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Eine Geschichte der Information und die neue Macht KI – Yuval Noah Hararis „Nexus“ wird heiß diskutiert

Im Westen wurde es meistens nur gemeldet, im Osten war es aber – zurecht – eine Sensation. 2016 unterlag der koreanische Go-Weltmeister Lee Sedol dem Google-Computerprogramm AlphaGo. Dazu muss man wissen, dass Go ein um ein Vielfaches komplexeres Spiel als Schach ist (Kasparow unterlag bekanntlich schon 1997 dem IBM Deep Blue–Programm), deshalb hat es auch so lange gedauert, bis eine KI die Fähigkeit entwickelte, einen Menschen zu schlagen. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari, der durch seinen Weltbestseller „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ quasi zum Erklärer unserer Zivilisation geworden ist, widmet in seinem neuen Buch „Nexus. Eine kurze Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz“ diesem Ereignis seine volle Aufmerksamkeit – sieht er es nämlich als Beweis, dass Maschinen kreativ sein können. Beim historischen Spiel waren sich nämlich alle kiebitzenden Experten einig, dass AlphaGo einen Fehler gemacht hatte. Dieser stellte sich dann freilich als spielentscheidend heraus. Harari sieht das als Beweis für Kreativität und er prophezeit, dass wir uns schon bald mit einem neuen Individuum auseinandersetzen müssen, nämlich der KI. Darüber lässt sich trefflich diskutieren – dass KI unsere Zukunft bestimmen wird, steht freilich schon jetzt fest. 

Davor beschreibt Harari allerdings sehr anschaulich, dass viele Entwicklungen der Menschheit ohne Informationsnetzwerke gar nicht möglich gewesen wären. Aber mehr Information ist nicht gleich mehr Wahrheit, warnt er mehrmals. Erst die Schrift hat größere Gesellschaften möglich gemacht, weil sie Ordnung herstellen konnte. Nur durch schriftliche Dokumente ließen sich Gesetze für alle durchsetzen. Aber bekanntlich schafft die Bürokratie auch Schubladen, in denen die Wirklichkeit oder gar die Wahrheit erst gezwängt werden muss. Zwar habe etwa der Buchdruck und die Verbreitung von Information moderne Wissenschaft erst möglich gemacht, doch ein erster und größter Buchbestseller war der berüchtigte „Hexenhammer“ – ein Werk zum Aufspüren und zur Folterung von Hexen. Ohne Massenmedien sind große demokratische Staaten nicht denkbar – das Volk muss ja entscheiden können, was oder wen es wählt. Aber die modernen Technologien wie Telefon und Radio ermöglichen auch erstmals die totalitäre Überwachung aller Bürger. Wichtig für die Wissenschaft und für Demokratien ist dabei immer eine funktionierende Fehlerkultur. Diktatoren machen bekanntlich keine Fehler, sie können einfach niemals zugeben, dass sie sich irren.

Was Harari schafft, ist den jetzigen Stand der Diskussion zu formulieren und zu zeigen, wo unsere Kontrollsysteme versagen. Soziale Medien haben bekanntlich die Tendenz, Hass und Verschwörungstheorien zu stärken – denn ihre Algorithmen zielen auf Aufmerksamkeit und schlechte Nachrichten sind in der Medienwelt immer die besten Nachrichten. Nachdem die US-Regierung schon vor 2000 Soziale Medien von der Verantwortung für ihre von Usern generierten Beiträge freisprach (ganz im Gegensatz zu allen anderen Medien, die jederzeit geklagt werden können, wenn sie mit ihren Berichten jemanden schaden), kann sie jetzt niemand mehr in Zaun halten. Einer der größten politischen Fehler der letzten Jahrzehnte.

Die rasante Entwicklung der KI lässt nun nichtmensch­liche, anorganische Akteure entstehen, denen wir uns in Zukunft gegenübersehen werden. Was aber passiert erst, wenn wir einer viel mächtigeren KI freien Lauf lassen? Und vielleicht noch viel dringender: KI ist das ideale Werkzeug für totalitäre Staaten. Was Stalin und Hitler versuchten, aber nicht geschafft haben – die komplette Überwachung aller Bürger – ist heute machbar. Man braucht sich nur die Entwicklung des Sozialkreditwesens in China ansehen. Wer nicht funktioniert, dem werden alle Grundlagen für ein angenehmeres Leben entzogen.

