Prophet. Er ist der Star des Abends.

Die Darsteller machen zwischendurch Ausflüge in die Kunstwelt – Michelangelos Erschaffung Adams oder Munchs Der Schrei werden nachgestellt – oder sorgen sich um das zerbröselnde Matterhorn. So wirklich dringend scheint das an dem Abend aber nicht zu sein. Zwar rinnt am Ende ein roter Saft – Blut? – die Vorhänge runter, die aktuelle Dramatik der Klimazerstörung erleben wir momentan aber eher in den Tagesnachrichten.


Infos: schauspielhaus.at

Der in London lebende frühere Journalist Julian Barnes ist seit seinem Romanerfolg „Flauberts Papagei“ 1984 eine fixe Größe in der englischen Literatur. Meist sind seine Bücher eine Mischung aus Erzählung und Essay mit besonderer Berücksichtigung der Tücken der Geschichtsschreibung. Bei seinem neuesten Werk „Elisabeth Finch“ ist das nicht anders.

Der letzte heidnische Kaiser – Julian Barnes „Elisabeth Finch“

Der in London lebende frühere Journalist Julian Barnes ist seit seinem Romanerfolg „Flauberts Papagei“ 1984 eine fixe Größe in der englischen Literatur. Meist sind seine Bücher eine Mischung aus Erzählung und Essay mit besonderer Berücksichtigung der Tücken der Geschichtsschreibung. Bei seinem neuesten Werk „Elisabeth Finch“ ist das nicht anders. Der Erzähler, ein älter gewordener Mann namens Neil, erinnert sich nach zwei gescheiterten Ehen an seine Zeit als Student und dabei besonders an seine Professorin Elisabeth Finch. So wie er sie beschreibt, wird sie zumal von europäischen Lesern wohl als typisch britisch klassifiziert werden. Sehr klug, aber zurückhaltend bei den Meinungen anderer, unnahbar, aber immer an einem intellektuellen Diskurs interessiert, ein bisschen verschroben in ihren Themen, aber stets offen für Kritik. EF – wie die Studenten sie bald nennen – trifft sich auch nach ihrer Pensionierung gerne mit dem Erzähler und als sie stirbt, vererbt sie ihm ihre Aufzeichnungen. Ihr Interesse galt besonders einem römischen Kaiser, der als letzter Heide vor dem Siegeszug des Christentums in die Geschichte eingegangen ist. Julian Apostata („der Abtrünnige“) – der Zunamen wurde ihm von der Katholischen Propaganda verpasst, weil er angeblich schon Christ geworden war, ehe er wieder zu den römischen Göttern zurückkehrte – war nur eine kurze Amtszeit gegönnt, er starb 263 in einer Schlacht und wurde nicht viel älter als 30 Jahre. Und trotzdem wird er in den christlichen Schriften als der Böse schlechthin verunglimpft – obgleich er im Gegensatz zu seinem Vorgänger Diokletian die Christen keineswegs brutal verfolgte, sondern die christliche Lehre bloß für eine schlechte und kindische Religion ansah. Was wäre geschehen, wenn Julian die Schlacht gewonnen und über das Christentum gesiegt hätte – wäre dann etwa überhaupt eine Renaissance und Aufklärung nötig gewesen? Doch Wenn-Sätze sind in der Historie bekanntlich wenig fruchtbringend…

Barnes gibt EFs Ansichten viel Raum, der zweite Teil besteht fast zur Gänze aus einem Essay über Julian, im dritten Teil begibt sich Neil auf Spurensuche nach EF und befragt ihren Bruder und seine ehemalige Geliebte Anna – die ebenfalls mit Finch in Kontakt geblieben war. Viel findet er nicht heraus und so bleiben auch die Leser etwas enttäuscht zurück. Die Verbindung von Geschichte und Erzählung ist Barnes in anderen Romanen sicher besser gelungen.


