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Jazz in Wien

Role Model für Jazz


Zur Situation des Jazz in Wien am Beispiel des Porgy & Bess – durchwegs subjektive Anmerkungen zu einem globalen musikalischen Phänomen, dessen Wahrnehmung und Entwicklung in Wien etwas anders verlief als in vergleichbaren europäischen Metropolen, schlussendlich aber trotzdem in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist.
Text: Christoph Huber / Fotos: picturedesk.com; Porgy & Bess


Ich ging 1988 zum Studium nach Wien, auch weil ich aus meinem provinziellen saalfeldnerischen Umfeld ausbrechen wollte. Die Ernüchterung folgte freilich auf dem Fuß. In Saalfelden gab es seit Ende der 1970er-Jahre ein internationales Jazzfestival und regelmäßige Jazzkonzerte im Club. In Wien gab es das „Jazzland“, das sich mit traditionellen Jazzformen wie Dixieland und Swing beschäftigte, und die „Jazzspelunke“, die einstmals eine wichtige Anlaufstelle für zeitgenössische Jazzmusiker war, Anfang der 1990er-Jahre allerdings ihre Pforten schloss. Innovative, zeitgenössische, jazzaffine Konzerte fanden in dieser Zeit nur in homöopathischen Dosen an unterschiedlichen Orten wie im „WUK“, im „Opus One“, im „B-A-C-H“ oder in der „Szene Wien“ statt.

Axel Melhardt im „Jazzland“ in Wien.

AUFBRUCHSSTIMMUNG
Das war nicht immer so gewesen: Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es, auch aufgrund der Aktivitäten vor allem der amerikanischen Besatzungsmacht, eine Art Aufbruchsstimmung. Es entstanden Clubs wie der „Strohkoffer“, das Vereinslokal des „Wiener Art Clubs“ (eine Künstlervereinigung um Albert Paris Gütersloh mit den „jungen Wilden“ Arnulf Rainer, Friedensreich Hundertwasser, Josef Mikl). Tagsüber Galerie, des nächtens „Begegnungszone“ für Leute wie H. C. Artmann, Friedrich Gulda oder Joe Zawinul. Interdisziplinär, würde man heute sagen. Die „Adebar“ in der Annagasse war ein Ort des Experiments, und schließlich auch „Fatty’s Saloon“ am Petersplatz, der 1963 schließen musste, 1980 zwar wieder eröffnete, allerdings ohne wirtschaftlichen Erfolg. Fast alle kreativen Musiker verließen Wien: Hans Koller, Joe Zawinul, Attila Zoller, Fritz Pauer, Roland Kovac, Fatty George, um nur einige zu nennen. Sie verließen Wien, weil die Nachkriegssituation kaum innovative Entwicklungen zuließ bzw. kreative Künstler sich in der konservativen Grundstimmung geradezu eingesperrt fühlten. Sie fühlten sich unverstanden und unerwünscht. Bedenkt man, dass nach der Proklamierung der 2. Republik keine ernsthaften Versuche unternommen wurden, vor dem Krieg hinauskomplimentierte Komponisten wie Arnold Schönberg, Ernst Krenek oder Erich Wolfgang Korngold wieder zurückzuholen bzw. nach Wien einzuladen, dann kann man sich diese latente Grundstimmung wohl gut vorstellen.
In Paris beispielsweise war die Situation durchaus anders: Die Intellektuellen um Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Albert Camus, Boris Vian (selbst ein Jazztrompeter!) haben die innovatorische Kraft dieser Musik instinktiv erkannt und als solche wahrgenommen, was dazu führte, dass trotz Sprachschwierigkeiten Musiker wie Miles Davis zum engeren Freundeskreis von Sartre zählten. Etliche amerikanische Musiker ließen sich in den 1950er- und 1960er-Jahren in Paris nieder: Kenny Clarke, Bud Powell, Kenny Drew, Don Byas, Stan Getz, Booker Ervin, Ben Webster, Pony Poindexter oder Johnny Griffin. Auch in Kopenhagen oder Stockholm herrschte ein viel respektvolleres Klima Jazzmusikern gegenüber als in Wien ‒ und natürlich auch ganz andere Verdienstmöglichkeiten.

Fatty George in seinem Saloon am Petersplatz.

