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Die letzten Tage des Weltenkaisers – der ungewöhnliche Historienroman „Reise nach Laredo“ von Arno Geiger

Die letzten Tage des Weltenkaisers – der ungewöhnliche Historienroman „Reise nach Laredo“ von Arno Geiger

Obwohl keine 300 Seiten lang, ist Arno Geigers Roman über das Sterben Kaiser Karls V. im 16. Jahrhundert – das ist jener Habsburger, in dessen Reich niemals die Sonne unterging, wie es so schön heißt – ein Text, auf den man sich einlassen muss. Geiger wirft uns auf den ersten Seiten keine literarischen Häppchen hin, die uns den Sinn dieser Unternehmung gleich verraten würden. Der gichtkranke, fettleibige und hässliche – seine Kinnlade steht immer offen – alte Mann – damals war man mit 58 eben schon wirklich alt – lässt sich von seinen Bediensteten mittels einer eigens dafür konstruierten Apparatur in einen Waschzuber heben, weil er sich selbst nicht mehr waschen kann. Am liebsten dämmert er, betäubt von Laudanum vor sich hin. Er hat abgedankt, die Macht ist nicht mehr bei ihm in diesem spanischen Kloster Yuste, wo er sich mit seinem Beichtvater und einem kleinen Hofstaat zurückgezogen hat. Was will er noch vom Leben ist die Frage, die ihn bewegt, als ihn ein elfjähriger Knabe – ein illegitimer Sohn, der seine Herkunft aber nicht kennt – besucht und er wie zum Scherz mit ihm ausmacht, aus dem Kloster zu fliehen. Man könnte doch den Wallfahrtsort Laredo an der Küste aufsuchen – und das seltsame Abenteuer beginnt.

Geronimo und Karl treffen bald schon auf zwei Ausgestoßene – Cagots – die Geschwister Honzo und Angelita, die gerade furchtbar misshandelt werden, denn jede Gesellschaft hat ihre Minderheiten als Prügelknaben. Mit einer Pistole kann Karl die Angreifer vertreiben und so sind sie bald schon zu viert auf den Weg.

Und es wird zunehmend märchenhafter: Zwischen Yuste und Laredo liegt ein Gebirge und ganz oben die tote Stadt, wo die Reisegesellschaft in einem Wirtshaus einkehrt. Dort wird ein riesiger Greif gehalten – das Fabeltier haust ganz jämmerlich im Keller, während Karl nichts Besseres zu tun hat als zu saufen und sein Geld zu verspielen. Wer denkt da nicht an Goethes Auerbachs Keller? Schließlich müssen sie gar fliehen, wobei Honzo ums Leben kommt – er wollte seine Schwester überreden, im Tausch für den Greif beim widerlichen Wirt zu bleiben, stürzt freilich bei der Greifbefreiung vom Turm. Karl muss da an seine vielen Verwandten denken, die er gegen ihren Willen verheiratet hat. Das Ende wird nach den Abenteuern dann fast idyllisch. Karl schein beim Baden im Meer einen friedlichen Abschied vom Leben zu finden. Jeder Mensch ist ein zurückgetretener König, denkt Karl und wir denken an Geigers wunderbares Buch über seinen alzheimerkranken Vater „Der alte König in seinem Exil“.

„Reise nach Laredo“ ist nicht wirklich ein Historienroman, Geiger nimmt sich aus der Geschichte, was er braucht, um das Elend einst mächtiger Männer nach ihrem Ausscheiden aus den Ämtern zu beschreiben (Frauen tun sich da meist leichter). Das kann man täglich beobachten – nicht nur in der Politik und Wirtschaft. Was bleibt, wenn der Schein verblasst? Geiger spielt geschickt mit literarischen Vorbildern und findet eine Sprache, die dem Stoff angemessen ist. Ja, es zahlt sich aus, wenn man sich auf diesen Roman einlässt.


