Drei begabte Frauen in der Provinz – Silvia Pistotnigs Familienroman „Die Wirtinnen“

Großmutter Johanna, Mutter Marianne und Tochter Gertrud, gesehen von 1936 bis heute – und alle drei Frauen haben ein großes Talent, das ihnen nicht gegönnt ist, zur Entfaltung zu bringen. Zumal auf dem Land in Kärnten, wo es in der Großfamilie früher sowieso nur ums Überleben gegangen ist. Johannas unglaubliches Geschick für das Orgelspiel verkümmert ebenso wie Mariannes traumwandlerisches Gespür für Zahlen und Mathematik. Und selbst für Gertruds Balltalent ist in den 80er-Jahren noch lange kein Platz. Mädchen gehören am Fußballplatz bestenfalls auf die Tribüne, Frauenfußball ist so interessant wie ein Hockey-Match in Aserbaidschan.

Silvia Pistotnig beweist in ihrem bereits vierten Roman „Die Wirtinnen“ Mut zur großen Geschichte quer durch die heimische Historie. Aufgewachsen in Kärnten lebt sie schon lange in Wien, ihr dritter Roman „Teresa hört auf“ erhielt sehr gute Kritiken – zwischenzeitlich arbeitete sie auch als Redakteurin für „Wien live“. „Die Wirtinnen“ wird in jeweils abwechselnden Kapiteln und bisweilen zwischen den Zeiten springend aus der Perspektive von Johanna, Gertrud und Marianne geschildert – die Jüngste spricht sogar als Ich zu uns. Wir erleben das harte Leben auf dem Land vor dem Krieg – besonders natürlich als fast rechteloses Mädchen. Eine Vergewaltigung – zumal vom eigenen Schwager – ist eine lässliche Sünde, schlimm ist nur, wenn frau keinen Mann abbekommt. Und so feiert Johanna erst spät Hochzeit und hat dann auch gleich ein Wirtshaus zu übernehmen, denn die Männer müssen ja in den Krieg. Als der Gemahl schließlich zurückkommt ist er gebrochen und wird zum Alkoholiker. Das Gasthaus ist für Johanna und später für Marianne niemals Berufung, sondern immer nur Pflicht. Teenager Gertrud findet es sowieso urpeinlich und unbequem. Geschickt hat Pistotnig auch Zeitgeschichte wie die Verbrechen der Nazis in den Roman eingebracht. Einer der Brüder Johannas ist geistig behindert und wird von allen kärntnerisch „Tschoppale“ genannt. Ein Schwager ist SS-Mann, aber auch er kann oder will das – eigentlich von allen geliebte – Kind nicht vor der Euthanasie retten. Jede Familie hat so ihre ganz dunklen Flecken.

Quasi im Zentrum des Romans erleben wir allerdings das Scheitern von Mariannes Ehe in den 90er-Jahren. Ihr Erwin fühlt sich vernachlässigt, weil sie auch nachdem die Kinder Gertrud und Thomas schon älter sind, nie Zeit für ihn hat, sondern andauernd im Gasthaus arbeitet. Das wirft freilich längst nicht mehr genug ab. Die Geschichte ihrer Trennung hat allerdings eine Pointe. Marianne entdeckt just als Erwin weg ist ihre sexuellen Bedürfnisse, schläft wieder mit ihrem bereits in die Stadt gezogenen Geschiedenen und bekommt mit 40 noch ein Kind, das allerdings wieder ein „Tschoppale“ wird. Im letzten Kapitel besucht dann Gertrud quasi in der Gegenwart das von neuen Eigentümern umgebaute Gasthaus.

„Die Wirtinnen“ ist ein Familienroman aus dem Süden Österreichs, das uns die Schicksale von Frauen im Strudel des Alltags näherbring – und darüber hinaus eine kurzweilige aber sicher nicht anspruchslose Lektüre. Am 19. Mai wird Silvia Pistotnig beim Literaturfestival „Rund um die Burg“ zu erleben sein.