Der in London lebende frühere Journalist Julian Barnes ist seit seinem Romanerfolg „Flauberts Papagei“ 1984 eine fixe Größe in der englischen Literatur. Meist sind seine Bücher eine Mischung aus Erzählung und Essay mit besonderer Berücksichtigung der Tücken der Geschichtsschreibung. Bei seinem neuesten Werk „Elisabeth Finch“ ist das nicht anders.

Julian Barnes „Elisabeth Finch“
Aus dem Englischen von Gertraude Krueger
Kiepenheuer & Witch
240 Seiten
€ 24,70

Der heuer im März erschienene schmale Text „Zwiegespräch“ von Peter Handke lässt sich locker in einer dreiviertel Stunde lesen und besteht vor allem aus Erinnerungen an seinen Großvater.

Peter Handkes „Zwiegespräch“ im Akademietheater

Bild: ©Susanne Hassler-Smith

Der heuer im März erschienene schmale Text „Zwiegespräch“ von Peter Handke lässt sich locker in einer dreiviertel Stunde lesen und besteht vor allem aus Erinnerungen an seinen Großvater. Die Regisseurin Riecke Süßkow hat für das Akademietheater ein Stück daraus gemacht – mit mehreren Alten und einigen Pflegerinnen – gespielt wird nämlich in einem Altersheim, in dem es fast wie in einer Fabrik streng getaktet zugeht. Die Alten werden von einem Pflegerinnenballett gefüttert, man bringt ihnen die Kleidung und dann müssen sie ein Spiel spielen, das als „Die Reise nach Jerusalem“ bekannt ist. Alle gehen im Kreis und wenn die Musik – etwa der Schlager La Paloma – unerwartet endet, ist ein Sessel zu wenig. Der Übriggebliebene muss bis auf die Kleidung alles abgeben und wird in eine Kammer gesteckt. Für ihn ist es wohl vorbei. Dazu kontrastiert der nachdenklich-erinnernde Text von Peter Handke, in dem es auch einmal ums Spielen – ein trauriges Kartenspiel, denn Großvaters Kumpane sterben nach und nach – geht.

Erstaunlicherweise funktioniert Süßkows Regieeinfall über weite Strecken recht gut – man hat immer etwas zum Schauen, Handkes Sprache funkelt an den unerwartetsten Stellen und die Regisseurin weiß auch noch nach mehr als einer Stunde szenische Akzente zu setzen. Mit Martin Schwab und ihm assistierend Hans Dieter Knebel und Branko Samarovski stehen ihr auch Schauspieler zur Verfügung, die den Handke-Zauber anmischen können. Wobei auch die Pflegerinnen Maresi Riegner und Elisa Plüss Texte sprechen dürfen. Dazu eine skurril gespenstische Bühne (Mirjam Stängl) mit Alibigrünpflanzen und innenbeleuchteten Schränken vor einer ausfahrbaren Holzwand, die meist in Sepiatönen beleuchtet wird. Am Ende – nachdem auch der letzte Großvater, eben Martin Schwab, abtreten musste – gibt es ein bizarres Fest mit Luftballons, wo sich alle wieder einfinden. Sind wir im Himmel oder in der Hölle? Egal, der Abend war recht anregend.

Infos: burgtheater.at


Peter Handke: Zwiegespräch
Bibliothek Suhrkamp
68 Seiten
€ 18,50

Vor wenigen Jahren wäre jemand, der behauptete, seine Vorfahren hätten ihm bestimmte Gefühlsmuster genetisch vererbt, als „Querdenker“ und Spinner lächerlich gemacht worden.

Vererbte Wut – Alex Schulman schreibt sich in „Verbrenn all meine Briefe“ von der toxischen Beziehung seiner Großeltern

Vor wenigen Jahren wäre jemand, der behauptete, seine Vorfahren hätten ihm bestimmte Gefühlsmuster genetisch vererbt, als „Querdenker“ und Spinner lächerlich gemacht worden. Inzwischen weiß die Wissenschaft, dass traumatische Erlebnisse durchaus über Generationen weitergegeben werden können – die neu geschaffene Epigenetik untersucht diese Weitergabe erworbener Information ohne Veränderung der DNA-Sequenz.