Aber ist eine KI wirklich kreativ? AlphaGO mag einen für Menschen unmöglich zu findenden neuen Zug geschafft haben, aber ist es kreativ, hunderte oder tausende Züge vorauszuberechnen? Sicher, eine KI kann schon heute Texte schreiben, die Menschen nicht mehr von „natürlich“ entstandenen Texten unterscheiden können. Und gewiss erscheint auch schon heute viel Mittelmaß auf dem Buchmarkt – aber pro Jahr eben auch eine Handvoll wirklich beglückender Bücher, von denen ich mir nicht vorstellen kann, dass sie eine KI jemals zustande bringen könnte.

Yuval Noah Harari: „Nexus“
Eine kurze Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer und Andreas Wirthensohn
Penguin Verlag
656 Seiten
28,99 €


In Steinhof stellt man sich Fragen über das Leben – Thomas Sautners „Pavillon 44“

Ein Mann, der sich für Jesus hält und Gottvater sucht, eine Greisin, die klüger ist als der Primar, eine junge Wut-Patientin und Dimsch, der mit seinem verstorbenen Freund redet – im Pavillon 44 kommen nur die interessantesten Fälle des psychiatrischen Krankenhauses, denn Primarius Lobell hat schon lange „Narrenfreiheit“, weil er ein persönlicher Freund des Wiener Bürgermeisters ist. Dabei ist er selbst seit Jahren von Psychopharmaka abhängig. Als sich Jesus und Dimsch für einen Tag aus dem Krankenhaus verdrücken, droht das System zusammenzubrechen – zumal Lobell gerade an diesem Tag vom Bürgermeister in einem Beisl mit Wein abgefüllt wird.

In Thomas Sautners opulenten Roman „Pavillon 44“ wird Steinhof und eigentlich ganz Wien zu einem psychologischen Grenzfall. Der in Wien und Niederösterreich lebende Autor psychologisiert sogar den eigenen Stand, indem er eine Schriftstellerin dort einquartiert, die für ihre Arbeit recherchiert und die natürlich selbst bald professionelle Hilfe zu brauchen scheint.

Das ist alles sehr unterhaltsam, wenngleich nicht immer originell. Sautner scheint bisweilen selbstverliebt in seinen Erzählstil. Aber er geht auch sehr sorgfältig mit seinem Personal um. Sogar der Busfahrer, der die Ausreißer in die City bringt, wird von Sautner liebevoll porträtiert. Und bei der Diskussion was denn eigentlich normal und was psychisch krank ist kann sich der Autor voll entfalten. In langen Spaziergängen um die eindrucksvolle Kirche am Steinhof von Otto Wagner diskutieren der Primar und die Schriftstellerin über Gott und die Welt. Auch ein karrieresüchtiger junger Nebenbuhler von Lobell, der alles mit Psychopharmaka für heilbar hält, darf nicht fehlen. Ein quasi philosophischer Roman für einige vergnügliche Lesestunden.

Thomas Sautner liest am 8. Oktober, 19 Uhr, in der Buchhandlung Seeseiten in der Seestadt aus seinem Roman.


Thomas Sautner: Pavillon 44
Picus Verlag
458 Seiten
€ 27,-

Ein Familien- und Entwicklungsroman des Nobelpreisträgers aus Sansibar – Abdulrazak Gurnahs „Das versteinerte Herz“

Salim wächst in armen, aber stabilen Familienverhältnissen in Sansibar auf – er besucht die Schule und die Koranschule. Da verlässt plötzlich sein Vater das Haus ohne Erklärung, während sein Onkel Amir im Gefängnis ist und Salims schöne Mutter öfters nachmittags verschwindet. Niemand klärt Salim auf, was wirklich vor sich geht. Und das macht auch die Spannung dieses Romans aus. Erst am Ende, als die Mutter bereits gestorben ist, klärt Salims Vater – Baba –  auf.

Salim ist auch der Erzähler der Geschichte. Wir folgen ihm zu seinem Studium und seinem Leben in London, wo er auch puren Rassismus erleben muss. Ausgerechnet eine aus Indien stammende Frau nennt ihn vor der Salim liebenden Tochter einen „muslimischen Nigger“. Doch Salim findet in London auch viele Freunde – die meisten sind wie er Einwanderer aus allen Teilen der Welt.