Silvia Pistotnig: Die Wirtinnen
Elster & Salis
358 Seiten
€ 24,70

Die Männer auf den Bohrinseln – Tabitha Lasleys „Seegang“

Wie geht es Männern, die wochenlang keine Frauen um sich haben und auch sonst völlig abgeschieden leben müssen? Das fragt sich die Journalistin, Autorin und Ich-Erzählerin in Tabitha Lasleys „Seegang“. Sie verlässt – nachdem ein Romanmanuskript einem Einbruch zum Opfer gefallen ist – ihren Freund, um im schottischen Aberdeen Interviews mit Erdölplattformarbeitern zu führen. Gleich mit dem ersten Interviewpartner geht sie eine Beziehung ein, obwohl der natürlich wie fast alle Offshore-Arbeiter verheiratet ist. Wie sie das Ende der seltsamen Liebe verarbeitet und wie die Stimmung in einer nur durch die Erdölindustrie reich gewordenen Stadt funktioniert – davon handelt dieses Buch, das sich nicht so richtig als Roman titulieren lässt.

Die harte und gefährliche Arbeit auf den Plattformen war lange Zeit noch die einzige Möglichkeit für die Arbeiterklasse in Großbritannien, ein Zipfelchen vom Wohlstand zu erreichen. Mit dem Verfall des Ölpreises sowie der Konkurrenz billiger, rechteloser Arbeitskräfte aus Rumänien stellt sich die Situation heute wieder anders dar. Lasley führte mehr als hundert Interviews in denen sich ihr meist ein ähnliches Bild zeigte. Die Männer, die meist nach drei Wochen Heimurlaub bekommen, wirken völlig entwurzelt und können zu Hause kaum noch Tritt fassen. Der Alkohol – den es auf den Bohrinseln natürlich nicht gibt – beherrscht in Aberdeen den Alltag, man will nachholen, was man versäumt hat. Kaum einer kann sein Familienleben aufrechterhalten.

Die Erzählerin ist mittendrin in dieser seltsamen Gemeinschaft. Da sie ihre Interviewpartner meist in Bars findet, hält sie sich dort öfters auf als ihr guttut. Der unfreundliche Winter von Aberdeen und das schlechte Viertel in dem sie wohnt tun ein Übriges. Am Ende arbeitet sie in einem Schnellimbiss in einer trostlosen Nachbarschaft.

Tabitha Lasleys „Seegang“ ist ein Buch über die Situation der britischen Gesellschaft, man bekommt als Leser auch ein Gefühl dafür, warum der Brexit wohl kein Betriebsunfall der Politik des Landes war.


Tabitha Lasley: Seegang
Aus dem Englischen von Tanja Handels
Luchterhand Verlag
320 Seiten
€ 22,70

Yasmin Rezas „Serge“ Akademietheater

Bild: ©Matthias Horn

Yasmina Reza ist eine der wenigen Autorinnen, die Stücke schreiben, die für Theaterhits gut sind. „Kunst“, „Drei Mal Leben“ oder „Der Gott des Gemetzels“ – letzteres wurde sogar von Roman Polanski erfolgreich verfilmt – sind längst Dauerbrenner auf den Bühnen. Im Akademietheater spielt man jetzt allerdings ihren im Vorjahr erschienenen Roman „Serge“ in einer von Lily Sykes und Andreas Karlaganis hergestellten Bühnenfassung. Und so darf man sich auch nicht wundern, wenn der von Michael Maertens gespielte Jude Jean gleich zu Beginn spricht, obwohl er allein auf der Bühne ist.

Er ist der Erzähler der Geschichte über sich und seinem Bruder Serge (Roland Koch) und seiner Schwester Nana (Alexandra Henkel). Serges Tochter Joséphine (Lilith Häßle) will nach dem Tod ihrer Großmutter nach Auschwitz fahren, denn alle sind ja Nachkommen von Überlebenden der Shoah. Der nicht unproblematische Trip gerät natürlich zur Familienaufstellung. Im Fokus steht – wie im Titel ja schon angedeutet – Serge, dem gerade seine Frau – längst müde von seinen Seitensprüngen – abhandengekommen ist. Er ist der dominantere der beiden Brüder, Jean ist die Duldernatur – er ist emotional nur an den halbwüchsigen Sohn seiner Freundin gebunden. Auch er hat natürlich eine gescheiterte Ehe hinter sich.

