Beiträge

Kriminacht mit Leo-Perutz-Preis

Die Kriminacht ist seit Jahren Partner des Leo-Perutz-Preises, der deshalb auch im Rahmen der Kriminacht – heuer am 23. Oktober – vergeben wird. Der Preis wird von der Stadt Wien Kultur und dem Hauptverband des Österreichischen Buchhandels vergeben. Die Stadt Wien Kultur stiftet dabei das Preisgeld in der Höhe von 5.000 Euro. 

Jetzt wurde die Shortlist für den Leo-Perutz-Preis für Kriminalliteratur 2025 bekanntgegeben. Folgende Titel, in alphabetischer Reihenfolge sind nominiert:

Petra Hartlieb – Freunderlwirtschaft (DuMont Buchverlag)
Gudrun Lerchbaum – Niemand hat es kommen sehen (Haymon Verlag)
Annemarie Mitterhofer – Wiener Enzianmord (Gmeiner-Verlag)
Ursula Poznanski – Teufels Tanz (Knaur Verlag)
Thomas Raab – Der Metzger gräbt um (Haymon Verlag)

Alle Nominierten werden am 23. Oktober bei der Kriminacht in verschiedenen Wiener Kaffeehäusern bei freiem Eintritt aus ihren Werken lesen. 

Die Jury
Die Jury 2025 bestand heuer aus Sylvia Fassl-Vogler (Stadt Wien Kultur), Ingrid Rehusch (ORF), Heinrich Steinfest (Leo-Perutz-Preisträger 2024) und Sascha Wittmann (Buchhandlung Bücher Wittmann).

Der Preis
Mit dem Leo-Perutz-Preis, der jährlich vergeben wird, sollen Krimis ausgezeichnet werden, deren Qualität und literarischer Anspruch an den namensgebenden österreichischen Literaten erinnern. Darüber hinaus sollen die ausgezeichneten Werke möglichst innovativen Charakter haben und einen Wien-Bezug aufweisen.

Im Vorjahr ging der Preis an Heinrich Steinfest für seinen Kriminalroman „Gemälde eines Mordes“. Leo Perutz (1882 – 1957), in Prag geborener österreichischer Schriftsteller, war ein Pionier des phantastischen Romans, am bekanntesten sind seine Werke „Der Meister des jüngsten Tages“ und „Nachts unter der steinernen Brücke“.

Die Termine der Lesungen werden nach dem Sommer auf kriminacht.at zu finden sein. (Foto von Leo Perutz: Zsolnay Verlag)

Der Sommer ist mörderisch in Wien

Der verrückte Literaturbetrieb in Berlin – Nell Zinks „Sister Europe“

Screenshot

Die Kalifornierin Nell Zink lebt seit 2000 in Deutschland und schreibt hier gut lesbare, aber auch literarisch anspruchsvolle Romane. In ihrem Neuesten nimmt sie Berlins Kulturszene auf die Schippe. Mit schillernden Figuren. Da ist etwa der Sohn des Kunstkritikers Demian, der sich als Mädchen fühlt und in aufreizender Kleidung vergeblich versucht, am Strich Karriere zu machen. Damians Freund ist ein Amerikaner, der im Berlin der Umbruchsjahre mäßig faktenbasierte Büchlein für Pop-Fans bei Konzerten vertreibt. Und da ist ein arabischer Geschichtenerzähler, der voll von Vorurteilen ist, aber dem ein Literaturpreis verliehen werden soll. Eine eher fade Angelegenheit, bei der zum Entsetzen der Gäste nicht einmal Alkohol ausgeschenkt werden darf. Alles kulminiert in einer langen Nacht, in der auch ein vertrottelter Polizist Jagd auf den verhinderten Stricher macht. Mittendrin ist eine Enkelin von schwer belasteten Nazis, die als vermeintliche Widerstandskämpferin eine Villa mitten in Paris für sich retten konnte.

Der Roman ist zweifelsohne sehr amüsant geraten, viel Tiefgang sollte man diesmal bei Zink allerdings nicht erwarten. Sicher nicht das beste Buch der sonst so zuverlässigen Autorin.