Arno Geiger: Reise nach Laredo
Hanser
272 Seiten
€ 27,50

Ein Autor sucht nach seiner Herkunft – Kurt Palm: Trockenes Feld

Ein Autor sucht nach seiner Herkunft – Kurt Palm: Trockenes Feld

Kurt Palm kennt man als umtriebigen Regisseur – er machte mit Phettberg etwa die „Nette Leit Show“, Sachbuchautor und erfolgreichen Krimiautor – „Bad Fucking“ wurde auch verfilmt und für seinen ungewöhnlichen Krimi „Der Hai im System“ erhielt er den Leo-Perutz-Preis. Schon lange in Wien Neubau lebend, stammt er aus dem oberösterreichischen Neukirchen an der Vöckla. Seine Eltern waren da aber als Vertriebene lange Zeit staatenlos, sie gehörten einer Minderheit im heutigen Kroatien an und lebten im heute verfallenen Ort Kapan, was damals Slawonien genannt wurde, der größere Ort daneben Suhopolje heißt übersetzt „Trockenes Feld“ – das ist der Titel von Palms Familienbuch. Als die Deutschen Ende des Weltkrieges vor den Partisanen zurückwichen, mussten Pals Verwandte „Heim ins Reich“, kamen aber nur bis Oberösterreich, wo sich Palms Vater als Hilfsarbeiter durchschlagen musste. Der Roman ist jetzt eine Art Spurensuche, denn die meisten Angehörigen und Zeitzeugen sind bereits gestorben. Und nach dem Krieg waren bekanntlich alle daran interessiert, die Jahre der Katastrophen zu vergessen – das Thema war für Nachkommen tabu.

„Trockenes Feld“ ist bestimmt keine Autobiografie, Kurt Palms Werdegang kommt zwar vor, steht aber nicht im Mittelpunkt. Vielmehr fragt sich der Autor, wie seine Eltern die schweren Schicksalsschläge meistern und dabei ihren Kindern eine beste Ausbildung ermöglichen konnten. Vieles aus der Kriegszeit muss dabei im Dunklen bleiben. Palms Vater wurde für die SS Polizei zwangsrekrutiert, hatte aber das Glück, nicht an der Ostfront kämpfen zu müssen. Eine relativ leichte Verwundung rettete ihm wahrscheinlich das Leben. In Kapan wäre er hingegen von den Partisanen ermordet worden. In Österreich tut die Familie alles, um möglichst schnell als Einheimische zu gelten. Bis zum Speiseplan orientiert man sich an den Nachbarn. Das Buch ist auch die Geschichte einer Assimilation von Staatenlosen in Österreich und erzählt viel über die politische Stimmung nach dem verlorenen Krieg.

Eine zentrale Rolle spielt auch die Tragödie von Kurt Palms Bruder Reinhard. Der erfolgreiche Dramaturg und Übersetzer nahm sich 2014 im Alter von 56 Jahren im Wald von Neuwaldegg das Leben – der Selbstmord schien sorgfältig vorbereitet.

„Trockenes Feld“ ist der Versuch, Herkunft aufzuarbeiten. Besonders spannend ist etwa der Besuch des Autors mit seiner Schwester in Kapan, das heute kaum mehr besteht. Sie treffen da auf einen Einheimischen, der ihnen Gräueltaten der Wehrmacht erzählt. Ein wichtiges und interessantes Buch für alle, die an der verdrängten Geschichte Österreichs und Jugoslawiens interessiert sind.


Kurt Palm: Trockenes Feld
Leykam
304 Seiten
€ 25,50

Roman über eine zerbrochene Familie in England – Jahreszeiten

Ein Leben auf dem Lande, Gemüse pflanzen und verkaufen, ein ideales Umfeld für die gerade geborenen Zwillinge Sonny und Max – das erschien Tess und Richard das ideale Dasein. Doch im Süden Englands stört gar vieles das Idyll. Tess, deren Mutter aus Jamaika stammt, wenngleich sie in London aufgewachsen ist und sich als Großstädterin fühlt, ist die einzige Schwarze im Dorf, in dem die Familie von Max tief verwurzelt ist. Und dass die Söhne Zwillinge sind, ziehen manche in Zweifel, denn Sonny ist schwarz, Max weiß.

Fiona Williams lässt alle vier Familienmitglieder erzählen, wenngleich Richard nicht in der auktorialen Form. Und sie verwendet eine blumige Sprache, ergeht sich in Naturschilderungen, die freilich nur den Hintergrund für eine wenig idyllische Geschichte bilden. Denn Sonny ist im Fluss ums Leben gekommen, wobei die Tragödie nur indirekt aufscheint, denn der Ertrunkene spricht weiter und sein Bruder hält auch Zwiesprache mit ihm. Richard kapselt sich vollkommen in sein Gewächshäusern ab und trinkt zu viel während Tess ihre Heimatlosigkeit immer mehr spürt. Ihre Mutter will ihren Lebensabend in Jamaika verbringen, die Schwester rät ihr, Richard zu verlassen.