In den knapp zweistündigen Abend gibt es viel Emotion zu erleben, eingebettet in jüdischem Humor reiben sich die Figuren aneinander oder schwelgen in Kindheitserinnerungen. Das ergibt in der Regie von Lily Sykes und vor allem durch die Kunst der eingesetzten Schauspielerinnen und Schauspieler – Martin Schwab gibt einen sterbenden Onkel – einen interessanten, kurzweiligen Theaterabend. Wirklich viel haften bleibt aber nicht. Yasmina Reza hat für diesen Stoff sicher nicht zufällig die Romanform gewählt, denn in einem Buch lassen sich einfach besser Stimmungen und Befindlichkeiten unterbringen.

Info: burgtheater.at

Was tun mit den Bergen? – Elfriede Jelineks „In den Alpen“ & Fiston Mwanza Mujilas „Après les Alpes“ im Volkstheater

Bild: ©Marcel Urlaub

Die Berge stellen sozusagen den Battleground der österreichischen Identität dar. Nicht zufällig beginnt ja auch unsere Bundeshymne mit „Land der Berge…“. Und mit Sesselliftbetreibern und Schiverband-Chefs legt man sich besser nicht an, will man hierzulande politisch überleben, –  wie die Pandemie wieder eindrucksvoll gezeigt hat. Als im Jahr 2000 155 Menschen in einer Gletscherbahn in Kaprun hilflos verbrannten, war nachher niemand schuld – es gab nur Freisprüche. Elfriede Jelinek verarbeitete die Katastrophe in ihrem 2002 uraufgeführten Stück „In den Alpen“. Das Volkstheater spielt dieses jetzt mit Fiston Mwanza Mujilas „Après les Alpes“ – einem Auftragswerk des Theaters – an einem Abend. Claudia Bossard hat die beiden schwer zu fassenden Stücke inszeniert.

Jelinek lässt dabei die Toten auftreten und Klage führen. Das Grauen wird mittels eines Kindes und eines Schilehrers ausgebreitet. Hinter einer Glaswand schwebt ein um sich selbst kreisenden riesiger Meteor – eine täuschend echte Projektion. Natürlich steht der Massentourismus am Pranger und die „gute“ österreichische Tradition der Leugnung von Verantwortung. Schuld hatte nur ein kleiner Heizstrahler, der laut Bedienungsanleitung gar nicht hätte eingebaut werden dürfen.

Fast nahtlos geht Jelineks Stück dann in die Uraufführung von Fiston Mwanza Mujilas „Après les Alpes“ über – es gibt keine Pause, lediglich die Bühnenarbeiter tragen immer mehr Teile der Kulisse weg. Fiston Mwanza Mujila ist gebürtiger Kongolese, lebt und arbeitet aber schon seit 2009 in Graz. Im Zentrum seines Textes steht die Umwandlung der Alpen in ein Bergbaugebiet – denn der Tourismus ist aufgrund des Schneemangels schon längst perdu. Warum sollen nur im „globalen Süden“ Kinder im Bergwerk schuften? Julia Franz Richter spielt in barocker Robe die exaltierte Frau Gartner mit ihren kruden Nachnutzungsphantasien. Daneben agieren Anna Rieser, Uwe Rohbeck, Christoph Schüchner und Stefan Suske engagiert spielend auf der Bühne. Nick Romeo Reimann setzt eine eindrucksvolle Schlusspointe, indem er aus großer Höhe immer wieder von einer Flugzeugtreppe auf dicke Matten springt.

Ob dieser nicht leicht konsumierbare Abend Publikum anlocken kann, wird sich zeigen.


