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Ocean State – Interview mit Stewart O’Nan

©Trudy O’Nan

Mörderische Liebe

In „Ocean State“ erzählt Stewart O’Nan vom Mord unter Teenagern – und von den Bruchlinien der Gesellschaft. Ein Interview.

„Als ich im achten Schuljahr war, half meine Schwester dabei, ein anderes Mädchen zu töten.“ Mit diesem Spannung versprechenden Satz beginnt der in Pittsburgh lebende Autor Stewart O’Nan seinen neuen Roman. Marie erzählt rückblickend von ihrer Schwester Angel, die gegen Ende des Romans gemeinsam mit ihrem Freund Myles wegen Mordes an der ebenfalls in Myles verliebten Birdy vor Gericht steht. Wir sind an der Küste von Rhode Island in einer ehemaligen Industriestadt, in der die Menschen eher schlecht als recht über die Runden kommen. Sogar die Schülerinnen schuften, miserabel bezahlt in Aushilfejobs im Supermarkt & Diner.

Stewart O’Nan, der 2017 mit seinem Roman über ein schließendes Lokal „Letzte Nacht“ Gast bei „Eine Stadt.Ein Buch.“ war, ist ein Meister der Darstellung von gesellschaftlichen Umbrüchen und sozialen Verwerfungen. Als Leser erleben wir Liebe und Neid, Hass, Verzweiflung und Hoffnung sogenannter „einfacher“ Menschen hautnah ohne moralische Verurteilung mit. Am Schluss ist es natürlich die Tochter der geschiedenen Krankenschwester, die länger ins Gefängnis gesteckt wird als der Sohn der reichen Familie.

Wie entstand „Ocean State“? Gibt es einen realen Fall?

Stewart O’Nan: Der Fall, der meinen Roman inspiriert hat, ist der Mord an der 13-jährigen Mary Ann Measles in einer kleinen Flussstadt in Connecticut.

War der eindrucksvolle erste Satz des Romans  gleich zu Beginn Ihres Schreibens da?

Mein ursprünglich erster Satz war „Diesen Sommer lebten wir in einem Haus am Fluss.“ – eine Verneigung vor Hemingways „In einem anderen Land“ und Shirley Jacksons „Wir haben schon immer im Schloss gelebt“. Mein tatsächlicher erster Satz kam also später.

Der Satz bringt natürlich Spannung, aber Sie scheinen mehr an den Umständen als am Mord selbst interessiert, warum?

Das „Wie“ und besonders das „Warum“ ist für mich wichtiger – und dann vor allem die Konsequenzen des Mordes, also wie die Betroffenen damit leben müssen.

Nur eine Person spricht direkt – und zwar ausgerechnet die jüngste, die 13-jährige Marie, die natürlich am wenigsten versteht, warum?

Marie ist ruhig und introvertiert, aber sie ist auch die moralisch Wertende – und bis zum Mord war ihre große Schwester Angel ihr Idol. Ohne ihr Vorbild weiß sie nicht, wie sie sein soll – sie muss sich quasi neu erfinden. Sie versteht die Geschichte nicht ganz, obwohl sie ja auch betroffen ist, und deshalb trägt sie den Roman. 

Sie haben vier Hauptcharaktere, alle sind weiblich, warum?

Die Männer sind in dieser Geschichte schwach und kümmern sich nicht um das, worauf es ankommt, nämlich ihre Familien. Sie sind passiv, wärend Carol, Angel und Birdie die Konsequenzen ihres Handeln tragen müssen.

Die Gegend um Rhode Island scheint wie ein zusätzlicher Charakter im Roman, warum spielt der Roman gerade hier?

Ich habe die Küste von Rhode Island gewählt, weil ich sie besser kenne als die Kleinstadt in Connecticut. Im Lockdown konnte ich auch meine üblichen Erkundungen vor dem Schreiben nicht machen. Und die Küste bringt mehr Romantik und mehr Kontrast.

Der Roman spielt 2009, im ersten Jahr von Obama als Präsident, ist das wichtig für die Geschichte?

Ich wollte eine retrospektive Erzählerin, brauchte also eine Zeit, die zehn Jahre vergangen ist. Es passte auch gut in die Zeit des Zusammenbruchs der Immobilienblase, die wie ein Echo aus der Epoche des Industrieverfalls in den 70er- und 80er-Jahren erschien.

Ich lese den Roman als eine Parabel über Besitz. Beide Mädchen wollen den schönen, reichen Myles?

Ja, daran besteht kein Zweifel. Myles ist eine Trophäe. Sie brauchen ihn als eine Bestätigung ihrer Besonderheit, ihres Wertes. Aber was passiert, wenn sie diese Trophäe verlieren?

Das Streben nach Besitz erzeugt Gewalt – eine Kapitalismuskritik?

Ich denke, es ist mehr eine Warnung davor, was Liebe vermag. Uns in dem einen Moment erhöhen und im nächsten Moment unser Selbstwertgefühl völlig zu zerstören. Liebe macht uns glücklich, aber auch verzweifelt und eigentümlich. Birdy denkt sich Liebe als Besitz, der sie verändern kann und uns Dinge machen lässt, von denen wir wissen, dass wir sie nicht tun sollten.     