ZURÜCK NACH WIEN
Eine wichtige integrative Figur, die zur gesellschaftlichen Akzeptanz des Jazz in dieser Stadt beigetragen hat, war Friedrich Gulda, der in den mittleren 1960er-Jahren Jazzwettbewerbe im Konzerthaus ausrichtete, was zum Beispiel Musiker wie der ostdeutsche Pianist Joachim Kühn oder der tschechische Bassist Miroslav Vitouš (der später mit Zawinul Gründungsmitglied der Formation „Weather Report“ war) nutzten, um sich in den Westen abzusetzen und dort ihre internationale Karriere zu
starten. Wobei das Wort „gesellschaftliche Akzeptanz“ etwas übertrieben ist. Die Leute liebten Gulda für seine Mozart- und Beethoven-Interpretationen und duldeten bzw. ertrugen die Ausflüge des Meisters in den Jazz. Bezeichnend auch, dass Gulda ausgerechnet im kärntnerischen Viktring die Möglichkeit hatte, die von ihm angestrebte Aufhebung der Grenzen zwischen E- und U-Musik bzw. die Verschmelzung der Klassik mit dem Jazz zu zelebrieren, indem er ab 1973 im Rahmen des Musikforums Konzerte und Workshops ebendort organisierte und abhielt.

Die vom Grazer Posaunisten Erich Kleinschuster gegründete und bis zur Auflösung 1981 geleitete ORF Big Band veranlasste Musiker wie den Trompeter Art Farmer oder den Bassisten Jimmy Woode, nach Wien zu übersiedeln, was der Stadt zumindest ein Minimum von internationalem Flair verlieh.
Und dann ist da natürlich das vom Schweizer Komponisten mathias rüegg Ende der 1970er-Jahre gegründete und bis 2010 bestehende „Vienna Art Orchestra“ zu nennen, eine international besetzte Formation, die auch international reüssierte und die für eine musikalische Frischzellenkur sorgte und Leute wie Harry Sokal oder Wolfgang Puschnig hervorbrachte, die wiederum über die Landesgrenzen hinweg Bekanntheit erlangten. Interessanterweise entwickelten sich in den mittleren und späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren avancierte Jazz-Aktivitäten außerhalb der Bundeshauptstadt. Viktring wurde bereits erwähnt. Das Jazzfest im burgenländischen Wiesen war ein Vorreiter in Sachen Präsentation von aktuellem Jazz vor einem größeren Publikum. Das Jazzfest Saalfelden war viele Jahre lang so etwas wie ein Trendsetter in Bezug auf innovatorische Projektentwicklungen, und die internationale Avantgarde spielte bei den „Konfrontationen“ in der Jazzgalerie Nickelsdorf oder beim „Kaleidophon“ im oberösterreichischen Ulrichsberg.

Natürlich gab es auch in Wien bemerkenswerte Jazz-Aktivitäten. Miles Davis spielte hier, John Coltrane, Louis Armstrong, Ella Fitzgerald, Lionel Hampton, Jimmy Giuffre, Cannonball Adderley und viele mehr. Diese Konzerte waren aber singulär, also nicht in einen kulturellen Gesamtkontext eingebunden. Große Namen spielten in der Stadthalle oder im Konzerthaus, aber halt nur „zu allen heiligen Zeiten“. Erst ab 1991 gab es auch in Wien ein jährliches Jazzfestival. Der heimischen Szene blieb nur die Möglichkeit, in mehr oder weniger geeigneten alternativen Räumlichkeiten auf Eintritt zu spielen, wenn der für diese Räumlichkeiten gastronomisch Verantwortliche dies halt zuließ.

Erich Kleinschuster bei einer Probe mit dem ORF Big Band Orchester.

DIE GRÜNDUNG DES PORGY & BESS
Aus diesem Hintergrund heraus wurde 1993 das Porgy & Bess gegründet. Es gab damals einfach keine professionelle kontinuierliche Betätigungsmöglichkeit für zeit-genössische Jazzmusiker mit adäquater Bezahlung! Es fehlte an einer Spielstätte mit Werkstattcharakter, einem Ort des Austausches und des Dialogs. Im September dieses Jahres realisierte der schon erwähnte mathias rüegg gemeinsam mit Gabriele Mazic eine Serie von Konzerten österreichischer und Schweizer Musiker in der ehemaligen Fledermaus-Bar in der Spiegelgasse als sogenannten „Jazzherbst“ und nannte das Lokal „Porgy & Bess“. Hauptsächlich unterstützt wurde dieser Konzertreigen von der schweizerischen Urheberrechtsgesellschaft Pro Helvetia. Im Laufe dieser Serie reifte natürlich die Idee, nach dem „Jazzherbst“ einen kontinuierlichen Clubbetrieb zu etablieren. Da fand rüegg mit dem in Wien lebenden deutschen Musiker und Veranstalter (z. B.: „Kulturspektakel“) Renald Deppe und meiner Wenigkeit Mitstreiter, und so wurde im Spätherbst der Verein „Jazz & Musicclub Porgy & Bess“ gegründet. Wir reichten ein Konzept bei der Stadt Wien und beim Bundeskanzleramt ein. Die Kulturpolitik wollte aber den Club nicht so einfach unterstützen, wahrscheinlich auch deswegen, weil sie gar nicht so sehr an einer nachhaltigen Entwicklung in unserem Bereich interessiert war bzw. dem Potenzial der österreichischen Jazzszene überhaupt skeptisch gegenüberstand. Auch gab es bis dahin keinen Jazzclub in Österreich, der öffentliches Geld erhielt. Aber – und das sei positiv vermerkt – die Kulturpolitik ließ mit sich reden!

