Vor wenigen Jahren wäre jemand, der behauptete, seine Vorfahren hätten ihm bestimmte Gefühlsmuster genetisch vererbt, als „Querdenker“ und Spinner lächerlich gemacht worden.

Vererbte Wut – Alex Schulman schreibt sich in „Verbrenn all meine Briefe“ von der toxischen Beziehung seiner Großeltern

Vor wenigen Jahren wäre jemand, der behauptete, seine Vorfahren hätten ihm bestimmte Gefühlsmuster genetisch vererbt, als „Querdenker“ und Spinner lächerlich gemacht worden. Inzwischen weiß die Wissenschaft, dass traumatische Erlebnisse durchaus über Generationen weitergegeben werden können – die neu geschaffene Epigenetik untersucht diese Weitergabe erworbener Information ohne Veränderung der DNA-Sequenz.

Der Roman „Verbrenn all meine Briefe“ des Schweden Alex Schulman ist quasi angewandte Epigenetik – Schulmann erzählt nämlich, wie er in seiner Familie ohne es zu wollen und ohne gar handgreiflich zu werden, Angst und Schrecken verbreitet. Er spürt leider allzu oft eine unbestimmte Wut in sich. Da stößt er auf die Geschichte seiner Großeltern: Sein Opa war der in Schweden noch immer bekannte Schriftsteller Sven Stolpe – „ein wandelnder Mythos“ wie es im Buch heißt. Stolpe hat zahlreiche Romane und Essays veröffentlicht, sich aber mit fast allen Kollegen unversöhnlich zerkriegte. Doch das meiste seiner Wut bekam Großmutter ab, die ihn bis zu seinem Tod ohne aufzumucksen pflegte. Dabei war Karin zu Beginn ihrer Beziehung die weitaus klügere und gebildetere gewesen. Nur einmal brachte sie die Kraft auf, sich vom ihm zu trennen nachdem sie sich in einen Kollegen verliebt hatte, der später ebenfalls ein berühmter Schriftsteller wurde. In dem sanften Olof Lagercrantz sah Karin all das, was vor ihrer Horrorehe mit dem seine Tuberkulosekranke geschickt nützenden Sven möglich in ihr gesteckt hatte.

Der Roman schildert auch mittels aufgestöberter Tagebuchaufzeichnungen und Briefe diese Liebesbeziehung, diesen Ausbruchsversuch. Schulmann zeichnet auch seine Recherche nach, aber er tut dies sehr geschickt und in einer gut lesbaren Sprache. Außerdem kann er sich auch noch gut an seine eigenen Begegnungen mit dem strengen Großvater erinnern, der es nicht duldete, wenn in seiner Gegenwart geweint wurde. Und so wird „Verbrenn all meine Briefe“ zu einem genauen Bild einer toxischen Beziehung. Durch Karins „Verfehlung“, ihren „Betrug“ hat Sven sie noch besser in der Hand, sie wird zur Dulderin der Launen eines Mannes, der „70 Jahre auf dem Krankenbett liegt“. Wenn jetzt jemand behauptet, so etwas gäbe es heute nicht mehr, muss man ihm wohl widersprechen. Schulmans Roman legt Abhängigkeiten bloß, die in anderer Form sicher auch noch heute in Beziehungen herrschen können.


Vor wenigen Jahren wäre jemand, der behauptete, seine Vorfahren hätten ihm bestimmte Gefühlsmuster genetisch vererbt, als „Querdenker“ und Spinner lächerlich gemacht worden.

Alex Schulman: Verbrenn all meine Briefe
Aus dem Schwedischen von Hanna Granz
dtv
304 Seiten
€ 23,70