Der Roman „Verbrenn all meine Briefe“ des Schweden Alex Schulman ist quasi angewandte Epigenetik – Schulmann erzählt nämlich, wie er in seiner Familie ohne es zu wollen und ohne gar handgreiflich zu werden, Angst und Schrecken verbreitet. Er spürt leider allzu oft eine unbestimmte Wut in sich. Da stößt er auf die Geschichte seiner Großeltern: Sein Opa war der in Schweden noch immer bekannte Schriftsteller Sven Stolpe – „ein wandelnder Mythos“ wie es im Buch heißt. Stolpe hat zahlreiche Romane und Essays veröffentlicht, sich aber mit fast allen Kollegen unversöhnlich zerkriegte. Doch das meiste seiner Wut bekam Großmutter ab, die ihn bis zu seinem Tod ohne aufzumucksen pflegte. Dabei war Karin zu Beginn ihrer Beziehung die weitaus klügere und gebildetere gewesen. Nur einmal brachte sie die Kraft auf, sich vom ihm zu trennen nachdem sie sich in einen Kollegen verliebt hatte, der später ebenfalls ein berühmter Schriftsteller wurde. In dem sanften Olof Lagercrantz sah Karin all das, was vor ihrer Horrorehe mit dem seine Tuberkulosekranke geschickt nützenden Sven möglich in ihr gesteckt hatte.

Der Roman schildert auch mittels aufgestöberter Tagebuchaufzeichnungen und Briefe diese Liebesbeziehung, diesen Ausbruchsversuch. Schulmann zeichnet auch seine Recherche nach, aber er tut dies sehr geschickt und in einer gut lesbaren Sprache. Außerdem kann er sich auch noch gut an seine eigenen Begegnungen mit dem strengen Großvater erinnern, der es nicht duldete, wenn in seiner Gegenwart geweint wurde. Und so wird „Verbrenn all meine Briefe“ zu einem genauen Bild einer toxischen Beziehung. Durch Karins „Verfehlung“, ihren „Betrug“ hat Sven sie noch besser in der Hand, sie wird zur Dulderin der Launen eines Mannes, der „70 Jahre auf dem Krankenbett liegt“. Wenn jetzt jemand behauptet, so etwas gäbe es heute nicht mehr, muss man ihm wohl widersprechen. Schulmans Roman legt Abhängigkeiten bloß, die in anderer Form sicher auch noch heute in Beziehungen herrschen können.


Vor wenigen Jahren wäre jemand, der behauptete, seine Vorfahren hätten ihm bestimmte Gefühlsmuster genetisch vererbt, als „Querdenker“ und Spinner lächerlich gemacht worden.

Alex Schulman: Verbrenn all meine Briefe
Aus dem Schwedischen von Hanna Granz
dtv
304 Seiten
€ 23,70

„Apokalypse  Miau“ im Volkstheater

Bild: ©Birgit Hupfeld

Wer sagt, wir hätten momentan schon genug Krisen? Im Volkstheater gibt es jetzt Vulkanausbrüche, Meteroiteneinschläge und zum finalen Schluss noch ein aus dem CERN ausgebrochenes alles verschlingendes Schwarzes Loch. Und erleiden müssen das alles Theaterleute während sie die Verleihung der großen Theaterpreise, der DESTROY (Achtung Wortspiel) beiwohnen. Kay Voges inszenierte die Uraufführung von Kristof Magnussons Weltuntergangskomödie „Apokalypse Miau“ – die Trophäe, die an die Gewinner geht, ist eine vergoldete japanische Winkekatze mit einem zur Megafaust ausgewachsenen Arm. Die Theaterszene macht sich über sich selbst lustig und verschafft uns einen klamaukhaften, kurzweiligen, aber nicht kurzen Abend im Volkstheater.

Diesmal wird nicht gekleckert, Übertreibung ist Trumpf. Die mit niederländischem Akzent sprechende und singende Moderatorin (Evi Kerstephan) will in eleganter Abendrobe das Wiedererwachen des Theaters feiern, während im Pausenraum die Nominierten bereits nörgeln und sich gegenseitig schlecht machen.