Porgy & Bess Mitbegründer Christoph Huber.

Es begann ein Pingpong-Spiel: Die Stadt Wien signalisierte, uns unterstützen zu wollen, wenn die Kunstsek-tion des Bundeskanzleramtes dies auch garantiere. Und vice versa. Schlussendlich gewannen wir das Spiel, hauptsächlich weil ein damaliger Kulturberater der Stadträtin Ursula Pasterk meinte, dass das Projekt unterstützt werden sollte, um ein Zeichen zu setzen – und das Porgy & Bess spätestens nach einem Jahr mangels Interesse sowieso zum Scheitern verurteilt sein würde. Da haben sie sich aber geirrt und den sprichwörtlichen Stein ins Rollen gebracht. Ab dem 4. Januar 1994 etablierten wir also unsere Vorstellungen eines modernen Jazzclubs mit täglichem Programm nach unseren inhaltlichen Vorstellungen: mit einem pluralistischen Programmkonzert mit unterschiedlichen musikalischen Schienen, die es auch ermöglichten, dass heimische Musiker mit internationalen Kollegen zusammenarbeiten konnten, im Rahmen einer professionellen Infrastruktur und mit garantierten Gagen. Glücklicherweise stellte sich heraus, dass die Fledermaus-Bar eine exzellente Akustik für verstärkte Musik hatte und es aus unerklärbaren Gründen ausreichte, eine Metalltür zu schließen und somit keine Anrainer lärmtechnisch zu belästigen.
Nach einem schwierigen Start (anfangs waren die Konzerte sehr überschaubar besucht) setzte sich unser Konzept aber langsam durch bzw. überzeugte ein interessiertes Publikum. Das Porgy & Bess wurde zum „meeting point“ der Szene und beheimatete die unterschiedlichen musikalischen Lager, die plötzlich miteinander zu kommunizieren begannen. Da fungierte der Club als Katalysator für die Weiterentwicklung der aktuellen heimischen Jazzszene und es trafen sich Musiker aus den unterschiedlichsten Lagern.
Ab Herbst 1994 haben wir eine sogenannte MemberCard eingeführt, die es dem Inhaber ermöglicht, alle Konzerte ohne weitere Geldleistung zu besuchen. Mit dieser Karte gelang es uns, dass bei jedem Konzert zumindest eine gewisse Anzahl von Besuchern im Club war, das heißt, dass es kaum mehr leere Konzerte gab. Diese Karten, die limitiert aufgelegt wurden, waren am ersten Tag der Ausgabe ausverkauft, die Interessenten standen bis zum Graben. Dieses System funktioniert übrigens bis heute und dient nachhaltig der Finanzierung des Veranstaltungsbetriebs.
Wir erhielten 1994 etwa 30 Prozent des damaligen Gesamtbudgets, exakt je 140.000 Euro von Stadt und Bund für den Jahresbetrieb, wurden aber 1995 um 20 Prozent gekürzt. Diese Summe blieb dann bis vor ein paar Jahren „eingefroren“. Wir hatten in der Spiegelgasse einen fünfjährigen (Sub-)Pachtvertrag, der 1998 auslief. In dieser Zeit organisierten wir circa 1.500 Konzerte mit insgesamt knapp 150.000 Besucher. Das Porgy & Bess konnte sich in diesen Jahren auch international etablieren.
Der wesentlichste Akzent in der Entwicklung des Porgy & Bess zu einem der Top-Jazzclubs in Europa war der Umzug in das ehemalige Rondell-Kino in der Riemergasse. Nach einem langen kulturpolitischen Entscheidungsprozess wurde 1998 das vollkommen devastierte Kino dem Porgy & Bess zugesprochen, mit einem Umbaubudget seitens des Bundeskanzleramtes von 1,1 Mio. Euro und seitens der Stadt Wien von knapp 350.000 Euro. Das Gesamtvolumen betrug in etwa 2,3 Mio. Euro. Der Differenzbetrag wurde vom Verein aufgebracht, u. a. auch durch ein großzügiges Sponsoring unserer Bank bzw. durch ein finanzielles Entgegenkommen des Hauseigentümers.
Interessant ist die (Kultur-)Geschichte des Hauses, die sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt. So gründete eine gewisse Helene Odilon, Frau des beliebten Volksschauspielers Girardi, die Kleinkunstbühne „Boccaccio“, ein Name, den das Lokal in den 1950er-Jahren nochmals hatte, als es als Varieté geführt wurde, bevor es dann zum Rondell-Kino wurde, das Ende der 1980er-Jahren Konkurs anmeldete.