Die Autorin ist in Südlondon aufgewachsen, hat eine Farm in Australien betrieben, in Singapur gewohnt und lebt mittlerweile mit ihrer Familie in den Somerset Levels, einem Feuchtgebiet im Südwesten Englands. Es gelingt ihr in „Jahreszeiten“ ganz gut, die Stimmungen im Landhaus der Familie zu schildern. Ein bisschen mehr Klarheit hätte dem Werk aber gut getan.


Fiona Williams: Jahreszeiten
Aus dem Englischen von Maria Hummitzsch
S. Fischer
350 Seiten
€ 24,00

Wilde Jahre in L.A. – Eve Babitz: Sex & Rage

Wilde Jahre in L.A. – Eve Babitz: Sex & Rage

Die 2021 verstorbene Eve Babitz ist auf einem der berühmtesten Fotos der Kunstgeschichte zu sehen: 1963 ließ die 20-Jährige sich von Julian Wasser nackt beim Schachspiel mit Marcel Duchamp fotografieren. Der Maler ist natürlich voll angezogen – heute wäre eine solches Setting wohl undenkbar. Aber die Tochter eines Musikers und einer Künstlerin – ihr Patenonkel hieß Igor Strawinski. Sie war in den 60er-Jahren die Verkörperung einer freien Frau, das It-Girl der Hippie-Ära, wenn man so will. Sie schrieb für den »Rolling Stone«, gestaltete Plattencover, und traf Stars wie Harrison Ford, Jim Morrison, Steve Martin oder Frank Zappa und Salvador Dalí. Sie war Künstlerin, begann aber auch schon früh zu schreiben. Vor etwa 10 Jahren wurden ihre Bücher in den USA und dann auch in deutscher Übersetzung wieder aufgelegt. Babitz soll dazu gesagt haben: „Früher mochten mich nur Männer, heute sind es nur die Frauen.“ Der jetzt bei S. Fischer erschienene Roman „Sex & Rage“ aus dem Jahr 1979 erklärt vielleicht warum.

Im Zentrum steht eine junge Frau, die natürlich an die Autorin erinnert. Jacaranda wächst in L.A. auf, genauer dort am Strand, in Santa Monica – der Stadtmoloch ist schon damals eine Aneinanderreihung von Vierteln, die vielfach wie Dörfer funktionieren. Samt Misstrauen den Nachbarn gegenüber. Eine Frau erklärt etwa, sie sei noch nie südlicher als den Huntington Beach gekommen, der selbstverständlich noch zu Los Angeles gehört. Jacaranda ist begeisterte Surferin und Drogenkonsumentin, pflegt diverse Liebschaften und kümmert sich wenig um ein geregeltes Einkommen. Ab und zu bemalt sie Surfboards gegen Barzahlung oder schreibt für Szenemagazine. Die Handlung des Romans ist aber nicht wirklich entscheidend, es geht vielmehr um das Lebensgefühl dieser Zeit. Als Jacaranda plötzlich eine toughe Agentin hat, die sie in einer Bar aufgelesen hat, soll sie nicht nur ein Buch schreiben, sondern zur Promotion desselben nach New York kommen. Das erscheint ihr wie eine Reise zu einem anderen Planeten. Außerdem ist sie bereits schwere Alkoholikerin. Als sie dann tatsächlich ein Flugzeug besteigt ist das gleichzeitig ihr Entzug.

Eve Babitz erzählt witzig aber in einer Mischung aus Selbstbewusstsein und Versagensängsten – womit sie natürlich völlig ihrer Protagonistin entspricht. Ein Roman der sich natürlich besonders für den Sommer empfiehlt.


Eve Babitz: Sex & Rage
Aus dem amerikanischen Englisch von Hanna Hesse
S. Fischer
270 Seiten
€ 24,00

Szenen des US-Alltags – „Der Spielzeug-Sammler“ von James McBride

Szenen des US-Alltags – „Der Spielzeug-Sammler“ von James McBride

Der in einer New Yorker Sozialsiedlung aufgewachsene James McBride ist bei uns nicht so bekannt wie es ihm gebühren würde. Dabei ist er einer der Lieblingsschriftsteller Barack Obamas und schon viele Auszeichnungen erhalten. In seinem Erzählband „Der Spielzeug-Sammler“ stellt er seine Meisterschaft unter Beweis. Alle Stories sind gut gebaut und sprachlich exzellent. Trotz der zum Teil erschütternden Szenen blitzt bei ihm immer wieder Humor und eine Liebe zu seinen Figuren durch.