Magnusson liefert uns in seiner Satire alle Prototypen des heutigen Theaterbetriebs: Da ist der altlinke Großregisseur (Andreas Beck), der sich über die Gurken am Käse beschwert, da ist die auch schon in die Jahre gekommene woke Feministin (Anke Zillich), der hippiehafte Jungschauspieler (Elias Eilinghoff), der buddhistische Choreograf (Mario Fuchs), die von allen gehasste Schauspielerlegende mit Nazi-Einschlag (Uwe Rohrbeck), der hedonistisch-blöde Autor (Christoph Schüchner) sowie das in Hollywood erfolgreich gewordene Sternchen (Bettina Lieder). Am Ende heißt der Kampf alle gegen alle – bisweilen kaschiert hinter Gesten der Hochachtung. Den Weltuntergang nehmen sie – wie augenscheinlich auch das Leben – solange nicht ernst bis ihnen die Meteroitenbrocken um die Ohren fliegen.

Im Hintergrund sieht man in einem riesigen Fenster Wien bereits in Flammen (Bühnenbild: Michael Sieberock-Serafimowitsch). Nach der Pause startet man dann einen Ausbruchsversuch, denn das Theater wurde längst getroffen. Klarerweise scheitert die Theatergesellschaft mangels Solidarität an diesem Befreiungsschlag. Und bevor das schwarze Loch schließlich  alle und alles verschlingt, haben sich einige bereits erschossen. Eine herrliche Screwball-Comedy und ein Spaß auch für das ausgezeichnete Ensemble.


Infos & Karten: volkstheater.at

Aurora Venturini erlebte erst mit 85 ein Zipfelchen von Ruhm, als sie für ihren Roman „Die Cousinen“ 2007 einen nationalen argentinischen Preis erhielt.

Eine gestörte Familie in Argentinien – Aurora Venturinis „Die Cousinen“ ist eine literarische Entdeckung

Aurora Venturini erlebte erst mit 85 ein Zipfelchen von Ruhm, als sie für ihren Roman „Die Cousinen“ 2007 einen nationalen argentinischen Preis erhielt. 2015 starb die 1922 Geborene, die während ihrer Pariser Jahre mit Sartre und Beauvoir verkehrte und mit Eva Perón befreundet war. Sie schrieb zahlreiche Romane, aber erst jetzt bringt dtv ihre „Cousinen“ auf Deutsch heraus – ein sehr ungewöhnlicher Text, auch ein ungewöhnlich guter.

Es geht um die zu Beginn noch minderjährige Yuna. Sie beschreibt sich selbst als „minderbemittelt“, wenngleich nicht so extrem wie ihre im Rollstuhl sitzende Schwester Betina, die auf dem Niveau einer Vierjährigen stehengeblieben ist. Dafür kann Yuna wunderbar malen, die Kunsthochschule schafft sie in Rekordzeit und ihr Professor verhilft ihr auch zum bitter nötigen wirtschaftlichen Erfolg – denn alle Familienmitglieder im argentinischen La Plata in den 40er-Jahren sind arm. In ihrer kleinwüchsigen Cousine Petra, die dem „ältesten Gewerbe der Welt“ nachgeht, findet sie eine – allerdings sehr problematische –Freundin. Denn Petra rächt sich an dem Mann, der ihre Schwester geschwängert hat, die dann an den Folgen einer illegalen Abtreibung stirbt, auf grausame Weise. Männer sind in Venturinis Argentinien entweder abwesend – wie Yunas Vater, der die Familie verlassen hat – oder Frauenschänder. Der so hilfreiche Kunstprofessor schreckt schließlich nicht einmal vor der schwerbehinderten Betina zurück. Und Petras Kunden verpassen ihr ständig blaue Flecken.