Eingang Rondell-Kino um 1995.

NACH DEM UMZUG
Das Porgy & Bess eröffnete schließlich am 28. Dezember 2000 seine neuen Pforten in einem eigens für unsere Zwecke adaptierten Raum für knapp 350 Besucher. Wir veränderten nichts an unserer Programm-Philosophie und haben seit fast zwei Jahrzehnten jährliche Besucherzahlen von knapp 80.000. International wird der Club als „role model“ eines modernen Jazzclubs gesehen. Der britische „Guardian“ listet das P&B als einen der zehn besten Jazzclubs Europas, das amerikanische Jazzmagazin „Downbeat“ reiht uns seit Jahren unter die „top venues“. Dieses Jahr erhielten wir den „9th EJN Award for Adventurous Programming“ des „European Jazz Network“.
Noch kurz zum aktuellen Budget: 2019 lag das Gesamtbudget bei knapp 1,8 Mio. Euro, wobei knapp 60 Prozent Eintrittseinnahmen inklusive MemberCards sind, etwas weniger als 15 Prozent stammen von der öffentlichen Hand, deutlich mehr als 10 Prozent kommen von privaten Sponsoren, und der Rest sind sonstige Einnahmen, etwa aus der verpachteten Gastronomie, Einschaltungen im Folder etc. Der Eigenleistungsanteil ist also ungewöhnlich hoch. Nebenbei bemerkt beläuft sich der Posten Musikerhonorare auch auf knapp 60 Prozent des Budgets … und das macht uns nicht so schnell wer nach. Abschließend möchte ich betonen, dass das „Randphänomen“ Jazz mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein scheint. So gibt es in Österreich bereits den dritten Bundespräsidenten, der ein deklarierter Jazzfan ist. Das 20. Jahrhundert brachte zumindest zwei Kunstformen hervor, die es vorher nicht gab, nämlich Jazz und Film.
Ich hoffe, dass beide weiter gut gedeihen.


PORGY & BESS
Informationen zu Auftritten finden Sie auf: porgy.at

Die Österreichische neue Moderne

Albertina modern im Künstlerhaus Wien, Eröffnungsausstellung The Beginning, Kunst in Österreich1945-1980.

The Beginning


Mit „The Beginning“ zeigt das neue Museum Albertina Modern im Künstlerhaus österreichische Kunst in den entscheidenden Jahrzehnten nach 1945. Vom Aufbruch nach dem Krieg bis zur Wende 1980.
Text: Helmut Schneider / Fotos: Albertina Wien, Sammlung Dagmar und Manfred Chobot © ART BRUT KG, Maria Lassnig Stiftung / Bildrecht, Wien, 2020, Estate Robert Klemmer


Mit der Albertina Modern besitzt Wien jetzt im komplett sanierten und adaptierten Künstlerhaus ein weiteres großes Museum für die Gegenwartskunst. Auf mehr als 2.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche werden hier zukünftig große Themenausstellungen nationaler wie auch internationaler Kunst nach 1945 stattfinden. Coronabedingt musste die echte Öffnung auf 27. Mai verschoben werden. Dafür ist die erste Ausstellung eine kleine Sensation. Besucher bekommen einen veritablen Überblick über das heimische Kunstschaffen nach dem Zweiten Weltkrieg bis ins Jahr 1980. Studiert werden kann dabei auch, wie schwer es die moderne Kunst in Österreich hatte und wie lange noch das nationalsozialistische Kunstideal vom reinen Schönen nachwirkte. Das Künstlerhaus diente etwa in der NS-Zeit als Ort der berüchtigten Ausstellung „Entartete Kunst“, in der die Nazis pauschal die Moderne verunglimpften. Die Wiener Avantgarde war dann nach dem Krieg lange Jahre auch eine Geschichte von Kunstskandalen.
Wobei die Ausstellungsmacher von „The Beginning“ davon ausgehen, dass es in Österreich nach 1945 stets mehrere Avantgarden gegeben hat. Es herrschten sogar Gräben zwischen dem Phantastischen Realismus – in Österreich die erste künstlerische Erneuerung nach Jahrzehnten der Stagnation und Provinzialisierung – und der abstrakten Malerei, zwischen dem Wiener Aktionismus und der konkreten und geometrischen Kunst.

Albertina modern im Künstlerhaus Wien, Eröffnungsausstellung The Beginning, Kunst in Österreich1945-1980.