Abdulrazak Gurnah, 1948 in Sansibar, das heute zu Tansania gehört, geboren, erhielt 2021 den Nobelpreis für Literatur. Zu diesem Zeitpunkt war keiner seiner fünf in die deutsche Sprache übersetzten Titel mehr im Buchhandel verfügbar. Gurnah ist ein großartiger Erzähler, der in einer schnörkellosen Sprache die Hoffnungen und Ängste seiner Protagonisten vermitteln kann. Er lebt wie Salim in England und war lange Zeit Professor an der Universität in Kent.

In „Das versteinerte Herz“ (2017 im Original erschienen) erfährt man viel über das Leben in Sansibar und das eines Migranten in London. In seiner Heimat herrschen korrupte Politiker, das Volk wird durch staatlichen Terror in Abhängigkeit gehalten. In London erlebt Salim die Zeit des Balkankriegs und 9/11 – Misstrauen überall. Aber der Roman ist trotz des drückenden Geheimnisses kein Buch der Trauer. Salim muss seinen Weg finden, er ist einsam, findet aber immer wieder auch Menschen, die ihn aufheitern. Am Ende korrespondiert die Familiengeschichte mit Shakespeares „Maß um Maß“, in dem eine junge Frau ihren geliebten Bruder retten will und mit dem Mann schlafen soll, der ihn zum Tode verurteilt hat. Es geht um Schande und Liebe, Opfer und Enttäuschung – große Literatur!


Abdulrazak Gurnah: Das versteinerte Herz
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Penguin Verlag
364 Seiten
€ 27,50

Aufwachsen in Wien und München – Ljuba Arnautovićs bewegender Roman „Erste Töchter“

Der Vater gehörte zu jenen Unglücklichen, die nach der Zerschlagung der Demokratie durch die Austrofaschisten unter Dollfuß aus Wien nach Moskau geflohen waren, um dort in die Fänge des Diktators Stalin zu geraten. Karl wandert in den Gulag und kommt erst 1953 nach Wien zurück. Mit einer russischen Frau und de facto heimatlos, denn auch Deutsch spricht er nur noch schlecht. Dafür findet er immer wieder junge Frauen, die ihn heiraten. Die beiden Töchter parkt er zwischendurch in Waisenheimen – das scheint nicht nur heute ziemlich grausam. Und diesen beiden Töchtern – Lara und Lund – widmet Ljuba Arnautović, 1954 in Kursk geboren und seit 1987 in Wien lebend, im dritten Teil ihrer autobiografisch geprägten Trilogie ihr Hauptaugenmerk. Die Jüngere wächst in Wien auf, die Ältere gutbürgerlich in München. Die Jüngere wäre fast am Praterstrich verkommen, die Ältere wird von der Alternativszene geprägt. Sie bleiben aber mittels Briefe miteinander verbunden und finden als Erwachsene wieder zueinander. Arnautović erzählt eher nüchtern, wenngleich nicht chronologisch – die Ereignisse sprechen aber auch für sich. Nur ein schmaler Roman, aber trotzdem können wir die schwierigen Verhältnisse, in denen die Figuren – etwa auch Karls erste russische Frau in Wien – gut nachempfinden. Ein berührendes Buch. 


Ljuba Arnautović: Erste Töchter
Zsolnay
160 Seiten
€ 24,50

Rauf und runter, schwarz und weiß – Colson Whiteheads Debütroman

Colson Whiteheads Debütroman „Die Intuitionistin“ über eine Fahrstuhlinspektorin in neuer Übersetzung.

Als 1999 der Debütroman von Colson Whitehead erschien, ahnte natürlich noch niemand, dass aus dem New Yorker ein vielbeachteter Bestsellerautor werden würde. Sein Vater – verriet er mir bei einem Interview in Wien – schlug die Hände zusammen, weil sein bestens ausgebildeter  (Harvard) Sohn, Schriftsteller werden wollte. Colson Whitehead ist zwar schwarz, aber entstammt der oberen Mittelschicht – sein Vater verdiente gut an der Börse. Glücklicherweise blieb Whitehead bei seiner Berufswahl und seit „The Underground Railroad“ gehört der 1969 Geborene zu den US-Bestsellerautoren. Dass Hanser jetzt diesen Erstling, der ursprünglich auf Deutsch bei Hoffmann und Campe erschienen ist, jetzt neu übersetzen ließ, erweist sich als ein Glücksfall. Denn 2024 liest man diesen vielschichtigen Roman anders als vor der Jahrtausendwende.