Stewart O’Nan: Ocean State
Aus dem Englischen von Thomas Gunkel
Rowohlt Verlag
ISBN: 978-3-498-00268-8
254 Seiten
€24,70

Buchtipp – Fang Fang, Wütendes Feuer

DIE HARTE REALITÄT FÜR CHINESISCHE FRAUEN – HELMUT SCHNEIDERS BUCHTIPP

Die harte Realität für chinesische Frauen – Fang Fangs eindrucksvoller Roman „Wütendes Feuer“.

Das Bild von China ist das der neuen wirtschaftlichen Supermacht mit Millionenstädten, die manche westliche Metropolen wie Kleinstädte ausschauen lassen – doch das ist bestenfalls die halbe Wahrheit. In „Wütendes Feuer“ sehen wir eine andere Wirklichkeit. Die chinesische Schriftstellerin Fang Fang wurde 2020 bei uns mit ihrem Blog aus dem komplett gesperrten Wuhan („Wuhan Diary“) bekannt. In China ist sie, die sich bis dahin niemals offen gegen die Regierung gestellt hatte, aber schon längst eine literarische Größe. Jetzt erschien erstmals in deutscher Übersetzung ihr Roman „Wütendes Feuer“ aus dem Jahr 2002 über die besonders für Frauen schlimmen sozialen Verwerfungen im Zuge der Einführung der kapitalistischen Marktwirtschaft. In den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts boomte plötzlich die Industrie im Süden Chinas und die bis dahin dominierende Landwirtschaft litt unter der Abwanderung der Intelligenz. Nur die Alten und Arbeitsunwilligen blieben zurück. 

Fang Fang schildert nun in ihrem Roman das Schicksal des aufgeweckten Mädchens Yingzhi, das eine für sie fatal falsche Entscheidung trifft, als sie sich mit einem Nichtsnutz einlässt und schwanger wird. Im Dorf herrschen noch die alten patriarchalen Clan-Regeln – mit der Hochzeit wird sie Teil der Familie ihres Mannes und muss für sie arbeiten, während ihr von den Eltern verwöhnter Mann an nichts anderes als seine Vergnügungen denkt und auch noch munter Spielschulden anhäuft.  Zwar kann die als Sängerin begabte Yingzhi bei Auftritten viel Geld verdienen, doch für einen Hausbau reicht es wegen der Spielsucht ihres Mannes nicht. Statt selbst zu arbeiten ist er – bald schon nicht grundlos – eifersüchtig und schlägt sie fast tot. Fang Fang hat die Geschichte in eine Rahmenhandlung gestellt. Im ersten Kapitel sitzt Yingzhi bereits im Gefängnis, aber auch ohne diesen Hinweis ahnen wir als Leser schon bald, dass ihr Schicksal bereits besiegelt war, als sie schwanger wurde. Aber natürlich hofft man bis zum Schluss, dass sich für sie ein Ausweg auftut, sie es als Arbeiterin in den Süden schafft oder zumindest die schwer verpönte Scheidung erzwingen kann.

Die Jahrzehnte des Maoismus samt der verheerenden Kulturrevolution haben die jahrtausendealten chinesischen Strukturen mitnichten verändern können, wie Fang Fang mit ihrer Geschichte von Yingzhi eindrucksvoll aufzeigt. Wir erfahren viel in diesem Roman über den Umbruch in der chinesischen Gesellschaft, der mit Sicherheit noch lange nicht abgeschlossen ist. Der Roman zeichnet ein komplett anderes Bild von China.  


Die harte Realität für chinesische Frauen – Fang Fangs eindrucksvoller Roman „Wütendes Feuer“ ist Helmut Schneiders Buchtipp.

Fang Fang: Wütendes Feuer
Aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann
Hoffmann und Campe
ISBN: 978-3-455-01384-9
206 Seiten
€ 22,70

Buchtipp – Raffaela Romagnolo, Das Flirren der Dinge

Der Fluch der Vorsehung

Helmut Schneiders Buchtipp: Raffaella Romagnolos Nachfolgeroman nach dem Welterfolg „Bella Ciao“.

Die Italienerin Raffaella Romagnolo wurde vor zwei Jahren mit ihrem transatlantischen Familienroman „Bella Ciao“ auch bei uns bekannt. Die im Piemont lebende Autorin kann zweifelsohne packend persönlichen Geschichten erzählen, die innigst mit der Geschichte Italiens verwoben sind. Ganz nebenbei lernt man bei ihr immer auch jede Menge Historie. Das gilt auch für ihren neuen Roman „Das Flirren der Dinge“, in dem Romagnolo das Schicksal eines Waisenkindes in Genua mit der italienischen Freiheitsbewegung unter und nach Garibaldi und Mazzini verknüpft. Antonio wird wie durch ein Wunder vom Fotografen Alessandro Pavia zum Lehrling auserkoren, obwohl er auf einem Auge fast blind ist. Fotografieren in der Mitte des 19. Jahrhunderts war ein kompliziertes Handwerk, man musste mit Platten und Substanzen umgehen können und die Porträtierten durften sich minutenlang nicht bewegen. Pavia, ein überzeugter Republikaner, hat es sich zur Aufgabe gemacht, alle Mitstreiter Garibaldis beim berühmten Zug der Tausend zu fotografieren und die Abzüge dann zu verkaufen. Ein Unternehmen, bei dem er allerdings grandios scheitert und vor seinen Gläubigern in die USA fliehen muss.