Gemeinsame Feinde
Gemeinsam sind den Künstlerinnen und Künstlern dieser Avantgarden die radikale Auflehnung gegen Autorität und Hierarchie, die Kritik an der Verdrängung vergangener Schuld und die kompromisslose Zurückweisung eines reaktionären Kunstverständnisses, das weit über 1945 hinaus in Österreich als Ideal gilt. Gegen dieses Ideal verstoßen die Schreckensbilder des frühen Ernst Fuchs, Anton Lehmden und Rudolf Hausner. Die Wiener Aktionisten von Otto Mühl bis Günter Brus und Hermann Nitsch spielen auf das gängige reaktionäre Kunstverständnis an, während die Abstrakten, Wolfgang Hollegha und Markus Prachensky, dagegen anmalen. Die gesellschaftskritischen Realisten von Alfred Hrdlicka über Reimo Wukounig bis Gottfried Helnwein verfluchen dieses Ideal und Wiens Speerspitze der Art Brut von Franz Ringel bis Peter Pongratz verspottet es.

Erst nach und nach wiederentdeckt wurden die Künstlerinnen, die ab den späten 1960er-Jahren den Konflikt der Geschlechter beziehungsweise die gesellschaftliche Benachteiligung der Frau zum Ausgangspunkt ihrer widerständigen Kunst machen. Sie bekämpfen das reaktionäre Ideal ebenfalls: Die Aktionistin Valie Export und die spätere feministische Avantgarde, von Renate Bertlmann und Friederike Pezold bis Birgit Jürgenssen und Karin Mack, sind es nicht nur leid, sich von Männern repräsentieren und darstellen zu lassen. Sie positionieren sich radikal gegen die patriarchale Gesellschaft, die immer noch von den Geschlechterrollen, Zwängen und Tabus des „Austro-Faschismus“ und „Dritten Reichs“ geprägt ist.
„The Beginning“ widmet aber auch den bedeutenden EinzelgängerInnen Friedensreich Hundertwasser, Arnulf Rainer und Maria Lassnig eigene Räume. Was Skulptur und Objektkunst in diesem Zeitraum leisten, veranschaulichen Hauptwerke von Joannis Avramidis und Rudolf Hoflehner über Wander Bertoni und Roland Goeschl bis Curt Stenvert, Bruno Gironcoli und Cornelius Kolig.

Albertina modern im Künstlerhaus Wien, Eröffnungsausstellung The Beginning, Kunst in Österreich1945-1980.

Epochenabgrenzungen
Es ergibt sich für diese Ausstellung eine Epochengrenze, die über die Besatzungszeit hinausreicht und der erst mit den 1980er-Jahren ein anderer, ein neuer Abschnitt der Kunstgeschichte gegenübersteht. Für die in den 1950er-Jahren geborene Generation waren der Nationalsozialismus und das in ihm verankerte Kunst- und Gesellschaftsverständnis keine Bezugsgrößen mehr. 2021 wird mit „The Eighties“ dieser neue Abschnitt ebenfalls zum Gegenstand einer großen Ausstellung in der Albertina Modern.


„The Beginning“
KUNST IN ÖSTERREICH ZWISCHEN 1945 UND 1980
– Etwa 340 Werke von 74 Künstlerinnen und Künstlern
– Katalog erhältlich um € 49,90 (Deutsch) im Shop der ALBERTINA MODERN und der ALBERTINA
– Öffnungszeiten: täglich 10–18 Uhr
albertina Modern im Künstlerhaus, Erd- und Untergeschoß
Karlsplatz 5 | 1010 Wien –
T +43 (01) 534 83 0
albertina.at

Ideen im Gepäck

Musik lässt mich nicht los


Nach vielen Jahren im Ausland kehrt der erfolgreiche Musikmanager Bogdan Roščić als künstlerischer Leiter der Wiener Staatsoper in seine Heimat zurück – mit vielen Ideen im Gepäck. Ein Interview mit einem Heimkehrer.
Text: Ursula Scheidl / Fotos: Stefan Joham


Eigentlich hatte ich mit einem Interview per E-Mail oder Skype gerechnet, aber Bogdan Roščić macht es lieber persönlich – mit gebotenem Abstand, versteht sich – im großen Sitzungssaal der Bundestheater-Holding. Er ist groß und sehr schlank, spricht tadelloses Hochdeutsch – bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass der geborene Belgrader bis zu seinem 10. Lebensjahr, als er nach Linz kam, kein Wort Deutsch konnte. In der 1. Klasse Gymnasium hatte er bereits ein „sehr gut“ in Deutsch. „Das hat einfach so funktioniert“, erzählt er.