Venturini erzählt die vielen unglaublichen und manchmal ziemlich ekeligen Geschichten inklusive Mord, Abtreibung und erzwungener Hochzeit konsequent in den Worten der sehr einfachen und naiven Yuna, die sich mithilfe eines Wörterbuchs eine komplexere Ausdrucksweise aneignen will. Kommas fehlen meist. Dadurch bekommt der Roman eine geradezu gespenstische Unmittelbarkeit, sowie einen unwiderstehlichen Sog. Ein Sprachkunstwerk, das sich wie ein Krimi liest. Eine Entdeckung!


Aurora Venturini erlebte erst mit 85 ein Zipfelchen von Ruhm, als sie für ihren Roman „Die Cousinen“ 2007 einen nationalen argentinischen Preis erhielt.

Aurora Venturini: Die Cousinen
Aus dem Spanischen von Johanna Schwering
dtv
192 Seiten
€ 23,70

Die finnisch-schwedische Autorin Monika Fagerholm ist in Skandinavien ein Literaturstar, hierzulande ist sie noch zu entdecken.

Die dunkle Seite des Villenviertels – Monika Fagerholms Roman „Wer hat Bambi getötet?“ über eine Gruppenvergewaltigung

Die finnisch-schwedische Autorin Monika Fagerholm ist in Skandinavien ein Literaturstar, hierzulande ist sie noch zu entdecken. Ihr preisgekrönter Roman „Wer hat Bambi getötet?“ wäre dazu die beste Gelegenheit. Denn Fagerholm schafft es, ein brutal-ernstes Thema fast spielerisch und ohne erhobenen Zeigefinger schockierend nah zu gestalten. Es geht um zwei Jungs aus dem Villenviertel von Helsinki. Gusten, dessen Mutter Opernsängerin ist und viel auf Tour gehen muss, wächst praktisch in der reichen Familie seines Freundes Nathan auf, wo er „wie ein Sohn“ behandelt wird. Doch als Nathan seine Freundin Sascha – nachdem sie ihn verlassen hatte – im schalldichten Keller des großen Hauses einsperrt und vergewaltigt, ist es Gusten, der sogar gegen den Wunsch des Opfers zur Polizei geht. Obwohl er ebenso wie zwei weitere Freunde Sascha auch vergewaltigt hatte. Der Prozess bringt die geschönte Welt des Villenviertels ins Wanken. Dabei werden die „schrecklichen Vier“, oder „Boys“, wie die Zeitungen sie nennen, freigesprochen, nur Nathan bekommt eine bedingte Verurteilung. Zusätzlich sozialen Sprengstoff bringt die Tatsache, dass Sascha im berüchtigten Mädchenheim Grawellska aufgewachsen ist, also ganz unten in der gesellschaftlichen Hackordnung steht und Nathans Familie viel zahlt, um Saschas Familie ruhigzustellen. Wenige Jahre später stirbt Sascha, die eine Karriere als Schwimmerin vor sich hatte, an einer Überdosis.

Gusten wird hingegen erfolgreicher Immobilienmakler, sein Verhältnis zu Frauen ist freilich gestört. Seine Liebe Emmy stalkt er auch nach dem Ende der Beziehung und er tröstet sich ausgerechnet mit Emmys weitaus klügeren Freundin Saga-Lill. Alles verkorkst irgendwie. Die Karriere von Nathans Mutter als Chefin eines neoliberalen Thinktanks ist nach dem Skandal in der Familie ebenfalls dahin – sie stirbt wenig später an einer Krebserkrankung.

Das schreckliche Geschehen packt Fagerholm allerdings in eine scheinbar ironisch-harmlose Sprache mit vielen Wiederholungen der Schlüsselsätze – auch in Versalien oder in kursiv. Sie breitet einen wahren Sprachklangteppich über die Katastrophe aus. Der Titel des Romans geht auf den Titel des Filmes zurück, den ein jüngerer Schulkollege über die Ereignisse zu drehen plant. Und der bezieht sich wiederum auf den Song der Sex Pistols „Who Killed Bambi“ Ende der 70er-Jahre.