Doch sein Lehrling Antonio macht indessen Karriere – auch weil er sich nicht scheut, für die geschäftstüchtige Puffmutter Madame Carmen Abzüge ihrer Modelle anzufertigen. Allerdings lastet auf Antonio der Fluch der Vorsehung. Wenn er mit seinem kranken Auge durch das Objektiv blickt, sieht er den zukünftigen Tod seiner Porträtierten in allen Details. Und das will er bei manchen – vor allem bei Menschen, die ihm lieb sind – sicher nicht sehen…

„Das Flirren der Dinge“ ist ein wunderbar lesbarer Roman, der sich für historisch Interessierte sogar als Strandlektüre eignet – ich brauchte dafür 3 Nachmittage im Bad… Romagnolo kann wirklich sehr gekonnt historische Ereignisse wie den Hungeraufstand in Mailand von 1898, der von König und Armee blutigst niedergeschlagen wurde, in die Handlung integrieren. Und sie schafft es, Personen zu zeichnen, die so lebendig wirken, dass man sich schon nach wenigen Seiten um ihr Schicksal bangt.


Raffaella Romagnolo: Das Flirren der Dinge
Aus dem Italienischen von Maja Pflug
Diogenes Verlag
ISBN: 978-3-257-07196-2
368 Seiten
€ 24,70

Kinderlesefest 2022

Gratis-Lesestoff für die Sommerferien

Bewährtes Konzept, neue Location: Am Sonntag, den 3. Juli 2022 findet erstmals das beliebte Wiener Kinderlesefest im Wiener Prater statt. Pünktlich zum Sommerferienbeginn bildet das Event den krönenden Abschluss der heurigen Wiener Kinderlesefest-Tour – Kinder und Jugendliche zwischen 4–14 Jahren erwartet dabei ein spannendes Rahmenprogramm.
Foto: Stefan Joham

Ein besonderes Highlight für alle Bücherwürmer und solche, die dies noch werden wollen: Sie können sich beim Wiener Kinderlesefest mit Lesestoff für die Sommerferien eindecken – und das kostenlos. Außerdem lesen bekannte Kinderbuchautor*innen aus ihren Werken an verschiedenen Locations im Wiener Prater, wie zum Beispiel im „Kinderlesefest-Waggon“ des Riesenrads oder im beliebten Schweizerhaus. Das ist die Gelegenheit für junge Bücherfreunde, ihre Lieblingsautoren endlich einmal persönlich kennenzulernen und live zu erleben: So liest u.a. G&G Verlagsautorin Sabina Sagmeister aus ihrem Buch „Wolfsblick“. Ferdinand Auhsers Kamishibai- Erzähltheater begeistert mit einer aufregenden Geschichte, einem riesengroßen Kamishibai, tollen Bildern und natürlich jeder Menge Musik. Und Wiens Kinderbuchautor Reinhard „WIENY“ Mut erzählt „Sagenhaftes“ aus seinem neuesten Buch „Alle Neune – Der sagenhafte Stephansdom“.

Alle Infos und das Programm gibt es auf: kinderlesefest.at

Bewährtes Konzept, neue Location: Am Sonntag, den 3. Juli 2022 findet das beliebte Wiener Kinderlesefest im Wiener Prater statt.

„Mit dem Wiener Kinderlesefest setzt sich unser Haus bereits seit 11 Jahren dafür ein, Kindern den Spaß am Lesen näherzubringen. Denn Lesen bietet die einzigartige Möglichkeit, in fremde Welten einzutauchen, sich auf Phantasiereisen zu begeben und jede Menge Abenteuer zu erleben – daher freuen wir uns sehr, dass wir jedes Jahr auf die Unterstützung starker Partner und namhafter Verlage aus Österreich, Deutschland und der Schweiz zählen können, um gemeinsam die Lesefreude von Kindern und Jugendlichen zu wecken und zu fördern. Die Ferienlektüre ist auch in diesem Jahr gesichert!“, erklärt echo-event-Geschäftsführer Christian Pöttler.

Der Wiener-Kinderlesefest-Bus tourt im „Lesemonat Juni“ durch die Wiener Volksschulen. Im Rahmen des 11. Wiener Kinderlesefests werden rund 40.000 Kinder- und Jugendbücher der renommierten Partnerverlage wie etwa G&G Verlag, Arena, Bastei Lübbe, cbj und Beltz an Kinder in Wien verteilt.

Den ganzen Juni über liefert der „Wiener Kinderlesefest“-Bus spannende Bücherpakete an die Wiener Volksschulen – eine Gratis-Aktion, zu der sich alle Volksschulen in ganz Wien anmelden konnten. Außerdem startet im Juni 2022 auch wieder die erfolgreiche Vorlese-Initiative „Lies mit“, die den Spaß am Lesen bei Volksschulkindern fördern soll. Alle Lehrer*innen der teilnehmenden Schulen erhalten dabei ein eigenes „Vorlesebuch“, aus dem sie ihren Schüler*innen vorlesen sollen.