Infos & Karten: volkstheater.at

Liebende Männer & Väter – Bernardine Evaristos Roman „Mr. Loverman“

Seit dem Booker-Preis 2019 für „Girl, Woman, Other“ ist die britische Schriftstellerin Bernardine Evaristo ein Literaturstar. Jetzt bringt der Tropen-Verlag ihren bereits 2013 erschienenen Roman über einen aus der Karibik stammenden Mann, der seine Homosexualität fast sein ganzes Leben in einer Ehe versteckt hat, heraus. Denn in seiner Community ist gay noch immer ein schlimmes Schimpfwort und geoutete Männer persona non grata – auch wenn längst alle Bekannten in London leben. Der gutaussehende Barrington Jedidiah Walker ist zu Beginn der Geschichte schon im Pensionsalter. Durch kluge Immo-Geschäfte reich geworden, könnte er mit seiner Frau Carmel den Ruhestand genießen, denn die beiden Töchter sind längst außer Haus. Doch Carmel ist furchtbar eifersüchtig und unterstellt ihm – natürlich völlig grundlos – Frauenbekanntschaften, während er längst ein Doppelleben mit seinem Lebensfreund Mike, den er bereits seit Kindertagen in der Karibik kennt, führt. Mike wurde von seiner Frau in flagranti erwischt und ist daher längst solo. Auch er hatte aus Gründen der Tarnung geheiratet. Die Spannung erhält der Roman dadurch, dass Barrington jetzt Mike verspricht, sich von Carmel zu trennen und mit ihm zusammenzuleben. Doch gerade jetzt stirbt Carmels Vater, ein ehemals furchtbar brutaler Despot und Frauenschläger und sie fliegt zur Beerdigung. Und da muss Barrington auch noch auf seinen halbwüchsigen Neffen aufpassen, weil auch seine Tochter zur Beerdigung anreisen will. Zwischendurch sind aber immer Kapitel in der 2. Person singular zu lesen, die Carmels Position verständlich machen. Sie ist keineswegs nur die ständig keppelnde Hausfrau. Sogar ein Liebhaber taucht auf und man denkt sich als Leser, warum sie sich nicht endlich ausgesprochen haben.

„Mr. Loverman“ ist ein wunderbar lesbarer Roman über den noch immer bestehenden Mangel an Akzeptanz für andere Lebensformen abseits der Mehrheitsgesellschaft. Dabei ist Barrington keineswegs political correct, wie sich in den vielen witzigen Dialogen mit seinem Freund Mike herausstellt. Evaristo schreckt dabei auch nicht vor Schwulenklischees zurück – Barrington und Mike tragen Maßanzüge mit Schnitten aus den 50er-Jahren und machen damit in der Londoner Gesellschaft mächtig Eindruck. Auch sonst genießen sie das Leben in vollen Whiskey-Schlucken. Am Ende kommt es dann mit Carmel dann aber anders als gedacht.


Seit dem Booker-Preis 2019 für „Girl, Woman, Other“ ist die britische Schriftstellerin Bernardine Evaristo ein Literaturstar. Jetzt bringt der Tropen-Verlag ihren bereits 2013 erschienenen Roman über einen aus der Karibik stammenden Mann, der seine Homosexualität fast sein ganzes Leben in einer Ehe versteckt hat, heraus.

Bernardine Evaristo: Mr. Loverman
Aus dem Englischen von Tanja Handels
Tropen Verlag
334 Seiten
€ 24,80

Flucht in die spanische Provinz – Sara Mesas verstörender Roman „Eine Liebe“

Die 1976 in Sevilla geborene Autorin Sara Mesa ist in Spanien eine vielbepreiste Autorin und ihr Roman „Eine Liebe“ wurde zu einem Bestseller. Er beginnt ganz harmlos mit einem Topos – Frau aus der Stadt zieht, wenn nicht flieht sogar aufs Land, um zu sich zu kommen. In einem herabgekommenen, gemieteten Haus will Nat an einer Übersetzung arbeiten, denn über größere Geldmittel verfügt sie nicht. Doch bald schon stellt sich die Provinz als Gegenteil einer Idylle dar: Ihr Vermieter ist ein ungebildetes Schlitzohr, die Dorfbewohner beäugen sie neugierig, ein nicht unsympathischer Nachbar bietet ihr seine Hilfe an, es ist heiß und als es regnet, stellt sich das Dach als undicht heraus.