Der Roman hat auch eine prominente Übersetzerin, nämlich Antje Rávik Strubel. Ihr Roman „Blaue Frau“ wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2021 ausgezeichnet. 


Die finnisch-schwedische Autorin Monika Fagerholm ist in Skandinavien ein Literaturstar, hierzulande ist sie noch zu entdecken.

Monika Fagerholm: Wer hat Bambi getötet?
Übersetzt aus dem Finnischen von Antje Rávik Strubel
Residenz Verlag
256 Seiten
€ 25,–

Die Stärke der vorrevolutionären russischen Literatur besteht darin, dass sie uns ein gnadenlos vielschichtiges Bild einer erstarrten Klassengesellschaft präsentiert.

Johan Simons bringt Dostojewskis Roman „Die Dämonen“ ans Burgtheater

Die Stärke der vorrevolutionären russischen Literatur besteht darin, dass sie uns ein gnadenlos vielschichtiges Bild einer erstarrten Klassengesellschaft präsentiert. Die Mittellosen leben im Elend, die Reichen langweilen sich und die wenigen, die eine Veränderung wollen agieren brutal und kompromisslos. Sozialer Aufstieg findet nicht statt, denn durch Arbeit lässt sich nicht einmal der bescheidenste Wohlstand schaffen – die Besitzenden geben ihren Reichtum an Ihresgleichen weiter. Das ist auch für uns heute wieder spannend und relevant, weil wir uns offensichtlich unaufhaltsam wieder zu einer derartigen Gesellschaft hinbewegen.

Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821–1881) kannte seine Zeitgenossen allzu gut, bekanntlich landete er ja auch für Jahre im Straflager. In seinem fast 1000 Seiten starken Roman „Die Dämonen“ (zuletzt von Swetlana Geier in „Böse Geister“ übersetzt) lässt er von einem Erzähler zig Figuren auftreten, die die Brüchigkeit der russischen Gesellschaft offenlegen. Wie sich jetzt im Burgtheater wieder herausstellt, ist eine Adaption für die Bühne nur schwer machbar. Die Theaterfassung von Sebastian Huber (auf der Basis von Swetlana Geiers Übersetzung) bringt 11 Personen, die sich auf einem Gutshof in der Nähe von St. Petersburg versammeln, um ausgiebig zu schwadronieren. Man wartet auf den verlorenen Sohn Nikolaj Stawrogin (Nicholas Ofczarek), der einige Jahre mit Reisen durch Europa verbrachte. So nebenbei berichtet er zurückgekehrt, dass er in der Hauptstadt eine arme Minderjährige vergewaltigte, die sich danach das Leben nahm. Ein allzu schmerzhafter Hinweis darauf, wie wenig ein Menschenleben damals zählte. Quasi aus Sühne heiratete er die mittellose, hinkende Marja Lebjadkina (Sarah Viktoria Frick) – was den Heiratsplänen seiner Mutter natürlich im Wege steht. Die furchtlose, Reitgerbe-schwingende, reiche Lisa Tuschina (Birgit Minichmayr) wäre für ihn vorgesehen. In gut 4 Stunden (mit Pause) erleben wir viele Monologe und kaum Dialoge. Die mit Sessel– und Tischgruppen bestückte Bühne mit goldenem Hintergrund (Bühne: Nadja Sofie Eller) bildet dazu den Resonanzraum. Die merkwürdigen, weiten, bunten Hosen (Kostümbild von Greta Goiris) kontrastiert dazu. Am Ende zeigt sich Pjotr Werchowenski (Jan Bülow) im gelben Nazimantel als mordender Bote der grausamen Zukunft. Das exquisite und bemühte Ensemble kann freilich niemals vergessen lassen, dass uns hier Prosa für Drama verkauft wird.