Die Initiative richtet sich aber nicht ausschließlich an Wiener Volksschulen. Lesen und Vorlesen kann man immer und überall. Fotos von der Vorlese-Aktion können und sollen gepostet werden, und zwar auf der Facebookseite @WienerKinderlesefest mit dem Hashtag #kinderlesefest oder können auch per Mail geschickt werden an kinderlesefest@echo.at – die Einsendungen werden im Anschluss in der Galerie auf www.kinderlesefest.at veröffentlicht. Unter allen Einsendern werden tolle Bücherpakete der Partnerverlage sowie limitierte Plätze für eine Fahrt im „Kinderlesefest-Waggon“ im Wiener Riesenrad am 3. Juli 2022 verlost.

Das Wiener Kinderlesefest versteht sich als moderne Leseförderung – Lesen soll als positives Erlebnis erfahrbar werden. Denn Lesen ist eine Bereicherung für alle Menschen, niemand soll von dieser lustvollen Erfahrung ausgeschlossen bleiben.


Unser großer Dank gilt vor allem unseren langjährigen Unterstützern, insbesondere der Stadt Wien und der Wiener Städtischen Versicherung. Weiters bedanken wir uns bei unseren zahlreichen Partnern, wie unter anderen Bauer Medien, McDonald’s, der Industriellen Vereinigung Wien, G4S, Prater Wien, Thalia, Bildungsdirektion Wien und Münze Österreich.

Buchtipp – Dirk Kurbjuweit, Der Ausflug

Menschenjagd im Flussdelta

Vier Berliner Freunde seit Jugendtagen wollen sich mit Paddeln und gemütlichen Picknicks ein nettes Wochenende an einem Flussdelta gönnen.

Alle vier sind gut drauf und halbwegs mit ihren Leben zufrieden. Doch als sie am Abend vor dem Paddelausflug im örtlichen Gasthof zu Abend essen, schlägt ihnen Feindlichkeit entgegen – speziell Josef, der zwar in Deutschland aufgewachsen und als Apotheker in Berlin hochangesehen ist, dessen Hautfarbe aber schwarz ist. Man verwehrt ihm den Gang aufs Klo, was alle vier natürlich empört. Sollen sie den Ausflug abbrechen?

Dirk Kurbjuweit – im Hauptberuf Spiegel-Journalist – hat schon einige spannende Romane vorgelegt. In „Der Ausflug“ geht es um Fremdenfeindlichkeit, und dabei natürlich nicht nur unter der Landbevölkerung, denn Kurbjuweit stellt auch die liberale Gesinnung der vier Freunde auf die Probe. Als sich die vier – die Geschwister Bodo und Amalia sowie Gero und Josef – verirren, werden sie nach einer Reihe von unangenehmen Zwischenfällen mit den Landbewohnern mittels eines mit einer Drohne transportierten Pakets vor eine schwere Entscheidung gestellt. Im Paket befindet sich nämlich nebst einem Revolver mit einem Schuss Munition ein Zettel, der ihnen den sicheren Tod in Aussicht stellt, wenn sie Josef nicht umbringen. Niemand zweifelt daran, dass das bitterernst gemeint ist. Die letzten Seiten des Romans lesen sich dann naturgemäß wie ein Thriller, das Ende soll hier auch nicht verraten werden. Kompliziert ist die Story auch, weil Josef einmal mit Amalia zusammen war und sie ihr gemeinsames Kind abtreiben ließ, ohne ihm davon zu erzählen. Sie begründet das mit der ungünstigen Zeit noch vor dem Studium, er sieht darin ein Ressentiment gegenüber seiner Hautfarbe. Interessanterweise weigert sich der Autor das N-Wort auszuschreiben, obwohl natürlich klar ist, dass es zumindest die Landbevölkerung verwendet. Wozu das gut sein soll, ist fraglich, denn wie soll man über etwas schreiben ohne es zu benennen?

„Der Ausflug“ ist ein spannendes Buch zu einem wichtigen Thema, das sich problemlos an einem Wochenende lesen lässt. Eine differenziertere Personenzeichnung hätte der Geschichte allerdings gutgetan, die Einheimischen sind bloß wandelnde Klischees. Mitten im Roman verweist Kurbjuweit auch noch auf eine berühmte Szene in Joseph Conrads „Herz der Finsternis“, ohne dass er mit dem eingeführten Personal – einem Guru samt weiblicher Gemeinde – viel anfangen kann.


Dirk Kurbjuweit: Der Ausflug
Penguin Verlag
ISBN: 978-3-328-60171-5
188 Seiten
€ 20,60

Das war Rund um die Burg 2022


Großes Aufatmen bei „Rund um die Burg“: Endlich konnten wieder Live-Begegnungen mit Buchautorinnen und Buchautoren stattfinden – wie zum Beispiel zwischen Autorin Renate Welsh und Moderator Günter Kaindlstorfer (Beitragsbild).
Foto: Stefan Burghart


Gut klimatisiert und ohne störenden Verkehrslärm ging Ende Mai „Rund um die Burg“ erstmals live in der Bel Etage des Café Landtmann (und nicht wie in den Vorjahren im Zelt) über die Bühne. Das Programm war so vielfältig wie nie: elf Stunden lang wechselten sich Stars aus der Literatur und des Sachbuchs wie Doron Rabinovici, Florian Scheuba, Renate Welsh, Stefan Kutzenberger oder Daniel Wisser im Halbstundentakt ab. Das interessierte Publikum hatte auch die Gelegenheit, die Bücher vor Ort – Büchertisch von Buchkontor – zu kaufen und sich signieren zu lassen. Programmmacher Helmut Schneider: „Unsere Gäste freuten sich sehr, endlich wieder direkt mit den Autorinnen und Autoren reden zu können. Literatur braucht das Gespräch“.