Und da wird die Geschichte ungewöhnlich. Ein Außenseiter in der Dorfgemeinschaft, der nur „Der Deutsche“ genannt wird, obwohl er eigentlich aus dem Nahen Osten stammt und nur in Deutschland gearbeitet hat, bietet ihr an, das Dach zu reparieren und das Material zu beschaffen. Allerdings erwartet er dafür eine einmalige sexuelle Gegenleistung – er will „in ihr drinnen“ sein. Nat ist erst empört, kommt dann aber zu ihm und als der Deal vorbei ist, besucht sie ihn ganz freiwillig immer wieder. Mehr noch, sie wird anscheinend emotional und sexuell von ihm abhängig. Und das obwohl der nicht wirklich attraktive Mann nicht gerne spricht und sie als Frau mit Luxusproblemen abtut. Sie war nämlich aus Scham aufs Land geflohen, weil sie aus einer Laune heraus im Büro etwas gestohlen hatte. Als der Diebstahl entdeckt wurde, kam sie zwar mit einer Ermahnung davon, fand aber nicht mehr so recht in ihre Spur.

Als der Deutsche, der in Wirklichkeit ein studierter Ingenieur ist und nur zur Überbrückung als Gemüseerzeuger arbeitete, schließlich mit ihr Schluss macht, ist sie verzweifelt und beginnt sogar ihn zu stalken. Dazu beißt ihr Hund, den sie nur schwer zähmen konnte und den sie doch lieben zu lieben gelernt hatte, dem Kind der Nachbarin ins Gesicht. Er wird von den aufgebrachten Dorfbewohnern erschossen. Doch Mesa lässt die Geschichte ohne weitere Katastrophe ausklingen – Nat zieht einfach ein Dorf weiter weg.

„Eine Liebe“ ist ein verstörender Roman, denn in der aktuellen Prosa sind wir zwar gewohnt, Männern mit all ihren Schwächen und Defiziten zu erleben, während wir für Frauen eher Gründe beschrieben finden, warum sie – wenn sie sich nicht doch noch die Initiative ergreifen – scheitern müssen. Mesa erzählt dabei sehr nüchtern, was diese seltsame Liebe nur noch rätselhafter erscheinen lässt. Wahrscheinlich lohnt sich gerade deswegen die Lektüre.


Die 1976 in Sevilla geborene Autorin Sara Mesa ist in Spanien eine vielbepreiste Autorin und ihr Roman „Eine Liebe“ wurde zu einem Bestseller.

Sara Mesa: Eine Liebe
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
Wagenbach
188 Seiten
€ 23,70

Angst vor dem Windows-Man – Bernd Liepold-Mossers sehr freie Interpretation von Johann Nestroys „Höllenangst“ im dastag

Bild: ©Anna Stocher

Was ist denn heute noch real, wenn sich das wirkliche Leben anscheinend im Netz und in den Foren abspielt? Bernd Liepold-Mosser hat für das Theater dastag in der Gumpendorfer Straße Nestroys nach dem Scheitern der Revolution geschriebene Posse „Höllenangst“ ins heute transferiert – wobei vom Ursprungstext nicht viel übriggeblieben ist. Denn die Kämpfe ums Erbe und ums Überleben finden – samt sprachlicher Übertragung ins Netz-Neusprech –jetzt eben in den virtuellen Welten statt. Auf der Bühne befinden sich drei riesige Kugeln, die die Protagonisten bisweilen wie Spielfiguren vor sich herschieben. Es geht dabei um die Intrige eines Böslings, der sich ein Erbe unter den Nagel reißen will und dabei seine Konkurrenten aus dem Weg schaffen muss. Und natürlich ist auch Liebe im Spiel und – ziemlich konstruiert – moderner Aberglaube. Der Teufel wird zum furchterregenden Windows-Man mit Löschbevollmächtigung. Wobei Klassenkampf nicht fehlen darf, schließlich droht der Absturz in die Armut.

Jens Claßen, Georg Schubert, Emanuel Fellmer, Andreas Gaida, Lisa Schrammel und Petra Strasser spielen selbstbewusst ihre Rollen – und schwingen sich, begleitet von Oliver Welter an der E-Gitarre, zu Kärntner Heimatliedern im modernen Textgewand auf. Das ist lustig und unterhaltsam – die Funktion des Kärntner Dialekts erschließt sich in diesem Zusammenhang allerdings nicht. Es bleiben anderthalb Stunden in Ansätzen bissiges Theater mit gesellschaftskritischem Anspruch.