Nell Zink: Sister Europe. Aus dem Englischen von Tobias Schnettler. Rowohlt, 268 Seiten, € 25,95

Arno Geigers Buch über seinen alzheimerkranken Vater  heuer bei „EineStadt.EinBuch.“

Als 2011 Arno Geigers „Der alte König in seinem Exil“ über die Alzheimererkrankung seines Vaters erschien, war Demenz noch nicht wirklich als wichtiges Thema in der Gesellschaft angekommen. Sicher gab es Berichte über Prominente wie Ronald
Reagan, der seine Alzheimererkrankung schon in den 90er-Jahren öffentlich machte, aber die vielen Betroffenen und Angehörigen litten im Stillen. Literarische Bearbeitungen gab es kaum und so ist „Der alte König in seinem Exil“ so etwas wie ein Durchbruch bei diesem Thema. Zumal das Buch alles andere als ein trauriges Lamento darstellt. Arno Geiger erzählt in seinem Werk mit viel persönlicher Anteilnahme von seinem Vater, der nach dem Krieg aus der Gefangenschaft zu Fuß aus Russland zurückkehrte und ein bescheidenes Leben als Gemeindeschreiber in Wolfurt führte. Er verschweigt dabei keineswegs die Schwierigkeiten im Umgang mit dem Kranken, den er jahrelang betreute, aber es finden sich auch durchaus komische Szenen in dem Werk. Etwa wenn der Sohn dem Vater den Hut reicht und dieser sagt: „Das ist recht und gut. Aber wo ist mein Gehirn?“. Ein andermal erklärt der Vater: „Es geschehen keine Wunder, aber Zeichen.“

Präsentation. Das Buch macht nicht nur Betroffenen Mut. Immer wieder gibt es für den Sohn auch Augenblicke des Glücks bei der Betreuung des Vaters. Es ist das literarische Können des Autors, das aus dem Buch etwas Besonders macht. Für „Eine Stadt. Ein Buch.“ reiht sich „Der alte König in seinem Exil“ ein in Büchern, die besonders relevant für die Stadt sind. So wurde etwa Bernhard Schlinks „Der Vorleser“ auch deshalb ausgewählt, weil Analphabetismus – das Thema des Romans – ein drängendes Problem ist. „Der alte König in seinem Exil“ ist aber auf jeden Fall ein exquisites Stück Literatur, das zurecht zum Bestseller wurde. Auch weil es so herrlich zu lesen ist. „Eine Stadt. Ein Buch.“startet heuer am 19. Oktober mit einer Präsentation im Rathaus. Am 20. Oktober wird Arno Geiger bei der Wien Energie Spittelau aus dem Buch lesen.

Der österreichische Schriftsteller Arno Geiger wurde 1968 in Bregenz geboren und lebt in Wien und Wolfurt. Der Bestseller „Der alte König in seinem Exil“ des vielfach ausgezeichneten Autors wird ab 19. November 100.000mal in Wien gratis abgegeben. Das Cover des Aktionsbuchs zeigt „Die  große Welle“ von Hokusai. Foto: Bubu Dujmic

INFO: einestadteinbuch

2 Töchter und der Frieden in Nahost – Leon de Winters ungewöhnlicher Arzteroman „Stadt der Hunde“

Gleich vorweg – die Stadt der Hunde ist Tel Aviv, wo gutsituierte Menschen am schicken Rothschild Boulevard ihre Vierbeiner Gassi führen. Dort ist der holländische Star-Gehirnchirurg Jaap Hollander, der ungewollt in eine höchst geheime und delikate Mission verwickelt wird. Er soll nämlich die junge Tochter des saudischen Herrschers mit einer Operation heilen. Ein Unterfangen, das sämtliche Fachleute abgelehnt haben zumal sie fürchte dass sie nicht am Leben bleiben würden, wenn die Operation schief geht…. Aber Jaap ist nun einmal der beste – obwohl er schon im Ruhestand ist und Israel nur besucht, weil er das Andenken an seine eigene Tochter, die vor 10 Jahren in einem Krater der Negev-Wüste spurlos verschwunden ist. Dabei war seine Beziehung zu Lea vor ihrem Verschwinden nicht einmal besonders intensiv. Aber seit ihrem Verschwinden kommt er regelmäßig, um sie zu suchen. In der Nähe seines Hotels, wo Lea verschunden ist, taucht inzwischen immer wieder ein Hund auf, der Jaap wie ein Führer durch die Unterwelt erscheint – sozusagen der Höllenhund Zerberus aus der griechischen Mythologie.

„Die Stadt der Hunde“ ist ein bemerkenswert spannender Mystery-Thriller, der sicher auch gut zur Sommerlektüre geeignet ist. Politische Diagnose des Nahost-Konflikts inklusive.