„The Intuitionist“ weist noch Elemente des postmodernen Romans auf, in seinen Themen ist er allerdings brandaktuell. Wir sind in einer sehr großen Stadt in den USA, die nicht genannt wird und in einer Zeit, als es noch keine Handys gab. Auch fotografiert wird noch analog, wahrscheinlich sind wir gar erst in den 50er-Jahren. Es geht um den Kampf zwischen zwei Richtungen innerhalb der Fahrstuhlinspektoren, den Empirikern und den Intuitionalisten. Erstere prüfen brav Motor, Aufhängung und Sicherheitseinrichtungen, zweitere führen eine Art Zwiegespräch mit dem Fahrstuhl, lauschen auf die Geräusche beim Anfahren und Bremsen und haben damit eine um 10 Prozent bessere Quote beim Aufspüren von Mängeln. Trotzdem gelten sie als Spinner und sind geächtet. Wer denkt da heute nicht an die Gläubigen der reinen Wissenschaft und die Anhänger alternativer Medizin. Lila Mae gehört den Intiutionalisten an und sie ist nicht nur die allererste weibliche Inspektorin, sondern auch noch schwarz. In der rassistischen Matschowelt hat sie daher einen doppelt schweren Stand – da nützt es nichts, dass sie bei der Arbeit keine Fehler macht und auch sonst nur durch Leistung auffällt.

Da stürzt just ein Lift in einem Regierungsgebäude, den sie kurz vorher inspiziert hatte, in die Tiefe. Etwas, das es nicht geben dürfte. Noch dazu ist gerade Wahlkampf für den Vorsitz der Inspektorengilde und der Fauxpas einer Intuitionistin kommt den überheblichen Empirikern gerade Recht. Die Intuitionisten sind indes schon lange auf der Suche nach den letzten Notizen ihres verstorbenen, legendenumwogten Theoretikers, der vor seinem Tod einen Fahrstuhl ganz ohne Mechanik entwickelt haben soll. Lila Mae sucht nach diesen Aufzeichnungen, zumal sie in den Schriften erwähnt sein soll. Spätestens hier ist der Roman mit seinen vielen Wendungen – Hausdurchsuchungen, Gefangennahmen, sogar Folter – zum Krimi geworden. Und man merkt bei jeder Zeile, dass Whitehead viel Spaß daran hatte, seine Leser rätseln zu lassen. Am Ende gibt es noch eine gute Pointe.


Colson Whitehead: Die Intuitionistin
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
Hanser
272 Seiten
€ 26,80

Die letzten Tage des Weltenkaisers – der ungewöhnliche Historienroman „Reise nach Laredo“ von Arno Geiger

Obwohl keine 300 Seiten lang, ist Arno Geigers Roman über das Sterben Kaiser Karls V. im 16. Jahrhundert – das ist jener Habsburger, in dessen Reich niemals die Sonne unterging, wie es so schön heißt – ein Text, auf den man sich einlassen muss. Geiger wirft uns auf den ersten Seiten keine literarischen Häppchen hin, die uns den Sinn dieser Unternehmung gleich verraten würden. Der gichtkranke, fettleibige und hässliche – seine Kinnlade steht immer offen – alte Mann – damals war man mit 58 eben schon wirklich alt – lässt sich von seinen Bediensteten mittels einer eigens dafür konstruierten Apparatur in einen Waschzuber heben, weil er sich selbst nicht mehr waschen kann. Am liebsten dämmert er, betäubt von Laudanum vor sich hin. Er hat abgedankt, die Macht ist nicht mehr bei ihm in diesem spanischen Kloster Yuste, wo er sich mit seinem Beichtvater und einem kleinen Hofstaat zurückgezogen hat. Was will er noch vom Leben ist die Frage, die ihn bewegt, als ihn ein elfjähriger Knabe – ein illegitimer Sohn, der seine Herkunft aber nicht kennt – besucht und er wie zum Scherz mit ihm ausmacht, aus dem Kloster zu fliehen. Man könnte doch den Wallfahrtsort Laredo an der Küste aufsuchen – und das seltsame Abenteuer beginnt.