Infos & Karten: dastag.at

„Das flüssige Land“ von Raphaela Edelbauer im Kasino des Burgtheaters

Bild: ©Ruiz-Cruz

Mit ihrem Roman „Das flüssige Land“ über ein fiktives Dorf in Österreich, das in ein Loch zu stürzen droht, wurde die Wienerin Raphaela Edelbauer 2019 in der Literaturszene bekannt. Er stand auf der Shortliste des Deutschen und des Österreichischen Buchpreises. Hintergrund sind die Verbrechen an Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen, die die Nazis – etwa in Rechnitz – verübten und deren Spuren bis heute zum Teil noch unentdeckt in der Erde ruhen.

Die Wiener Theatermacherin Sara Ostertag hat „Das flüssige Land“ jetzt in einer Theaterfassung (mit Jeroen Versteele) auf die Bühne des Burgtheater-Kasinos gebracht. Beherrscht wird der Raum von zwei riesigen Trampoline, in einer Ecke singt und spielt live der Musiker Paul Plut anfangs und zwischendurch Songs – von Volksliedern im Dialekt bis zu David Bowie. Die Protagonistin, eine Physikerin, die ins Dorf kommt, um ihre Eltern zu begraben, sowie diverse Dorfbewohner spielen abwechselnd Suse Lichtenberger, Katharina Pichler und Michele Rohrbach – manchmal rezitieren sie auch, während sie auf dem Trampolin hüpfen. Die Rolle der seltsamen Gräfin im schwarzen Reifrock hat Rainer Galke übernommen.

Nach und nach lernen die Zuschauer die seltsame Welt des Dorfes kennen, in dem die Häuser langsam versinken und man für alles eine Bewilligung braucht. Dass die Besucherin ihre Habilitation über die Blockuniversumstheorie – nach der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft eins sind – schreibt, macht die Geschichte natürlich noch mystischer. Und am Ende ist sowieso nicht klar, ob das Ganze nicht ein durch Psychopharmaka ausgelöster Drogentraum war. Es geht wieder zurück nach Wien.

So erleben wir bei „Das flüssige Land“ einen flüssigen Theaterabend – mit einigen Spannungselementen und Höhepunkten. Dass die Grundstruktur des Textes romanhaft ist, bleibt aber immer präsent. Es wird einfach– trotz des Könnens der Darstellerinnen –­ mehr erzählt als gespielt. Warum zurzeit auf fast allen Theatern Wien so viele Romandramatisierungen zu sehen sind, ist eine Frage, der sich Theatermacher stellen müssten. Das Plus im Kasino: immerhin vermittelt man hier Gegenwartsliteratur.


Infos: burgtheater.at

Russland verstehen – Ljudmila Ulitzkajas Aufzeichnungen „Die Erinnerung nicht vergessen“

Wir wissen leider fast nichts über die Ukraine, und viel zu wenig über Russland. Zwar werden gerade jetzt massenweise Vermutungen über den Geistes- und Gesundheitszustand Putins verlautet, die Geschichte des europäischen Ostens ist freilich für die meisten Europäer noch immer ein Weißer Fleck. Die Aufzeichnungen der 1943 in Moskau geborenen Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja „Die Erinnerung nicht vergessen“ können natürlich nicht Wissenslücken füllen, das Büchlein trägt aber einiges an Verständnis bei – gerade weil es den sehr subjektiven Blick einer russischen Intellektuellen auf ihr Leben beisteuert. Aus einer jüdischen Familie stammend und nach einem Biologiestudium als Laborantin arbeitend verkehrte Ulitzkaja immer in oppositionellen Kreisen. Bis zu Stalins Tod war die Sowjetunion schwer antisemitisch, aber auch danach hatten Juden jede Menge Schwierigkeiten im Alltag. Doch unter der Mangelwirtschaft litten alle. So erzählt Ulitzkaja von Wintermänteln, die Jahre „aufgebaut“ – man sparte also die Einzelteile zusammen – und dann von ganzen Generationen getragen wurden, bis sie schließlich noch in einer Puppentheaterbühne Verwendung fanden. Das einzig Gute in der Sowjetunion war das Erleben von Solidarität unter Freunden – man half sich andauernd gegenseitig aus. Interessant auch die Stellung der orthodoxen Kirche, die damals noch – zumindest teilweise – in Opposition zu den Herrschenden stand, während sie heute bekanntlich voll auf Putins Kriegskurs ist. Ulitzkaja lebt zur Zeit – mit fast 80 Jahren – in Berlin, denn nach dem Überfall auf die Ukraine sah die putinkritische Autorin in Moskau keine Möglichkeiten mehr. Sie notiert: „Der Wahnsinn eines Mannes und seiner ihm ergebenen Handlanger bestimmt das Schicksal des Landes. Wir können nur vermuten, was darüber in fünfzig Jahren in den Geschichtsbüchern stehen wird. Schmerz, Angst und Scham – das sind die Gefühle. Schmerz – weil der Krieg Lebendiges trifft – das Gras und die Bäume, die Tiere und ihre Nachkommen, die Menschen und ihre Kinder.“

