In Therapie

Anspruchsvolle TV-Unterhaltung


In Therapie. Die Arte Mediathek lädt zu einer Psychoanalyse nach den Terroranschlägen in Paris 2015 – die momentan anspruchsvollste TV-Unterhaltung.
Text: Helmut Schneider / Foto: ARTE


2005 ging in Israel eine TV-Serie auf Sendung, deren Konzept ebenso einfach wie spannend ist: Die Zuschauer erleben eine halbstündige Therapiesitzung bei einem Analytiker und bekommen dabei eindrucksvoll mit, wie Menschen Probleme, Ängste, Begierden verdrängen und wie das Unbewusste ihr Leben bestimmt. Jede Folge eine Sitzung, nach ein paar Folgen sind wir wieder bei Patient 1 und so weiter. Die Serie „BeTipul“ (deutsch: In Behandlung) wurde zu einem internationalen Erfolg, denn sie ließ sich leicht für jedes Land adaptieren. In den USA hieß sie etwa „In Treatment“, es gibt aber auch eigene Fassungen in den Niederlanden, Serbien, Polen oder in Tschechien. Fast fragt man sich, warum in Österreich, wo bekanntlich die Psychotherapie erfunden wurde, noch niemand an eine Adaption gedacht hat.

Neufassung
Jetzt hat Frankreich die Idee aufgegriffen und dem Ganzen noch einen zusätzlichen Kick verpasst. „En thérapie“ (Hier geht es zum Trailer.) spielt nämlich in Paris unmittelbar nach dem größten Terroranschlag, den die Stadt nach dem 2. Weltkrieg erleiden musste. Kein Franzose wird je vergessen, wo er am 13. November 2015 war, als 130 Menschen getötet und mehr als 500 verletzt wurden – mitten bei einem Sport- oder Kulturevent, im Café oder auf der Straße im Zentrum von Paris. Ein solcher Anschlag lässt niemand kalt, auch wenn er nicht direkt betroffen ist. Und das wird auch bei den Therapiesitzungen schnell klar, in denen es natürlich zuvorderst um Probleme wie Leistungsdruck, Ehekrisen oder männliche und weibliche Rollenzwänge geht. Die Serie ist in Frankreich jedenfalls schon ein Hit. Noch vor dem Fernsehstart hatten dort bereits sechs Millionen Menschen die Serie in der Arte-Mediathek angeklickt, wo bis Sommer jetzt auch bei uns alle 35 Folgen jederzeit online zu sehen sind.

Talent
Die beiden Regisseure Olivier Nakache und Éric Toledano konnten – und das ist auch das Wichtigste bei dieser Art von TV-Show – grandiose Schauspieler verpflichten. Allen voran Frédéric Pierrot als Therapeut Philippe Dayan, der natürlich in allen Folgen zu sehen ist. Ein bisschen erinnert er in seiner professionellen Distanz an Michelle Piccoli. Auch wenn ihm selten aber doch einmal der Kragen platzt, wenn seine Patienten ihre Vorurteile und Neurosen an ihm abzuarbeiten versuchen. Deswegen geht er ja auch wie jeder gute Analytiker zu einer Supervision, nämlich zu einer früheren Kollegin und Freundin, dargestellt von Carole Bouquet, die als 20-Jährige für Buñuel spielte, neben Roger Moore in „James Bond – In tödlicher Mission“ das Bondgirl und viele Jahre lang das Gesicht für Nummer 5 von Chanel war. Zu seinen Patienten gehören so unterschiedliche Charaktere wie die 16-jährige Hochleistungsschwimmerin Camille (Céleste Brunnquell), eine Chirurgin (Mélanie Thierry), die am Abend der Attentate Notdienst hatte, ein Paar (Clémence Poésy und Pio Marmaï), das vor der Frage steht, ob es das zweite Kind abtreiben soll oder nicht und Adel Chibane, Mitglied einer Spezialeinheit der französischen Polizei, der an Panikattacken leidet und sich das natürlich nicht eingestehen will. TV-Unterhaltung ist selten anspruchsvoller.