Geronimo und Karl treffen bald schon auf zwei Ausgestoßene – Cagots – die Geschwister Honzo und Angelita, die gerade furchtbar misshandelt werden, denn jede Gesellschaft hat ihre Minderheiten als Prügelknaben. Mit einer Pistole kann Karl die Angreifer vertreiben und so sind sie bald schon zu viert auf den Weg.

Und es wird zunehmend märchenhafter: Zwischen Yuste und Laredo liegt ein Gebirge und ganz oben die tote Stadt, wo die Reisegesellschaft in einem Wirtshaus einkehrt. Dort wird ein riesiger Greif gehalten – das Fabeltier haust ganz jämmerlich im Keller, während Karl nichts Besseres zu tun hat als zu saufen und sein Geld zu verspielen. Wer denkt da nicht an Goethes Auerbachs Keller? Schließlich müssen sie gar fliehen, wobei Honzo ums Leben kommt – er wollte seine Schwester überreden, im Tausch für den Greif beim widerlichen Wirt zu bleiben, stürzt freilich bei der Greifbefreiung vom Turm. Karl muss da an seine vielen Verwandten denken, die er gegen ihren Willen verheiratet hat. Das Ende wird nach den Abenteuern dann fast idyllisch. Karl schein beim Baden im Meer einen friedlichen Abschied vom Leben zu finden. Jeder Mensch ist ein zurückgetretener König, denkt Karl und wir denken an Geigers wunderbares Buch über seinen alzheimerkranken Vater „Der alte König in seinem Exil“.

„Reise nach Laredo“ ist nicht wirklich ein Historienroman, Geiger nimmt sich aus der Geschichte, was er braucht, um das Elend einst mächtiger Männer nach ihrem Ausscheiden aus den Ämtern zu beschreiben (Frauen tun sich da meist leichter). Das kann man täglich beobachten – nicht nur in der Politik und Wirtschaft. Was bleibt, wenn der Schein verblasst? Geiger spielt geschickt mit literarischen Vorbildern und findet eine Sprache, die dem Stoff angemessen ist. Ja, es zahlt sich aus, wenn man sich auf diesen Roman einlässt.


Arno Geiger: Reise nach Laredo
Hanser
272 Seiten
€ 27,50

Ein Autor sucht nach seiner Herkunft – Kurt Palm: Trockenes Feld

Kurt Palm kennt man als umtriebigen Regisseur – er machte mit Phettberg etwa die „Nette Leit Show“, Sachbuchautor und erfolgreichen Krimiautor – „Bad Fucking“ wurde auch verfilmt und für seinen ungewöhnlichen Krimi „Der Hai im System“ erhielt er den Leo-Perutz-Preis. Schon lange in Wien Neubau lebend, stammt er aus dem oberösterreichischen Neukirchen an der Vöckla. Seine Eltern waren da aber als Vertriebene lange Zeit staatenlos, sie gehörten einer Minderheit im heutigen Kroatien an und lebten im heute verfallenen Ort Kapan, was damals Slawonien genannt wurde, der größere Ort daneben Suhopolje heißt übersetzt „Trockenes Feld“ – das ist der Titel von Palms Familienbuch. Als die Deutschen Ende des Weltkrieges vor den Partisanen zurückwichen, mussten Pals Verwandte „Heim ins Reich“, kamen aber nur bis Oberösterreich, wo sich Palms Vater als Hilfsarbeiter durchschlagen musste. Der Roman ist jetzt eine Art Spurensuche, denn die meisten Angehörigen und Zeitzeugen sind bereits gestorben. Und nach dem Krieg waren bekanntlich alle daran interessiert, die Jahre der Katastrophen zu vergessen – das Thema war für Nachkommen tabu.