In schwierigen Zeiten sind Unterstützer besonders wichtig – heuer waren dies vor allem Bauer Medien und die Wiener Städtische Versicherung. Doris Wendler, Vorstandsdirektorin der Wiener Städtischen: „Das Lesen von Büchern ist nicht nur ein Freizeitvergnügen, sondern auch eine unverzichtbare Grundkompetenz und entscheidend für den Bildungserfolg. Bücher helfen uns dabei, die Welt zu verstehen und unseren Horizont zu erweitern“. Da sämtliche Lesungen auch gestreamt wurden, können sie bequem weiterhin im Internet nachgesehen werden.


rundumdieburg.at

Buchtipp – Tash Aw, Wir, die Überlebenden

Moderne Sklaven


In Tash Aws Roman „Wir, die Überlebenden“ erzählt ein zum Mörder Gewordener vom Arbeitsalltag in Malaysia. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.


Liest man heimische Zeitungen könnte man meinen, alle Abgehängten dieser Welt würden nach Europa kommen und unseren Arbeitsmarkt überschwemmen. Tatsächlich finden die wirklich großen Migrationsbewegungen anderswo statt. Etwa in Asien, wo es klare Abstufungen des Elends in Ländern wie China, Indien, Bangladesch, Indonesien, Thailand und Malaysia gibt. Zwischen diesen Staaten findet ein meist illegaler Austausch von Arbeitskräften statt, die oft für nicht viel mehr als ein bisschen Essen und ein Wellblechdach über dem Kopf in der sengenden Sonne schuften. In Malaysia, wo Tash Aws Roman „Wir, die Überlebenden“ spielt, gibt es zusätzlich noch den Stadtstaat Singapur, der mit seinem unglaublichen Wohlstand sozusagen das Maß aller Dinge ist und für viele aus Malaysia das unerreichbare Ziel ihrer Wünsche darstellt.

Die Hauptperson des Romans – Ah Hock – ist chinesischer Abstammung und wächst an einer kleinen Küstenstadt auf, die vom Fischfang und immer mehr von der Palmölindustrie lebt. Er ist ein Außenseiter, lebt bei seiner Mutter und beide haben nicht viel zum Leben. Wie der Leibhaftige kommt aber plötzlich ein älterer Mitschüler in sein Leben – Keong ist der typische kleine Gangster, der schon in der Hauptstadt Kuala Lumpur auf dem Weg zur kriminellen Karriere eingeschlagen hatte, ehe seine Mutter ihn jäh in eine Kleinstadt verfrachtete um ihn vor dem endgültigen Abrutschen in die Kriminalität der Millionenmetropole zu bewahren. Gemeinsam leben sie dann aber nach der Schule wieder in KL wie Kuala Lumpur im Buch genannt wird, Ah Hock verdingt sich als Kellner, Keong verfolgt weiterhin eher erfolglos halbseidene Geschäfte.

Als Ah Hock in seiner kleinen Heimatstadt eine gute Anstellung als Aufseher und Mädchen für alles in einer Fischzucht findet, ist er froh, Keong nicht mehr sehen zu müssen. Er heiratet sogar und kann sich ein kleines Häuschen leisten. Doch als alle Arbeiter plötzlich während der Abwesenheit des chinesischen Chefs erkranken und die Fischzucht zu verrotten droht, trifft sich Ah Hock wieder mit Keong und das Unheil nimmt seinen Verlauf. Keong verspricht, Arbeiter aufzutreiben, bei einem Treffen mit einem weiteren Vermittler kommt es aber zu einem Streit und Ah Hock erschlägt den Mann aus Bangladesch um Keong zu retten mit einem Stock.  Der Roman setzt ein, als Ah Hock bereits seine Gefängnisstrafe abgesessen hat und höchst bescheiden wieder in seiner Heimatstadt lebt, wo er der aus New York nach Malaysia zurückgekehrten Dissertantin Su-Min sein Leben erzählt. Geschickt deutet Tash Aw auch Su-Mins Schicksal in einer besseren Familie an. Sie kann studieren, erträgt aber die Korruption und die Ungerechtigkeiten in ihrer Heimat nur schwer, während sie Ah Hock als völlig normal empfindet.

Tash Aw selbst konnte als Sohn malaysischer Eltern in Großbritannien studieren und lebt inzwischen in der Provence, wo er neben seiner schriftstellerischen Arbeit auch für die NYT und die BBC schreibt. Seine Sprache wirkt nüchtern, aber immer treffsicher. So kann er die Welt, in der Menschen nur im Stück gezählt werden und es keine soziale Absicherung für Arbeitskräfte gibt, in ihrer Brutalität schonungslos abbilden. Ein wichtiger Roman, der uns erlaubt, über den Tellerrand zu blicken.