In der Titelgeschichte will ein jüdischer Händler einem in Armut lebenden Priester einen wertvollen Spielzeugzug abkaufen, ohne ihn zu übervorteilen. Nach dem Deal stößt er aber auf das Doppelleben des Geistlichen. Besonders eindrucksvoll sind die Geschichten über eine Band – „The Five-Carat Soul Bottom Bone Band“ – in einem heruntergekommenen höchst gefährlichen Viertel in der ehemaligen Stahlstadt Pittsburgh. Und in gleich mehreren Stories führt uns James McBride in de Zeit des Amerikanischen Bürgerkriegs. Aber es gibt auch Phantastisches: Im Fegefeuer steigt ein Boxer tatsächlich gegen den überheblichen Teufel noch einmal in den Ring und in den letzten Seiten des Bandes erzählt ein Löwe von Problemen in einem Zoo.


James McBride: Der Spielzeugsammler
Aus dem Amerikanischen von Werner Löcher-Lawrence
Btb
320 Seiten
€ 24,70

Stephen King ist nicht nur einer der erfolgreichsten Autoren aller Zeiten, der 78-jährige ist auch der am besten konsumierbare Chronist der amerikanischen Alltagsgeschichte.

12 neue Geschichten von Stephen King

Stephen King ist nicht nur einer der erfolgreichsten Autoren aller Zeiten, der 78-jährige ist auch der am besten konsumierbare Chronist der amerikanischen Alltagsgeschichte. Kaum ein popkulturelles Phänomen, das er nicht in Horror umgewandelt hätte – man denke etwa nur an bösartige Straßenkreuzer, mordende Haustiere oder gemobbte Teenager, die plötzlich Superkräfte haben. Der Vielschreiber wird ein Werk hinterlassen, das eine Bibliothek füllen könnte. Im neuen Erzählband sind die meisten Protagonisten bereits im Alter des Autors, wir bekommen also eine Menge typisch amerikanische Biografien geliefert. Der Titel  „You want it darker“, also: „Ihr wollt es dunkler“ – ist eine Referenz an Leonard Cohens letztes Studioalbum, veröffentlicht zwei Wochen vor dem Tod des kanadischen Sängers und Songwriters.

In „Zwei begnadete Burschen“ scheint der Autor über Talent nachzudenken. Es geht darin um zwei durchschnittlich begabte Freunde in einer Kleinstadt, die nach einer unheimlichen Begegnung bei der Jagd plötzlich zum Starautor und zum Starmaler werden. Aber was haben sie im Wald gesehen?

Einzelne Geschichten erreichen fast Romanlänge. So bewohnt in „Klapperschlangen“ ein pensionierter Werber nach dem Krebstod seiner Frau die einsame Villa eines reichen Freundes im Sommer in Florida, wo er auf eine Nachbarin trifft, die immer einen quietschenden Kinderwagen dabei hat, in der sie ihre Zwillinge spazieren führt – die sind allerdings bereits seit 40 Jahren tot, umgekommen durch das Gift von Klapperschlangen. Meisterhaft baut Kind hier Spannung auf, nach und nach begreifen wir, dass der Mann Sympathien für die schrullige Nachbarin entwickelt, denn sein Sohn starb im selben Alter wie die Zwillinge.

„Die Träumenden“ spielt in den 70er-Jahren und entwickelt sich zu einer Horrorgeschichte im Stil von Lovecraft. Der Protagonist ist ein Mann, der soeben von seinem Einsatz in Vietnam zurückgekommen ist.

„Der Antwortmann“ ist quasi die Summe amerikanischer Biografien, gespiegelt durch eine Art Hellseher, der seine Dienste nur an ausgewählten Tagen und Orten anbietet. Ein Anwalt scheitert immer wieder an den richtigen Fragen. King hatte diese Geschichte vor Jahrzehnten begonnen, aber erst jetzt fertiggestellt, wie er im Nachwort erzählt, in dem auch seine bemerkenswerte Analyse über seine Leser steht: „Horrorgeschichten werden besonders von Leuten geschätzt, die mitfühlend und empathisch sind.“ Da fühlt man sich doch gleich besser!


