Martin Schläpfer – der neue Direktor

Tänzer, Choreograf & Philosoph


Gewinnend ehrlich. Leicht hat es sich Martin Schläpfer nie gemacht. Als neuer Direktor möchte er das Wiener Staatsballett international noch bekannter machen.
Text: Ursula Scheidl / Fotos: Ashley Taylor, Tillmann Franzen


Dass das Interview anders als sonst ablaufen würde, darauf war ich vorbereitet: Fiebermessen beim Eingang in die Staatsoper, zweimalige Registrierung, FFP2-Maske aufsetzen, kein Fotograf, viel Abstand – die Sicherheitsmaßnahmen sind enorm! Schließlich geht es doch darum, den Probe- und Spielbetrieb unter keinen Umständen zu gefährden. Martin Schläpfer verspätet sich – um drei (!) Minuten – und entschuldigt sich ausführlich. Pünktlichkeit ist dem gebürtigen Schweizer wichtig. Er ist sehr freundlich, aber kein „Showman“ und lässt sich gerne zu Gedankenspielen verführen. Für seine Antworten nimmt er sich viel Zeit, so viel, dass er beinahe seinen Folgetermin vergisst. Geschwätz ist ihm fremd, was er sagt, muss stimmen, aber nicht immer stimmig sein. Aus einer Appenzeller Bauernfamilie stammend, sollte der jüngste von drei Brüdern entweder Biobauer oder Lehrer werden. Während seiner Schulzeit nahm er Geigenunterricht und erlernte den Eiskunstlauf. Da sah ihn die lokale Ballettlehrerin Marianne Fuchs und überredete ihn 1975, im Alter von fünfzehn Jahren, eine Ballettausbildung zu beginnen. 1977 gewann Schläpfer als bester Schweizer beim Prix de Lausanne ein Stipendium, das ihm ein weiteres Ballettstudium an der Royal Ballet School in London ermöglichte.

Martin Schläpfer ist der neue Direktor des Wiener Staats-balletts. Davor war er 11 Jahre Ballettdirektor und Chefchoreograf an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf und Duisburg, wo er das Ballett komplett neu formierte.

wienlive: Sie haben – gegen den anfänglichen Widerstand Ihrer Eltern – relativ spät mit dem Tanzen angefangen …
MARTIN SCHLÄPFER: Ich war ein Spätzünder und sah im Alter von 15 aus wie elf. Aber ich war völlig begeistert von diesem Ballett, das war für mich einfach alles. Darum habe ich mich wahrscheinlich auch über die Grenzen verausgabt, wurde schlechter in der Schule. In St. Gallen, in der Provinz in den 70er-Jahren war das für meine Eltern sicherlich sehr belastend.

Trotzdem haben Sie international Karriere gemacht. Wie ist Ihnen das gelungen?
SCHLÄPFER: Man muss ab und zu einen Widerstand überwinden, um herauszufinden, was man unbedingt will. Ich hatte auch immer das Glück, wirklich die für mich besten Lehrer zu haben. Und auch nicht angepasste Künstler, die mich ein Stück weit unterstützt haben.

Man sagt Ihnen nach, dass Sie ein wenig störrisch und eigensinnig waren, sind Sie es noch?
SCHLÄPFER: Ja, ich denke schon, aber weniger emotional, sondern mehr der Tanzkunst wegen, die man durchaus ab und an zu verteidigen hat. Ein wenig hat das auch mit meiner bäuerlichen Erziehung zu tun, dass man sich nur bis zu einem gewissen Punkt dreinreden lässt. Aber ich hoffe, dass ich heute durchaus auch zur Diplomatie fähig bin.

Warum haben Sie bereits mit 27 aufgehört zu tanzen?
SCHLÄPFER: Ich war beim Basler Ballett künstlerisch verloren und habe intuitiv gemerkt, dass ich einen Wechsel brauche. Ich war ein sehr scheuer und gleichzeitig sehr kraftvoller Mensch, aber ich spürte, dass ich als Persönlichkeit etwas auffüllen muss und nicht immer anecken kann.

Tut es Ihnen leid, das Tanzen so früh aufgegeben zu haben?
SCHLÄPFER: Nein, weil ich heute nicht dort wäre ohne diesen Schnitt, aber natürlich tut es mir weh. Ich war hochbegabt und hätte eine Weltkarriere machen können, aber ich habe die Entscheidung selber zu verantworten.