Tash Aw: Wir, die Überlebenden
Aus dem Englischen von Pociao und Roberto de Hollanda
Luchterhand
ISBN: 978-3-630-87623-8
416 Seiten
€ 24,70

Jetzt geht’s Rund um die Burg 2022

Endlich wieder live!


Das Fest der Literatur, Rund um die Burg, findet heuer endlich wieder live statt! Und zwar heute am Freitag und morgen am Samstag im Landtmann Bel Etage. Alle Lesungen & Diskussionen werden auch ins Café und ins Netz gestreamt. Der Eintritt ist frei!


Beim beliebten Buchfestival „Rund um die Burg“ können heuer wieder Gäste allen Autorinnen und Autoren persönlich begegnen. Nach den Lesungen und Diskussionen gibt es auch wieder die Möglichkeit, sich die Bücher signieren zu lassen – die Buchhandlung „Buchkontor“ ist im Landtmann Bel Etage (im ersten Stock über dem Café Landtmann, Eingang Oppolzergasse 6, Eintritt frei!) vor Ort. Und das Programm ist heuer so vielfältig wie noch nie. Heimische Literaturstars lesen neben aus TV & Bühne bekannten Autorinnen und Autoren.

Österreichs Literaturdoyen Renate Welsh wird etwa am Freitag ihr Plädoyer für die Literatur als Hoffnungsträger der Zukunft präsentieren, Daniel Wisser hat 22 Short-Stories über Frauen in allen Lebensituationen geschrieben und auffallend viele spannende Debütromane sind heuer zu entdecken – wie etwa „Luftpolster“ von Lena-Marie Biertimpel oder „Die dritte Hälfte eines Lebens“ von Anna Herzig.

Am Samstag widmet sich Kabarettstar Florian Scheuba in seinem neuen Buch den entlarvenden Chats aus der Regierungsebene und Publikumsliebling Lilian Klebow denkt über einen zeitgemäßen Feminismus nach. Dazu gibt es eine Diskussionsrunde mit bekannten Fotografinnen Christine de Grancy und Pamela Rußmann und dem Fotografen Lukas Beck über Fotografie und Fotobücher heute.

„Rund um die Burg“ dankt der Magistratsabteilung 7 Kultur der Stadt Wien, der Wiener Städtischen Versicherung, dem Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport und dem Café Landtmann. Erst deren Unterstützung ermöglicht die Veranstaltung dieses schon traditionellen, weit über die Grenzen Wiens hinaus bekannten Wiener Buchfestivals.

Informationen & Details auf: https://rundumdieburg.at/

Das Programm

Freitag, 20. Mai

14.45 Eröffnung

15.00 Daniel Wisser: Die erfundene Frau (Luchterhand)

15.30 Lena-Marie Biertimpel: Luftpolster (leykam)

16.00 Renate Welsh: Hoffnung lebt vom Trotzdem (Czernin)

16.30 Christian Klinger: Ein Giro in Triest (Picus)

17.00 Iris Blauensteiner: Atemhaut (K&S)

17.30 Peter Karoshi: Zu den Elefanten (Leykam)

18.00 Georg Biron: Birons Welt (Wieser)

18.30 Otto Brusatti: Der Gaukler mit Beethoven & Co. (Morio Verlag)

19.00 Conny Bischofberger: Eisschwimmen (edition a)

19.30 Chris Lohner: Ich bin ein Kind der Stadt (echomedia buchverlag)

20.00 Andrea Roedig: Man kann Müttern nicht trauen (dtv)

20.30 Stefan Kutzenberger: Kilometer Null (berlin verlag)

21.00 Doron Rabinovici: Die Einstellung (Suhrkamp)

Samstag, 21. Mai

10.00 Michael Schottenberg: Wien für Entdecker (Amalthea)

10.30 Franziska Waltz/Claus Schönhofer: Plötzlich ein Foto (echomedia buchverlag)

11.00 Christine de Grancy: Über der Welt und den Zeiten (Verlag Die2); Lukas Beck: Wien pur (echomedia buchverlag); Pamela Rußmann: Irgendwann geht auch das vorbei (leykam)

12.00 Florian Scheuba: Wenn das in die Hose geht, sind wir hin (Zsolnay)

12.30 Lilian Klebow: Reise zurück zu mir (edition a)

13.00 Faika El-Nagashi/Mireille Ngosso: Für alle, die hier sind (K&S)

13.30 Anne Herzig: Die dritte Hälfte eines Lebens (OMV)

Buchtipp – Michael Schottenberg, Schotti to go: Wien für Entdecker

Reif für die Insel


Am Samstag wird Michael Schottenberg bei „Rund um die Burg“ sein neues Buch mit Wiener Entdeckungen vorstellen. Wir bringen einen gekürzten Ausschnitt daraus als Vorgeschmack.


Heute noch bekommen Millionen Zuhörer auf der ganzen Welt Gänsehaut, wenn am Neujahrstag die Primgeige des weltbesten Orchesters den Evergreen ‚Drauß’t in Hietzing gibt’s a Remasuri, dulli dulli dulli …‘ intoniert. Die Donau gilt als die mit Abstand smoothigste Botschafterin Wiens, keine andere Stadt hat sich das (trübe) Gewässer derart eingemeindet wie sie. Ob ‚Donaumonarchie‘, ‚Donauwelle‘, die heutige ‚Donau-City‘ oder der flächenmäßig größte Wiener Gemeindebezirk
‚Donaustadt‘: In Wien, scheint’s, ist die Donau zu Hause – und die Donauinsel mit ihr.