Stephen King: Ihr wollt es dunkler
Übersetzt aus dem Englischen von: Wulf Bergner, Jürgen Bürger, Karl-Heinz Ebnet, Gisbert Haefs, Marcus Ingendaay, Bernhard Kleinschmidt, Kristof Kurz, Gunnar Kwisinski, Friedrich Sommersberg und Sven-Eric Wehmeyer
Heyne Verlag
736 Seiten
€ 29,50

Der in New York lebende Londoner Hari Kunzru schreibt packende Romane über Schicksale von Künstlern und Literaten – und er liebt gängige Titel mit Farben. „Red Pills“ und „White Tears“ hießen Vorgänger, jetzt also „Blue Ruins“.

Junge Wilde aus London gefangen in der Pandemie – Hari Kunzrus Künstlerroman „Blue Ruin“

Der in New York lebende Londoner Hari Kunzru schreibt packende Romane über Schicksale von Künstlern und Literaten – und er liebt gängige Titel mit Farben. „Red Pills“ und „White Tears“ hießen Vorgänger, jetzt also „Blue Ruins“.

Das Buch spielt sowohl in den 90er-Jahren in London – als die Jungen Wilden in der Kunstszene antraten, die Welt zu erobern – als auch in der nahen Vergangenheit der Pandemie in einem riesigen Hochsicherheitsanwesen Upstate New York. Es ist eine Dreiecksgeschichte um die beiden Maler Rob und Jay sowie der Kunststudentin Alice, die Kuratorin werden will. Ich-Erzähler Jay kommt am Beginn als Essensauslieferer  zu der besagten Villa und trifft dort unvermutet auf Alice, seine ehemalige Freundin. Er ist nicht nur ziemlich heruntergekommen und lebt inzwischen in seinem Auto, sondern hat gerade einen Covid-Anfall. Alice bringt ihn in einer luxuriösen Scheune unter, denn niemand soll erfahren, dass er hier ist. Warum das so ist und was er seit dem Ende ihrer Beziehung erlebt hat, ist das Gerüst des Buches. Wie die anderen Villenbewohner – sein ehemaliger Freund Rob und dessen Galerist mit Freundin sind Gäste eines Superreichen – dann auf sein Erscheinen reagieren, bringt die nötige Spannung ins Buch. Denn während Jay als Shootingstar plötzlich für mehr als 20 Jahre verschwand, um seine letzte Performance – das Verschwinden – aufzuführen, hat Rob als Künstler der Superreichen reüssiert, aber künstlerisch nichts weitergebracht.

Jay ist aber auch verschwunden, weil Alice ihn wegen Rob verlassen hat. Die monatelangen Drogenexzesse mit Jay waren ihr zu viel. Eine zusätzliche Ebene besteht darin, dass Jay einen jamaikanischen Vater hat, also schwarz ist, während Alice aus einer reichen vietnamesisch-französischen Familie stammt. Hari Kunzru arbeitete früher auch als Kunstkritiker, er kennt also die Diskussionen über die wahre Kunst und das Galeriengeschäft sehr gut. Es ist interessant, mit ihm über Kunst nachzudenken, wenngleich manche Schilderungen aus Jays Leben etwas klischeehaft klingen. Dafür hat der Roman am Ende fast Thrillerqualitäten. Es geht um Autorenschaft in der Kunst und natürlich auch die Frage, wofür sich Alice und Jay entscheiden, als sich die reichen Besitzer der Villa ankündigen.


Hari Kunzru: Blue Ruin
Aus dem Englischen von Nicolai von Schreder-Schreiner
Liebeskind
342 Seiten
€ 25,50

„Das dritte Königreich“ ist auch der dritte Band von Knausgårds Sternenepos

„Das dritte Königreich“ ist auch der dritte Band von Knausgårds Sternenepos

Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård wurde mit einem sechsbändigen autofiktionalen Roman zum Starautor. In der Pandemie begann er ein fiktionales Romanprojekt, in dem ein plötzlich erscheinender Stern am Himmel als Zeichen oder Katalysator für eine Reihe von Protagonisten fungiert. Die beiden ersten Bände – „Der Morgenstern“ und „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ haben beide an die 1000 Seiten, der dritte Roman der Reihe – „Das dritte Königreich“ – ist mit 650 Seiten vergleichbar dünn. Aber das ist egal, denn Knausgård ist ein begnadeter Erzähler, der uns auch Figuren, die nicht interessant erscheinen, mit Spannung folgen lässt. Und dann will man natürlich wissen, wie es weiter geht – in Erwartung von mehreren folgenden tausend Seiten. Vor allem freut man sich fast schon darauf, den einmal abgeschlossenen Romankomplex zur Gänze noch einmal in einem Zug lesen zu können.