„Trockenes Feld“ ist bestimmt keine Autobiografie, Kurt Palms Werdegang kommt zwar vor, steht aber nicht im Mittelpunkt. Vielmehr fragt sich der Autor, wie seine Eltern die schweren Schicksalsschläge meistern und dabei ihren Kindern eine beste Ausbildung ermöglichen konnten. Vieles aus der Kriegszeit muss dabei im Dunklen bleiben. Palms Vater wurde für die SS Polizei zwangsrekrutiert, hatte aber das Glück, nicht an der Ostfront kämpfen zu müssen. Eine relativ leichte Verwundung rettete ihm wahrscheinlich das Leben. In Kapan wäre er hingegen von den Partisanen ermordet worden. In Österreich tut die Familie alles, um möglichst schnell als Einheimische zu gelten. Bis zum Speiseplan orientiert man sich an den Nachbarn. Das Buch ist auch die Geschichte einer Assimilation von Staatenlosen in Österreich und erzählt viel über die politische Stimmung nach dem verlorenen Krieg.

Eine zentrale Rolle spielt auch die Tragödie von Kurt Palms Bruder Reinhard. Der erfolgreiche Dramaturg und Übersetzer nahm sich 2014 im Alter von 56 Jahren im Wald von Neuwaldegg das Leben – der Selbstmord schien sorgfältig vorbereitet.

„Trockenes Feld“ ist der Versuch, Herkunft aufzuarbeiten. Besonders spannend ist etwa der Besuch des Autors mit seiner Schwester in Kapan, das heute kaum mehr besteht. Sie treffen da auf einen Einheimischen, der ihnen Gräueltaten der Wehrmacht erzählt. Ein wichtiges und interessantes Buch für alle, die an der verdrängten Geschichte Österreichs und Jugoslawiens interessiert sind.


Kurt Palm: Trockenes Feld
Leykam
304 Seiten
€ 25,50

Roman über eine zerbrochene Familie in England – Jahreszeiten

Ein Leben auf dem Lande, Gemüse pflanzen und verkaufen, ein ideales Umfeld für die gerade geborenen Zwillinge Sonny und Max – das erschien Tess und Richard das ideale Dasein. Doch im Süden Englands stört gar vieles das Idyll. Tess, deren Mutter aus Jamaika stammt, wenngleich sie in London aufgewachsen ist und sich als Großstädterin fühlt, ist die einzige Schwarze im Dorf, in dem die Familie von Max tief verwurzelt ist. Und dass die Söhne Zwillinge sind, ziehen manche in Zweifel, denn Sonny ist schwarz, Max weiß.

Fiona Williams lässt alle vier Familienmitglieder erzählen, wenngleich Richard nicht in der auktorialen Form. Und sie verwendet eine blumige Sprache, ergeht sich in Naturschilderungen, die freilich nur den Hintergrund für eine wenig idyllische Geschichte bilden. Denn Sonny ist im Fluss ums Leben gekommen, wobei die Tragödie nur indirekt aufscheint, denn der Ertrunkene spricht weiter und sein Bruder hält auch Zwiesprache mit ihm. Richard kapselt sich vollkommen in sein Gewächshäusern ab und trinkt zu viel während Tess ihre Heimatlosigkeit immer mehr spürt. Ihre Mutter will ihren Lebensabend in Jamaika verbringen, die Schwester rät ihr, Richard zu verlassen.

Die Autorin ist in Südlondon aufgewachsen, hat eine Farm in Australien betrieben, in Singapur gewohnt und lebt mittlerweile mit ihrer Familie in den Somerset Levels, einem Feuchtgebiet im Südwesten Englands. Es gelingt ihr in „Jahreszeiten“ ganz gut, die Stimmungen im Landhaus der Familie zu schildern. Ein bisschen mehr Klarheit hätte dem Werk aber gut getan.


Fiona Williams: Jahreszeiten
Aus dem Englischen von Maria Hummitzsch
S. Fischer
350 Seiten
€ 24,00