Der ‚Wasserrechtliche Bescheid‘ erfolgte am 7. Juli 1970, zehn Monate nachdem der Gemeinderat die Pläne für den Bau der Insel endgültig absegnete. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie in den Rathausschubladen bereits eine dicke Staubschicht angesetzt, denn schon im Jahre 1957 präsentierte der Ziviltechniker August Zottl seine Idee eines dauerhaften Hochwasserschutzes, um den regelmäßig wiederkehrenden Fluten Einhalt zu gebieten. Zottls Vision hatte es in sich, und die Rathausmänner schüttelten so lange ihre Köpfe, bis sie ergrauten. Ein ganzes Jahrzehnt lang wieherte der Amtsschimmel, bis gegen Ende der Neunzehnsechziger eine neue Generation von Rathausbeamten den Lurch von Zottels Plänen pusteten. Grund: Immer öfter gerieten Teile der Brigittenau, der Leopoldstadt, der Donaustadt und Floridsdorfs ‚Land unter‘.

Im Jahre 1972 griffen PolitikerInnen beherzt zum Spaten, sie zerschnitten rot-weiße Bänder, Sektflaschen knallten gegen mannshohe Baggerräder und vom Rathauskeller wurden verwelkte Eibrötchen angekarrt. Man feierte den Beginn des größten Bauvorhabens in der Geschichte Wiens: Die Zottel-Insel sollte die Stadt nicht nur vor unberechenbaren Donauwellen schützen, auch das allzu lang brachliegende ‚Inundationsgebiet‘ mag durch das neugewonnene Land Sinn bekommen. Wofür die Insel sonst noch herhalten sollte war zu Baubeginn noch keineswegs geklärt, also erfand man den Begriff ‚Naherholungsgebiet‘. Er wurde zum Zauberwort der Stunde. Man grub, schaufelte, ebnete und man pflanzte an – immer unter dem kritischen Blick kleinformatiger Auguren. Im Jahre 1988 war die Bauphase beendet. Der Visionär August Zottl sollte sein Lebenswerk nicht mehr erleben, er starb vier Jahre vor der Eröffnung ‚seiner‘ Insel.

Wien wäre nicht Wien, wenn nicht auch die Donauinsel mit ihrem Traummaß von mehr als zwanzig Kilometer Länge und einer Wespentaille
von knapp dreihundert Meter, immerwährender Kritik ausgesetzt gewesen wäre. Von ‚Fadennudel‘, ‚Spagetti-Insel‘ bis zu ‚Pissrinne‘ war die Rede. Die fesche, junge Dame aber überstand alle Schmähungen. Heute gilt die Insel als eine der Topattraktionen der Stadt, mehr noch, man berühmt sich großzügig angelegter Erholungsflächen und mannigfaltigster ökologischer Lebensräume für selten gewordene Tier- und Pflanzenarten. Baumbestände blieben durch intelligente Dammführung bestehen, Donau-Altarme wurden in neu geschaffene Landschaftsgestaltung integriert. Knapp zwei Millionen Bäume und Sträucher ergaben einhundertsiebzig Hektar Wald und, dem nicht genug, wurden sage und schreibe zweiundvierzig Kilometer Stadtstrand geschaffen. Vergleichbares bietet wohl keine andere Großstadt der Welt.

Auch ich nehme kommunales Angebot dankbar an und radle an Hundstagen, oder aus Recherchegründen, ins Grüne, verlasse die Untergrundlinie Nr. 1 an der Station ‚Donauinsel‘ und halte die Nase in Richtung Instinkt und Idylle. Von weitem schon grüßen die Hubkräne des Container Terminals in der Hafenstraße. Hier liegen meine bevorzugten Wege. Ich stapfe in Richtung Hüttenteich, lausche andächtig dem mannigfaltigen Geunke, Getschilpe, Getrapple und treibe mich am Donauufer entlang. Die vielfältigsten Vogelstimmen sind hier zu hören. Die Insel beherbergt nicht nur eine außergewöhnliche Kleintierwelt, auch Rehe und Hirsche lugen zwischen den Büschen hervor – Wasserfrosch und Ringelnatter ebenso wie Bergunken und Erdkröten. Man braucht bloß seine Sinne zu schärfen, andernfalls man blind und taub durch eine Welt voller Wunder spazierte. Nichts aber erfüllt so sehr mit Glück wie die Ruhe, die das Naturparadies dem Erholungssuchenden schenkt.

Auf einem Holzsteg mache ich es mir bequem. Es ist früh am Morgen und ich schließe die Augen. Die Tiere sind gerade dabei, ihr Tagewerk zu beginnen. Kleine, geschäftige Lebewesen folgen ihrer Bestimmung, alles profitiert vom Tun des Nächsten und setzt sich zu einem unentwirrbaren, Sinn machenden Ganzen zusammen. Dieser über jeden Interpretationsversuch erhabene Mikrokosmos ist sich selbst genug und belässt es beim Wunder alltäglichen Seins. Ich bekomme nicht genug davon, die Vielfalt an Leben ringsum zu betrachten und empfinde mich als Mittelpunkt einer Welt, die lebt und da ist und nie, nie vergehen wird.