In „Das dritte Königreich“ begegnen wir vielen Figuren aus den ersten beiden Bänden. Da ist die manisch-depressive Malerin Tove, die eine Stimme hört, wenn sie ihre Medikamente absetzt, weil sie wieder voll für ihre Familie da sein will. Ihr Mann schreibt an einem Roman, aber vielleicht weiß er längst, dass er nicht das Zeug zu einem Schriftsteller hat. Da gibt es die 19-jährige Line, die in den Dark-Metal-Musiker Valdemar verknallt ist, der nur für eine kleine Gemeinschaft auftritt und jegliche Aufnahmen seiner Musik verbietet. Valdemar ist überzeugt, dass auf das Reich Gottes das Reich Jesu folgt und dann das des Heiligen Geistes – das dritte Königreich. Beim Sex ritzt er sie, weil er sich völlig sicher sein will, dass seine Gefühle echt sind. Line flieht begreiflicherweise entsetzt, kann sich aber seinem Einfluss nicht entziehen, zumal sie bald weiß, dass sie schwanger ist.

Knausgård erzählt alles in der 1. Person, wir schlüpfen also in die diversen Gedankenwelten seiner Figuren. Sogar in die eines Menschen, der laut Medizin klinisch tot ist. Die Diskussionen zwischen zwei Freunden – der eine ist der behandelnde Arzt und der andere ein Hirnforscher – gehören zu den spannendsten des Buches. Denn der Forscher verweist auf Alan Turing, der feststellte, dass etwas Komplexes nur von etwas noch Komplexerem erklärt und erfasst werden könne, sprich: ein Gehirn kann kein Gehirn entschlüsseln. Und dann gibt es etwa noch einen Polizisten, der im Fall einer satanistisch hingerichteten Metal-Band ermitteln soll. Er glaubt auf dem Foto einer Überwachungskamera den Teufel selbst hervorluken zu sehen.

Wir erleben eine Gesellschaft im relativen Wohlstand – ein durch Fleiß reich gewordener Bestattungsunternehmer wundert sich etwa, dass sieben Tage hintereinander niemand stirbt – auf der Suche nach Sinn. Knausgård setzt dabei Mystik sehr wohldosiert ein. Ein bisschen Horror darf aber schon sein. Die ideale Sommerlektüre für Menschen, die nicht nur am Strand lesen. Am Ende verschwindet der Stern so plötzlich wie er gekommen ist, aber das muss ja nicht für immer sein.


Karl Ove Knausgård „Das dritte Königreich“
Aus dem Norwegischen von Paul Berf
Luchterhand
656 Seiten
€ 29,50

Düstere neue Welt – Andrea Grills Roman „Perfekte Menschen“

Düstere neue Welt – Andrea Grills Roman „Perfekte Menschen“

In „Perfekte Menschen“ sind wir – wie in so vielen aktuellen Romanen – irgendwann und irgendwo in einer nahen Zukunft, die keine gute ist. Zwar geht es den Eltern von Michael nicht schlecht – der Vater ist Programmierer, die Mutter eine erfolgreiche Schwimmerin, sie wohnen in einem schönen Haus – aber die Welt hat sich vollkommen digitalisiert und dadurch inhaltsleer gemacht. Gespielt wird auf technisch ausgefeilten Konsolen, Bildung und alles weitere erhalten alle über „Fieelys“, deren Besitz sogar verpflichtend ist. Die Schrift ist längst abgeschafft, man kommuniziert ausschließlich über Videos und die Natur scheint ebenfalls nicht mehr gebraucht, weil zu gefährlich.

Da wird Michael als 8jähriger von bewaffneten Soldaten – der Regierungsgewalt? – in ein weit entferntes Camp gebracht, wo Buben zu Kämpfern ausgebildet werden und er seinen neuen Namen – Balaban – erhält. Dort ist es noch trostloser als zu Hause, denn natürlich fehlt dem Buben seine Mutter. Sonst hat er ja sowieso kaum soziale Bindungen.