Die Eliten hätten allerdings schon vorher Russland verlassen, der Krieg habe diese Bewegung aber verstärkt, erzählt sie. Denn der Totalitarismus begann nicht ohne Vorzeichen. So wurde die nach dem Ende der Sowjetunion einsetzende Aufarbeitung der Verbrechen des Regimes von Putin jäh gestoppt und Archive wieder geschlossen oder deren Finanzierung verhindert.  

Es geht freilich in diesem Buch nicht nur um Politik. Ulitzkaja beschreibt durchaus auch selbstkritisch ihre Ehen und Lieben – viele ihrer Lebensgefährten sind allerdings inzwischen gestorben, ihr Mann – ein Künstler – ist mit ihr nach Berlin gezogen. Sehr lange diskutiert sie mit sich selbst den Begriff der Freiheit – etwas, das die Menschen in Russland bisher kaum erleben durften. Man merkt dem nüchternen Ton durchaus an, dass Ulitzkaja ursprünglich aus der Wissenschaft kam. Die präzisen Unterscheidungen und Abgrenzungen machen „Die Erinnerung nicht vergessen“ zu einem klugen, erhellenden Buch.


Die Aufzeichnungen der 1943 in Moskau geborenen Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja „Die Erinnerung nicht vergessen“ können natürlich nicht Wissenslücken füllen, das Büchlein trägt aber einiges an Verständnis bei.

Ljudmila Ulitzkaja: Die Erinnerung nicht vergessen
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt und Christina Links
Hanser
192 Seiten
€ 23,70

Morsches Gehölz – Bertolt Brechts „Die Kleinbürgerhochzeit“ in den Kammerspielen

Bild: ©Moritz Schell

Am Ende bricht fast alles an Mobiliar zusammen, was der Bräutigam selbst gezimmert hat, sogar der Holzboden ist brüchig. Er hätte wohl nicht beim Leim sparen sollen. Bertolt Brechts Einakter „Die Kleibürgerhochzeit“ ist eines seiner frühesten Dramen, es fehlt noch alles, was sein späteres Schaffen ausmacht. Sich über arme Menschen lustig machen, die krampfhaft den Schein von Bürgerlichkeit wahren wollen, hätte Brecht ohne Verweis auf die „Verhältnisse“ später nicht mehr geduldet. Philip Tiedemann inszenierte das Jugendwerk bereits vor Jahren erfolgreich am Berliner Ensemble, wo es unglaubliche 17 Jahre am Spielplan stand.

In den Kammerspielen der Josefstadt setzt er mit dem bewährten Team des Hauses (André Pohl, Therese Lohner, Katharina Klar, Susanna Wiegand, Alexander Absenger, Markus Kofler, Michaela Klamminger, Roman Schmelzer und Jakob Elsenwenger) auf Slapstick und Situationskomik. Bald schon versinkt ein Hochzeitsgast im berstenden Boden. Durch das erhöhte Bühnenbild sieht man den Fuß sogar im Untergrund stecken. Dazu gibt es langatmige, Appetit vertreibende Familiengeschichten, zotige Lieder und respektslose Tänze. Die Hauptperson ist quasi der schlechte Leim – wo immer die Figuren hinlangen, haben sie ein Stück Mobiliar in der Hand oder brechen Wände und Decken.

Das Premierenpublikum dankte begeistert für die gut 80 Minuten Komik. Vielleicht braucht es ja in Zeiten von mit Aussagen überfrachteter Theaterabende wieder mehr Spaß auf den Bühnen.


INFO
josefstadt.org