Wilde Jahre in L.A. – Eve Babitz: Sex & Rage

Die 2021 verstorbene Eve Babitz ist auf einem der berühmtesten Fotos der Kunstgeschichte zu sehen: 1963 ließ die 20-Jährige sich von Julian Wasser nackt beim Schachspiel mit Marcel Duchamp fotografieren. Der Maler ist natürlich voll angezogen – heute wäre eine solches Setting wohl undenkbar. Aber die Tochter eines Musikers und einer Künstlerin – ihr Patenonkel hieß Igor Strawinski. Sie war in den 60er-Jahren die Verkörperung einer freien Frau, das It-Girl der Hippie-Ära, wenn man so will. Sie schrieb für den »Rolling Stone«, gestaltete Plattencover, und traf Stars wie Harrison Ford, Jim Morrison, Steve Martin oder Frank Zappa und Salvador Dalí. Sie war Künstlerin, begann aber auch schon früh zu schreiben. Vor etwa 10 Jahren wurden ihre Bücher in den USA und dann auch in deutscher Übersetzung wieder aufgelegt. Babitz soll dazu gesagt haben: „Früher mochten mich nur Männer, heute sind es nur die Frauen.“ Der jetzt bei S. Fischer erschienene Roman „Sex & Rage“ aus dem Jahr 1979 erklärt vielleicht warum.

Im Zentrum steht eine junge Frau, die natürlich an die Autorin erinnert. Jacaranda wächst in L.A. auf, genauer dort am Strand, in Santa Monica – der Stadtmoloch ist schon damals eine Aneinanderreihung von Vierteln, die vielfach wie Dörfer funktionieren. Samt Misstrauen den Nachbarn gegenüber. Eine Frau erklärt etwa, sie sei noch nie südlicher als den Huntington Beach gekommen, der selbstverständlich noch zu Los Angeles gehört. Jacaranda ist begeisterte Surferin und Drogenkonsumentin, pflegt diverse Liebschaften und kümmert sich wenig um ein geregeltes Einkommen. Ab und zu bemalt sie Surfboards gegen Barzahlung oder schreibt für Szenemagazine. Die Handlung des Romans ist aber nicht wirklich entscheidend, es geht vielmehr um das Lebensgefühl dieser Zeit. Als Jacaranda plötzlich eine toughe Agentin hat, die sie in einer Bar aufgelesen hat, soll sie nicht nur ein Buch schreiben, sondern zur Promotion desselben nach New York kommen. Das erscheint ihr wie eine Reise zu einem anderen Planeten. Außerdem ist sie bereits schwere Alkoholikerin. Als sie dann tatsächlich ein Flugzeug besteigt ist das gleichzeitig ihr Entzug.

Eve Babitz erzählt witzig aber in einer Mischung aus Selbstbewusstsein und Versagensängsten – womit sie natürlich völlig ihrer Protagonistin entspricht. Ein Roman der sich natürlich besonders für den Sommer empfiehlt.


Eve Babitz: Sex & Rage
Aus dem amerikanischen Englisch von Hanna Hesse
S. Fischer
270 Seiten
€ 24,00

Szenen des US-Alltags – „Der Spielzeug-Sammler“ von James McBride

Der in einer New Yorker Sozialsiedlung aufgewachsene James McBride ist bei uns nicht so bekannt wie es ihm gebühren würde. Dabei ist er einer der Lieblingsschriftsteller Barack Obamas und schon viele Auszeichnungen erhalten. In seinem Erzählband „Der Spielzeug-Sammler“ stellt er seine Meisterschaft unter Beweis. Alle Stories sind gut gebaut und sprachlich exzellent. Trotz der zum Teil erschütternden Szenen blitzt bei ihm immer wieder Humor und eine Liebe zu seinen Figuren durch.

In der Titelgeschichte will ein jüdischer Händler einem in Armut lebenden Priester einen wertvollen Spielzeugzug abkaufen, ohne ihn zu übervorteilen. Nach dem Deal stößt er aber auf das Doppelleben des Geistlichen. Besonders eindrucksvoll sind die Geschichten über eine Band – „The Five-Carat Soul Bottom Bone Band“ – in einem heruntergekommenen höchst gefährlichen Viertel in der ehemaligen Stahlstadt Pittsburgh. Und in gleich mehreren Stories führt uns James McBride in de Zeit des Amerikanischen Bürgerkriegs. Aber es gibt auch Phantastisches: Im Fegefeuer steigt ein Boxer tatsächlich gegen den überheblichen Teufel noch einmal in den Ring und in den letzten Seiten des Bandes erzählt ein Löwe von Problemen in einem Zoo.


James McBride: Der Spielzeugsammler
Aus dem Amerikanischen von Werner Löcher-Lawrence
Btb
320 Seiten
€ 24,70