Andrea Grill lebt in Wien und Amsterdam, ist promovierte Evolutionsbiologin und übersetzt aus dem Albanischen. Aus Albanien stammt auch der Mythos von Balaban Badera, der – von Soldaten verschleppt – gegen die eigenen Landsleute kämpfen muss. Aber in „Perfekte Menschen“ wird nicht gar erzählt, wozu der Staat seine Kämpfer ausbildet. Es ist eine Welt, in der sich zu leben sowieso kaum lohnt. Zubetonierte Flüsse, kein Grün und keine Insekten. Es stellt sich also bald die Frage, wohin der kleine Michael fliehen soll mit seiner kleinen Hoffnung, dass es überall besser als im Lager ist. Zumal wir inzwischen wissen, dass seine Mutter ermordet wurde.

Andrea Grill hat einen Roman geschrieben, der im Tonfall und in der erzählerischen Logik an J. M. Coetzees Jesu-Romantrilogie erinnert. Das ist verstörend – auch wenn sie am Ende keine wirkliche Auflösung bietet.


Andrea Grill: Perfekte Menschen
Leykam Verlag
168 Seiten
€ 24,50

13 neue Kurzgeschichten vom Meister – T.C. Boyle „I walk between the Raindrops“

13 neue Kurzgeschichten vom Meister – T.C. Boyle „I walk between the Raindrops“

Kurzgeschichten haben es bei uns noch immer schwer. Die meisten, die sich überhaupt für Literatur interessieren, lesen lieber Romane. Möglicherweise weil Stories schwieriger zu konsumieren sind, denn man muss sich in jeder Geschichte erst zurechtfinden – wer ist der „Held“?, wo spielt das Ganze und in welcher Zeit? Das mag in den USA nicht anders sein, aber dort hatte man immerhin lange Zeit Magazine, die regelmäßig Kurzgeschichten servierten. Der Markt ist kleiner geworden, aber die höhere Achtung für Short Stories ist geblieben. Und so überrascht es nicht, dass die aktuellen Meister dieses Genres aus den USA kommen. T.C. Boyle gehört zweifelsohne dazu, wobei das deutsche Publikum nur einen Bruchteil seines tatsächlichen Outputs kennen.

13 Stories bringt Hanser jetzt heraus, die die Vielseitigkeit seine Oeuvres wieder einmal beweisen. Da machen wohlhabende Kalifornier in einem kleinen Ort in Arizona Bekanntschaft mit dem seltsamen Personal einer Bar. Zwei Welten treffen aufeinander. Eine Geschichte spielt in der Zukunft, wo selbstfahrende Autos auch gegen den Willen ihrer Besitzer entscheiden, wer einsteigen darf und in einer anderen sind wir beim Ausbruch einer Pandemie auf einem Kreuzfahrtschiff. Diese Story hat Boyle geschrieben, als wir von Corona noch so gut wie gar nichts wussten. Das Thema ist aber sowieso, wie sich Menschen verhalten, die auf engstem Raum tagelang quasi eingesperrt werden.

Boyle kann das nämlich perfekt, mit wenigen Sätzen eine Stimmung erzeugen und Personen so knapp beschreiben, dass ihre Handlungen glaubhaft werden. Und er schert sich wenig um die sogenannte political correctness. Am College haben fast gleichaltrige Lehrerinnen und Schüler sexuelle Beziehungen – ein Minenfeld fürwahr, aber dem Autor geht es nicht um Moral, sondern nur um die persönlichen Erfahrungen seiner Protagonisten. Wir sind ja in der Literatur und nicht in einem Gesetzesentwurf. Boyle liebt es auch, Unerwartetes zu bringen – in einer Geschichte sind wir etwa in Frankreich nach dem Weltkrieg, als eine Mutterkorn-Vergiftung einem ganzen Dorf Horror-Halluzinationen verschafft. Lustiger ist die Geschichte, in der selbsternannte Führerinnen Menschen 50 Dollar abknöpfen, damit sie für 2 Stunden im Wald vor der Haustüre allein sein können. Eine echte, schmerzhafte Begegnung mit der Natur erfährt ein Teilnehmer aber erst, als eine Klapperschlange in seinem Vorgarten auftaucht.


T. C. Boyle: I walk between the Raindrops. Stories.
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren und Anette Grube
Hanser
274 Seiten
€ 26,50