Infos: burgtheater.at

Thomas Bernhards „Ritter, Dene, Voss“ in der Josefstadt

Dass Thomas Bernhard seine Wunschbesetzung 1986 zum Titel seines Stücks machte war zwar ein gelungener Marketinggag – die Peymann-Inszenierung mit Gert Voss, Kirsten Dene und Ilse Ritter war jahrelang am Burgtheater erfolgreich – doch nicht eben eine Ermunterung, das Drama mit anderen Schauspielern aufzuführen. Dabei ist „Ritter, Dene, Voss“ ein typischer Bernhard mit wenig Handlung und viel sprachlicher Bosheit. Es geht um drei Geschwister – der Bruder Ludwig, der sich für einen bedeutenden Philosophen hält, wurde gerade von seiner ältere Schwester aus Steinhof in die Villa in Döbling zurückgeholt. Jetzt bereitet sie mit viel Aufwand ein Abendessen vor, was die jüngere Schwester spöttisch kommentiert. Beide sind Schauspielerinnen im Theater in der Josefstadt, wo sie sich ihre Rollen aussuchen können, da ihnen der verstorbene Vater und Industrielle eine 51 Prozent Mehrheit sichern konnte. Das erzeugt natürlich Gelächter bei der Premiere in der Josefstadt, wo Peter Wittenberg eine Neuinterpretation  von „Ritter, Dene, Voss“ wagt.

Gespielt wird sozusagen im Museum – am Ende bittet eine Ansage über Lautsprecher alle Besucher das Haus zu verlassen. An den Wänden hängen große Gemälde von Gert Voss, Kirsten Dene und Ilse Ritter, die an diesem Abend allerdings für die Eltern der Geschwister stehen. Wittenberg setzt sonst allerdings keineswegs auf schnelle Gags – seine Inszenierung lässt sich Zeit, gerade im ersten Teil schaffen Sandra Cervik als ältere und Maria Köstinger als jüngere Schwester sozusagen einen meditativen Rahmen, in dem sich ihre unterschiedlichen Charaktere aneinander reiben können. Das mag für manche langweilig wirken, genauen Beobachtern wird der in ihnen steckende Irrsinn allerdings nicht verborgen bleiben. In Ludwig hat Bernhard viel aus der Biografie Ludwig Wittgensteins verpackt, wenngleich er seine Figur naturgemäß scheitern lässt. Bernhards Ludwig schreibt und schreibt und kann nichts veröffentlichen, während Wittgenstein bekanntlich schon in jungen Jahren mit seinem „Tractatus“ berühmt wurde.

Johannes Krisch spielt den Ludwig maximal unbeherrscht – bei der durch Voss berühmt gewordenen Branndteigkrapfenszene übergibt er sich fast. Ansonsten ist aber auch er durch den Regisseur zur Genauigkeit angehalten. Dabei geht viel Geschirr zu Bruch und die Gemälde werden oft umgehängt. Man glaubt ihm schließlich, dass er in Steinhof glücklicher wäre. Und die Schwestern? Sie sind zwar nicht geisteskrank, aber in ihren Routinen nicht weniger gefangen als Ludwig. Ein nachdenklicher Abend in der Josefstadt.


Infos: josefstadt.org

Cormac McCarthy mit gleich 2 neuen Romanen

Der 89-jährige Cormac McCarthy ist einer der letzten lebenden ganz Großen der US-amerikanischen Literatur. Mit „No Country for Old Men“, das von den Coen Brothers verfilmt wurde, gelang ihm ein Bestseller. Auch „Die Straße“ war ein Riesenerfolg und wurde verfilmt. 16 Jahre erschien nun nichts Neues von ihm, aber jetzt legt der öffentlichkeitsscheue Autor, der nördlich von Santa Fe lebt und am dortigen Institut für Physik mitarbeitet, gleich zwei Romane vor, die freilich zusammengehören.