Später Weckruf
Zur Musik fand Bogdan Roščić erst mit 14, dafür dann aber umso heftiger. Als Sohn zweier Ärzte, umgeben von Büchern, wollte auch er Arzt werden.
„Gott sei Dank hat mir rechtzeitig gedämmert, dass ich das – frei nach einem schönen Satz von Goethe – ,zu meinem Wesen nicht gebrauchen kann.‘ Und dann habe ich mich einfach auf das geworfen, was meine Leidenschaft war – die Musik. In Rekordzeit habe ich versucht, in mich hineinzustudieren, was ich konnte, Konzertgitarre, Querflöte, Musiktheorie, aber mir war schnell klar, dass es für einen ausübenden Musiker nicht reichen wird, und vielleicht wollte ich das auch nicht mit letzter Konsequenz.“
Seine Laufbahn startete er als Journalist bei den Tageszeitungen „Die Presse“ und „Kurier“, danach war er Musikchef bei Ö3, wechselte dann zu unterschiedlichen Labels wie Universal, Decca und Deutsche Grammophon, um zuletzt als Präsident von Sony Classical große Karriere zu machen. Im weltweiten Musikbusiness arbeitete er u. a. mit Stars wie Cecilia Bartoli, Anna Netrebko, Jonas Kaufmann, Juan Diego Flórez oder Teodor Currentzis. Ehrgeizig, kompetent und gleichzeitig bescheiden wirkt der Top-Manager und Vater von drei Kindern im ausführlichen Gespräch.

wienlive: Ihr Direktionsantritt fällt in eine schwierige Zeit, worin sehen Sie die Herausforderungen, aber auch Chancen?
BOGDAN ROŠČIĆ: Die Chance liegt darin, dass uns vor Augen geführt wird, wie kostbar das ist, was in diesem Haus Abend für Abend stattfindet. Vielleicht spürt man das nicht so intensiv, wenn die Oper immer spielt. Die Herausforderungen aufgrund der Pandemie liegen einfach darin, dass man die Pläne überhaupt verwirklichen kann. Es gibt Lockerungen, aber wenn die Erkrankungen wieder steigen, könnten die auch wieder zurückgenommen werden. Die große Frage wird sein, wie verläuft die weitere Entwicklung? Ab wann kann man in welchem Umfang proben? Ab wann können unsere Gast-Künstler ins Land? Der Opernbetrieb ist sehr international, es gibt nichts Vergleichbares. An jedem beliebigen Tag arbeiten hier Menschen aus Dutzenden Ländern. Außerdem wird man sehen, wie das Publikum in der Zeit danach reagieren wird. Es gibt vielleicht keine Stadt auf der ganzen Welt, in die mehr Menschen auch wegen der Oper reisen. Wie werden die wirtschaftlichen Verhältnisse sein? Opernkarten können leider auch in Wien zu teuer sein.

Sie haben sich Philipp Jordan als Musikdirektor gewünscht. Haben Sie schon einmal mit ihm gearbeitet?
ROŠČIĆ: Nein. Ich habe aber sehr genau seine Laufbahn als Opern- und Konzertdirigent mitverfolgt. Er ist ja beides und beides auf demselben Niveau. Was mir vor allem präsent war, ist der Aufschwung, den die Pariser Oper in seiner Zeit genommen hat. Auch die Wiener Symphoniker haben mit ihm eine spektakuläre Entwicklung genommen.

Sie starten mit zehn Opern- und drei Ballettpremieren. Was waren Ihre Auswahlkriterien?
ROŠČIĆ: Es geht nicht um einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde, aber die hohe Zahl war mir wichtig. Weil wir bewusst ein Zeichen der Erneuerung des Kernrepertoires setzen wollen. Es sind einige Werke dabei, die nicht nur in Wien zu den meist gespielten gehören. Sie prägen dadurch das Erscheinungsbild, vor allem eines Repertoiretheaters, am meisten. Und ich glaube eben an den gesellschaftlichen Wert des Repertoiretheaters.

Castorf, Neuenfels, Lauwers, Stone – das liest sich wirklich wie das „Who’s Who“ der Regie-Szene. Was muss ein Regisseur für Sie können?
ROŠČIĆ: Es ist fast einfacher zu sagen, was er oder sie nicht machen soll. Ich halte zum Beispiel nichts von Inszenierungen, die nur weltanschauliche Positionen illustrieren, das ist uninteressant und unkünstlerisch. Alle Regisseure, die große Arbeiten abliefern, bebildern nicht, sondern arbeiten absolut werktreu. Sie sind imstande, den ganzen Reichtum, die ganze Emotion, das ganze Universum, das da hineinverdichtet wurde, in zwei, drei Stunden auszupacken und als umwerfendes, essenzielles Erlebnis auf die Bühne zu bringen. Nur darum kann es gehen, nur darum gibt’s dieses Haus. Für Konzerte in Kostümen wurden weder die Opern geschrieben noch wurde dafür die Staatsoper gegründet. Das kann man viel billiger haben.