In Bern haben Sie als Choreograf begonnen. Was braucht ein guter Choreograf?
SCHLÄPFER: Eine sehr starke Verbindung zu sich selber und zu den Dingen, die einem wichtig sind. Die Stücke können schön aussehen, aber ein Stück braucht eine Handschrift. Im besten Falle kommt man mit den Jahren zu einem unaustauschbaren Look. Vorbilder in dem Sinne habe ich nie gehabt, aber ich brauche Lehrer, jemanden wie Hans van Manen, den ich sehr respektiere. Aber ich bin nie jemand gewesen, der ihnen nacheifert, deshalb hat es so lange gedauert. Ich brauchte etwa zehn Jahre, um ein bisschen besser als der Durchschnitt zu sein. Denn ich möchte nicht öffentlich arbeiten und mittelmäßig sein, ich glaube, dann muss man es lassen.

Sie waren in Düsseldorf sehr erfolgreich. Warum sind Sie nach Wien gekommen?
SCHLÄPFER: Als ich das erste Mal gefragt wurde, war ich zu jung. Jetzt hatte ich eigentlich auch einen anderen Lebensplan und wollte zurückschalten. Nach drei intensiven Gesprächen hat mich Bogdan Roščić überzeugt. Ich spüre, dass ich von dem Mann intellektuell lernen kann.

Was zeichnet das Wiener Staatsballett aus?
SCHLÄPFER: Manuel Legris hat eine tolle Compagnie mit virtuosen Tänzern aufgebaut. Ich wusste ja nicht, was auf mich zukommt. Im Moment ist die Energie einfach wunderschön, wir sind sehr schnell zusammengekommen. Natürlich gibt’s da Platz nach oben, aber alle arbeiten gerne, es gibt kein Beamtentum hier. Ich bin fordernd, aber ein fairer Typ, der gerne persönlich mit den Tänzern arbeitet.

Als erste Premiere haben Sie sich „Live“ und Mahlers Vierte ausgesucht. Warum?
SCHLÄPFER: Über viele Jahre ist die Freundschaft mit Hans van Manen gewachsen. Ich hatte immer zu viel Respekt, ich bin Schweizer und nicht so ein „buddy type“. Aber er hat mir bereitwillig das Stück, das praktisch nirgends zu sehen ist, für Wien gegeben. Dann wollte ich für die erste Vorstellung unbedingt dieses großartige Orchester integrieren. Musik ist beim Tanz sehr wichtig für mich. Mahlers Vierte ist eine der leichteren, spielerischen Symphonien, trotzdem nicht ohne Hinterlist. Dieses Paradies am Schluss ist keines. Die Opulenz einerseits mit mehr als hundert Tänzerinnen und Tänzern auf der Bühne und andererseits dieses grandiose Meisterstück mit einer Tänzerin – mir schien diese Kombination einfach schön. Zudem passt Mahler gut zu Wien: sinnlich und plötzlich wieder so tief-traurig oder fast suizidal.

Was mögen Sie an Wien und woran müssen Sie sich noch gewöhnen?
SCHLÄPFER: Die Stadt ist nicht so gehetzt, nicht so aufgepeitscht. Sie ist eine Metropole, aber sie hat eine Sinnlichkeit. Allerdings muss ich die indirekte, wienerische Mentalität noch ein bisschen erforschen. In der Schweiz überlegen wir uns fünfmal, ob wir überhaupt etwas sagen. In Wien wird unglaublich viel geredet. Ich muss mich bemühen, das zu mögen, aber das ist nichts Schlimmes.

Was möchten Sie nach den ersten fünf Jahren erreicht haben?
SCHLÄPFER: Dass wir als Wiener Staatsballett unentbehrlich wichtig geworden sind. Die erste Premiere wird wegweisend sein, ob ich es geschafft habe, mit dem Publikum zu kommunizieren oder nicht!

Sie sind jetzt fast 61, sind Sie glücklich mit der Person, die Sie geworden sind?
SCHLÄPFER: Ich bin zufrieden, es gibt einiges, das ich für mich persönlich noch gerne hinkriegen würde, aber ob mir das gelingt, wird meine Gesundheit zeigen.