In „Der Passagier“ geht es um Bobby Western, der sich nach einer spektakulären Rennfahrerkarriere, die ihm fast das Leben kostete, in den 80er-Jahren als Bergungstaucher in New Orleans arbeitet. Im Vorspann findet ein Jäger im Wald eine erhängte junge Frau – es ist Bobbys Schwester Alicia mit der ihm eine möglicherweise inzestuöse Liebe verband. Im Roman wechseln Kapitel über Bobby und Alicia ab, wobei jene über die Schwester insofern phantastisch anmuten, als Alicia von Zwergen heimgesucht wird, die ihr Stücke vorspielen und die mit ihr reden. Anführer ist ein Contergan-geschädigter Zwerg, der Flossen statt Hände besitzt. Beide Geschwister sind hochbegabt, besonders Alicia, die schon als Studentin mit der Weltspitze der Mathematiker diskutierte und die ihr Geigenstudium nur deshalb nicht zur Vollendung brachte, weil sie keine Zeit zum Üben hatte.

Bobby Western bekommt Probleme mit Unbekannten, nachdem er bei einem Tauchgang ein unversehrtes Flugzeug am Grund des Meeres entdeckt – laut Passagierliste fehlt aber ein Toter und die Blackbox ist ebenfalls nicht auffindbar. Nach und nach verschwinden seine Besitzungen wie ein Kater und sein Bankkonto wird gesperrt. Anscheinend glaubt man – das FBI? – dass er nicht alles sagt, was er beim Tauchgang gesehen hat. Dazu steht kein Wort über einen Flugzeugabsturz in den Zeitungen und sein Kollege verunglückt kurz darauf tödlich.

Aus diesem Kriminalfall werden Leser aber bis zum Schluss genauso wenig schlau wie Bobby, der sich nach und nach zu verstecken beginnt. Am Ende lebt er in einer Mühle auf einer Nachbarinsel von Ibiza. Was den Roman ausmacht sind aber weniger die losen Handlungsstränge als die Spiegelungen von Bobbys Gedanken und Empfindungen. Er hat den Selbstmord seiner Schwester nie verwunden, echte Freunde hat er keine, wohl aber einige seltsame Bekannte wie einen Dieb und einen Transvestiten. „Der Passagier“ erinnert stark an die frühen Romane von Thomas Pynchon wie „V.“ oder „Die Enden der Parabel“, in denen die Handlung verschlungen und nicht so wichtig ist.

„Stella Maris“ erschien kurz nach „Der Passagier“, spielt aber vorher, im Herbst 1972. Transkribiert lesen sich darin die Gespräche zwischen Alicia und ihrem Psychiater in der Heil- und Pflegeanstalt „Stella Maris“ in Wisconsin. Alicia hatte sich selbst eingewiesen. In den Dialogen wirkt sie freilich keineswegs verrückt, sondern eher übergenau in ihren Antworten. Der Psychiater will natürlich herausfinden, warum Alicia von Zwergen besucht wird, und fragt immer wieder nach ihrer Familiengeschichte. Ihr Vater war ein berühmter Physiker und Mitarbeiter Oppenheimers am Manhattan Project, also der Entwicklung der ersten Atombombe in Los Alamos. Alicia spricht ihn freilich von jeder Schuld frei, wenngleich sie die Atombombe als wichtigste Ereignis der Menschheit ansieht. Am liebsten berichtet Alicia freilich von mathematischen Problemstellungen – Gödel, Hilbert, Neumann aber auch Wittgenstein, Kant und Plato werden eifrig rezipiert. Wer damit nichts anfangen kann oder verzweifelt nach einer Handlung sucht, wird mit diesem Roman nicht glücklich werden. Die Dialoge sind aber bei einiger Sachkenntnis recht witzig und lesen sich auch flüssig. Ein Doppeldecker-Werk für Menschen, die formale Experimente nicht scheuen.


Der 89jährige Cormac McCarthy ist einer der letzten lebenden ganz Großen der amerikanischen Literatur. Seine zwei neuen Romane.

Cormac McCarthy: „Stella Maris“
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Rowohlt Verlag
240 Seiten
24,70 Euro

Der 89jährige Cormac McCarthy ist einer der letzten lebenden ganz Großen der amerikanischen Literatur. Seine zwei neuen Romane.

Cormac McCarthy: „Der Passagier“
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Rowohlt Verlag
526 Seiten
28,80 Euro