Die guten Sänger müssen heute auch hervorragende Schauspieler sein. Was ist wichtiger: Regie, Wort oder Musik?
ROŠČIĆ: Man gerät in eine Sackgasse, wenn man versucht, das gegeneinander anzusetzen. Das ist meine tiefste Überzeugung. Natürlich ist die Vorstellung lachhaft, dass jemand in die Oper kommt, um sich die Libretti von großartigen Burgtheater-Schauspielern vorspielen zu lassen. Aber es ist eine unfaire Polemik, weil die Libretti so geschrieben sind, damit sie als Träger für hochkomplexe Musik dienen. Die Komplexität von Shakespeares Sprache ist dafür nicht geeignet. Es muss in der Oper darum gehen, dass das Drama nicht nur gesungen, sondern auch gespielt wird. In Mahlers Worten: „Rein musikalische Erfolge sind ja leider im Theater gar keine Erfolge.“

Abstand ist der neue Anstand. Bogdan Roščić wollte das Interview trotz Corona gerne persönlich führen. Sein Motto: Mit Disziplin ist fast alles möglich.

Sie legen Ihren Schwerpunkt auf Mozart, Wagner und Klassiker des 20. Jahrhunderts. Warum ausgerechnet diese drei?
ROŠČIĆ: Das wird sich in allen Saisonen bis 2024/25 durchziehen. Und aus jedem dieser Schwerpunkte wird es zusätzlich zu anderen Dingen zumindest eine Neuproduktion geben. Weder für Mozart noch für Wagner muss
man eine Lanze brechen. Aber bei Mozart darf gerade in Wien eine ganz besondere Qualität erwartet werden. Ab der zweiten Saison beginnt ein neuer Da-Ponte-Zyklus. Philippe Jordan hat in Paris bei Wagner großartige Dinge geleistet, diese großen Werke in Wien mit unserem Orchester zu machen, war einfach unwiderstehlich. Und die klassische Moderne halte ich einfach für notwendig. Es gibt keine Verbindung zwischen den allerletzten Ausläufern spätromantischer Oper, etwa Richard Strauss, und der zeitgenössischen Produktion. Dazwischen liegt der Grand Canyon, und man muss da für das Publikum eine Brücke bauen und es in diese Klangwelten verführen. Es gibt große Werke der Nachkriegszeit, einiges wurde schon gespielt, aber darauf wollen wir aufbauen.

Auch bei der Kinderoper haben Sie sich einiges vorgenommen …
ROŠČIĆ: Sie ist nur eine von vielen Maßnahmen. Die Kinderoper hat hier eine schöne Tradition. Ich will sie noch stärker in das Haus holen. Wir planen zum Beispiel „Die Entführung aus dem Serail“ aus dem Hauptspielplan auch als Wanderoper für Kinder. An besonderen Orten der Staatsoper jagen die Kinder gemeinsam mit den Darstellern durchs Haus. Natürlich wird es weiterhin auch die Zauberflöte nach dem Opernball geben. Man kann aber nicht bei Kindern stehenbleiben. Was sind die Angebote für Jugendliche, für junge Erwachsene? Kulturvermittlung ist uns ganz zentral wichtig, im Lauf der Zeit wird sehr viel Neues verwirklicht werden.

Sie waren lange Klassikchef bei verschiedenen Labels. Da haben Sie viel digital gehört. Oper ist analog und live. Wie geht es Ihnen damit?
ROŠČIĆ: Ich finde es gut, wenn Menschen bei Spotify oder anderen Anbietern überall auf der Welt die gesamte je aufgenommene Musik hören können, so preiswert und unkompliziert wie es noch nie möglich war. Aber es ist ein ganz anderes, ein einsames Erlebnis, das hat Vor- und Nachteile. Dagegen im Haus hat man diesen unwiederbringlichen Moment in Gemeinschaft mit anderen, das ist etwas Atemberaubendes. Das kann man einfach überhaupt nicht vergleichen.

Was soll man einmal über Ihre Direktion sagen?
ROŠČIĆ: Er hat sich seiner Aufgabe würdig gezeigt.

Was hören Sie privat und wie – analog oder digital?
ROŠČIĆ: Wenig und dann nur Klassik, und das digital, weil bei den vielen Umzügen der letzten 20 Jahre meine Vinylsammlung dran glauben musste.

Haben Sie ein Lieblingszitat?
ROŠČIĆ: Bei Giacomo Leopardi, dem Dichter des Pessimismus, gibt es diese wunderbare Stelle, wo er den Menschen definiert als „Sempre ingannato, sempre ingannabile“. Also: Immer betrogen, nämlich von seinen eigenen Hoffnungen, und immer bereit, sich davon neu betrügen zu lassen. Das kann man in Zeiten wie diesen fast schon als Motto nehmen.