Michael Schottenberg liest am 21. Mai bei Rund um die Burg, Infos unter rundumdieburg.at  

Michael Schottenberg: Schotti to go – Wien für Entdecker
ISBN: 978-3-99050-221-1
224 Seiten
Amalthea Verlag
€ 25,–

Buchtipp – Guillermo Arriaga, Das Feuer retten

Eine unmögliche Liebe in Mexiko


Guillermo Arriaga gehört zu den bekanntesten und erfolgreichsten Drehbuchautoren („Amores Perros“, „21 Gramm“ oder „Babel“) und Schriftsteller Mexikos. Der nun in deutscher Übersetzung erschienene 800-Seiten-Roman „Das Feuer retten“ erhielt 2020 den prestigeträchtigen „Premio Alfaguara de Novela“ und rangierte ein Jahr lang auf dem ersten Platz der mexikanischen Buch-Charts. Es ist die Geschichte einer Liebe zwischen verschiedenen Klassen, die es eigentlich nicht geben kann – so aussichtslos ist sie.


Die aus besten Kreisen stammende, wohlhabende Tänzerin Marina Longines – verheiratet mit einem braven, erfolgreichen, aber faden Mann und Mutter dreier Kinder – lernt bei einem Auftritt mit ihrer Tanzgruppe im Gefängnis den wegen mehrfachen Mordes verurteilten Indio José Cuauhtémoc kennen. Der ist aufgrund einer traumatisierten Kindheit mit einem Kämpfer für Indio-Rechte als Vater allerdings hochgebildet und kennt sich bestens in der Welt der Kultur und Bildung aus. Lange Zeit kann Marina ihrer Liebe frönen, inklusive Sex im Gefängnis – wenn man die richtigen Menschen schmiert, geht in Mexiko fast alles. Nur die engsten Freunde wissen Bescheid, nicht aber ihr Mann. Wobei die Geschichte von Tag zu Tag komplizierter wird, denn JC – wie José Cuauhtémoc genannt wird – hat eben eine kriminelle Vergangenheit, die ihn einholt. Er ist nämlich schon zum zweiten Mal wegen Mordes verurteilt. Das erste Mal hat er seinen dementen Vater, der ihn bis zum letzten Atemzug zu quälen versuchte, angezündet. Und wieder in Freiheit geriet er trotz redlichen Bemühens über einen Freund mitten in einen Narcos-Bandenkrieg. Leider vergnügt er sich auch mit der Freundin des Freundes als dieser in die Berge flüchten muss. Als dieser dahinterkommt, verfolgt er JC mit blankem Hass. „Das Feuer retten“ ist auch ein veritabler Rache-Thriller wie man den Roman überhaupt auch als eine etwas kolportagehafte Narcos-Räuberpistole lesen könnte. Arriaga erzählt im Original in einem mexikanischen Unterschichts-Slang an dem sich die deutsche Übersetzung von Matthias Strobel mittels deftigem Vokabular und vielen englischen lautmalerischen Phrasen herantastet. Politisch korrekt kann das natürlich niemals sein, bei einigen Beschreibungen von Frauen zuckt man richtig zusammen und auch die Sexszenen sind in ihrer Ausführlichkeit deutlicher als man das als Leser wünscht.

Das große Plus des Romans sind aber die Schilderungen der sozialen Wirklichkeit des Landes. Die große Mehrheit der Mexikaner schuftet sich ab, ohne jemals auch nur in die Nähe eines sorgenfreien Lebens kommen zu können. Schlimmer noch – im Krieg zwischen den Drogenbanden und der Regierung stehen sie immer in der Schusslinie. Die Korruption zerfrisst jede staatliche Sicherheit – wer zahlt, schafft an, Gesetze sind Auslegungssache. Mexiko ist ein gespaltenes Land: „12 der 100 reichsten Menschen der Welt sind Mexikaner. Gleichzeitig sind 55 Prozent der mexikanischen Bevölkerung sehr arm. Diese Widersprüche haben nun ihren Siedepunkt erreicht“, erklärte Guillermo Arriaga kürzlich in einem Interview.

Warum man sich die 800 Seiten dann doch gerne antut? Arriaga kann spannend erzählen und bietet auch textlich viel Abwechslung. So lässt er den Bruder der Hauptperson die gemeinsame grausame Jugend erzählen und zwischendurch sind immer Texte von Gefangenen eingestreut, die beim Schreibseminar mitgemacht haben. So erfährt man wie die zu Verbrecher Gewordenen ticken (auch wenn die vermeintlichen Dokumente natürlich viel zu literarisch sind). Marina erzählt in der ersten Person und JC wird auktorial dargestellt.

Und natürlich will man wissen, wie die Geschichte ausgeht – und das verrät der Autor als geschickter Drehbuchschreiber natürlich erst am Schluss. Vielleicht wird der Wälzer ja auch noch ein Film…


Der nun übersetzte Roman „Das Feuer retten“ von Guillermo Arriaga ist die Geschichte einer Liebe zwischen verschiedenen Klassen.

Guillermo Arriaga: Das Feuer retten
Aus dem Spanischen von Matthias Strobel
Klett-Cotta Verlag
ISBN: 978-3-608-98440-8
800 Seiten
€ 28,80