Das neue Wienerlied

Granteln ist „in“


Der Wiener Dialekt ist wieder in, Granteln und Melancholie sowieso. Mit neuen Einflüssen und Weiterentwicklungen feiert das neue Wiener Lied eine wohl verdiente Renaissance. Wir fiebern mit den Künstlern einer baldigen Öffnung der Wiener Kulturszene entgegen.
Text: Ursula Scheidl / Fotos (von oben): Daniela Matejschek, Ingo Pertramer, Astrid Knie, Konstantin Reyer, Wolfgang Seehofer, Stephan Musil


Ernst Molden
Lässig, elegant und ungeheuer vielseitig. Der hoch dekorierte Stadtpoet Ernst Molden ist ein ausgezeichneter Journalist und Romanautor, der Spaß daran hat, absurde Figuren zu erschaffen. Und natürlich demonstriert er auf bisher fünf Alben eine erstaunliche Entwicklung als Singer-Songwriter – Popmusik im Wiener Dialekt nach amerikanischen Vorbildern. Zum Sound seiner elektrischen und akustischen Gitarren erschafft er etwas völlig Neues, das die Wiener Seele zum Schwingen bringt. Mit der herausragenden Schauspielerin Ursula Strauss brachte er neu geschriebene Songs auf besondere Weise zum Erklingen.
ernstmolden.com

Voodoo Jürgens
Sein Debütalbum „Ansa Woar“ wurde gleich mit Gold ausgezeichnet. Die Kunstfigur von David Öllerer erinnert an vergangene Zeiten und an legendäre Serien wie „Ein echter Wiener geht nicht unter“, „Kottan ermittelt“ oder „Kaisermühlen Blues“. Kettenrauchend, mit fettigem Vokuhila und Zuhälterpose aus den 70er-Jahren, hat es der beinahe gescheiterte Liedermacher, dessen Vater ins Gefängnis kam, als er sieben war, geschafft, auch das deutsche Publikum zu überzeugen. Vorzugsweise tritt er in kleinen Bars auf, sie bieten die perfekte Kulisse für seine herrlich schwarzhumorigen Texte.
voodoojuergens.com

5/8ERL IN EHR’N
Dass der Wiener Lebensart ein gutes Schäuferl Soul innewohnt, beweist die fünfköpfige Band mit Hanibal Scheutz, Michaela Liebermann, Clemens Wenger, Max Gaier und Robert Slivovsky (von oben im Uhrzeigersinn) seit 2006 mit Bravour. Sie verwebt behutsam das Todernste mit Euphorie und das Triviale mit Politischem – herauskommt mitreißender Wiener Soul, dem man sich nicht leicht entziehen kann. Die vierfachen Amadeus-Preisträger mit der ganz speziellen Klangfarbe mixen Austropop, Wienerlied, Chanson, Soul und Kabarett und sind in den unterschiedlichsten Musikszenen und im Jazzmilieu ebenso beheimatet wie auf Kleinkunstbühnen.
5achterl.at

Wiener Blond
Frisch und frech singt das Beatbox-Pop-Duo Verena Doublier und Sebastian Radon mittlerweile seit sieben Jahren. Ihr großes Vorbild ist Georg Kreisler, daher schwingt bei ihren Texten immer ein gewisser bissiger Ton mit. Selbstironisch kokettieren sie mehr mit Absurdität als mit Abgründigkeit und kredenzen eine humorvolle Melange in Wiener-Schmäh-Manier.
wienerblond.at

Wanda
Vor sechs Jahren erschien ihre erste Single „Amore“. Die 5-köpfige Rock-Band rund um Sänger Michael Marco Fitzthum erzielte mit dem gleichnamigen Debütalbum „Amore“ auf Anhieb Gold in Österreich. Inzwischen sind die Musiker und ihre zum Teil auf Wienerisch gesungenen, manchmal zynischen Texte absolut Kult! Ohrwürmer wie „Bussi Baby“, „Colombo“ oder „Bologna“ zählen zu den wichtigsten österreichischen Pop-Songs.
wandamusik.com

Agnes Palmisano
Sie erweckte den Wiener Dudler, eine Mischung aus Jodler und Koloraturgesang aus dem Wien des 19. Jahrhunderts, zu neuem Leben. Seit 2011 ist er immaterielles Kulturerbe der UNESCO. Palmisano liebt die Hintergründe und Abgründe der Wiener Musik und singt sich quer durch alle Genres zwischen Wiener Liedern, Couplets, Kabarettchansons und klassischen Liedkompositionen.
agnes-palmisano.at