Leon de Winter: Stadt der Hunde. Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer. 264 Seiten, € 27,50

100 Jahre „Die Strudlhofstiege“ – der D-Day für Doderer als Matinee im Theater in der Josefstadt mit Franz Schuh und Martina Ebm am 21. September

Gleich im ersten Satz der Strudlhofstiege wird der Roman zeitlich festgelegt. Am 21. September 1925 wird Mary K von der Straßenbahn ein Bein abgefahren. Wie es dazu kommt, erfahren wir allerdings erst gegen Schluss. Man kann also die Strudlhofstiege als das Werk eines einzigen Tages bezeichnen – allerdings mit unzähligen Rückblenden und zahlreichen Metageschichten. Deshalb feiern wir seit 5 Jahren unseren D-Day für Doderer immer am 21. September. Und heuer eben mit dem Jubiläum 100 Jahre des Handlungstags der Strudlhofstiege. Am 21. September wird der bekannte Wiener Philosoph Franz Schuh mit wienlive-Herausgeber Helmut Schneider in den Sträuselsälen des Theaters in der Josefstadt über Doderer diskutieren. Die beliebte Josefstadt-Schauspielerin Martina Ebm wird einige Stellen aus der Strudlhofstiege lesen. Karten: josefstadt.org

Angeblich kannten die kleine Strudlhofstiege im Wien des Jahres 1951 – als der Roman erschien – nur die anwohnenden Alsergrunder. Der Verlag presste Doderer deshalb auch den Untertitel „Melzer und die Tiefe der Jahre“ ab, damit man das Buch verkaufen könne. Erst der Erfolg des Romans machte die 1910 eröffnete Fußverbindung im Stil des Jugendstils aus Mannersdorfer Kalkstein dann genauso berühmt wie ihren Verfasser. Wobei man sicher nicht falsch liegt, wenn man behauptet, dass sehr viele Heimito von Doderers „Die Strudlhofstiege“ nur dem Namen nach kennen. Die 900 Seiten, die der Wiener Schriftsteller seinen Lesern zumutet, haben es nämlich in sich. Wie bei vielen berühmten Werken der Literatur dürfte es zwei Lager geben, nämlich jene, die diesen Roman mit Innbrunst lieben und beim Lesen viel Spaß haben und jene, die ihn nach wenigen Seiten entnervt weglegen.

Das beginnt schon damit, dass sich der Inhalt des Romans kaum wiedergeben lässt, was den Autor sogar diebisch freute. „Ein Werk der Erzählungskunst ist es um so mehr, je weniger man durch eine Inhaltsangabe davon eine Vorstellung geben kann“, notierte er über seinen Roman. Dabei gehört es zum Faszinierendsten dieses Textes, dass „Die Strudlhofstiege“ auch sehr viele Ingredienzien von damaligen Kolportageromanen enthält – wir erleben eine Ehetragödie, die in Selbstmord endet, einen spektakulären Unfall, natürlich Liebesgeschichten & Sex, einen versuchten Schmuggel zwecks Zollbetrug, eine Frau, die es pikanterweise doppelt gibt und eine Bärenjagd.

Andererseits hat das Buch tatsächlich keine Hauptperson. Major Melzer, der im Untertitel genannt wird, ist über lange Strecken abwesend und Doderer verweigert ihm im Roman sogar einen Vornamen. Überhaupt scheint der Autor als Erzähler immer gegenwärtig und präsent. Er lässt uns quasi glauben, dass er die vielen Geschichten und Anekdoten von denen er berichtet, selbst von irgendwo erfahren hat und nur aufschreibt.

In fast kindischer Boshaftigkeit ist Doderer natürlich alles andere als politisch korrekt. Ja, er hält viele seiner Figuren – auch Melzer – für geradezu dumm oder zumindest unwissend. Nicht nur, aber gerade auch Frauen. Melzers spätere Frau Thea wird als Lämmchen beschrieben, das man auf die Weide stellen muss, wo sie dann ab und zu „Bäh“ machen darf. Andererseits finden gestandene Frauen gleich alle Männer als „dumm und umständlich“. Einmal regt der Erzähler gar Wörterbücher für Frauen und Wörterbücher für Männer an – samt Übersetzungshilfen, da die beiden Geschlechter ja pausenlos aneinander vorbeireden. Dann beschreibt Doderer wieder einen Mann als „Schlagetot … mit dem Mund eines Negers“. Fraglich, ob so ein Roman heute erscheinen könnte.

Doderer stößt schon auf der allerersten Seite des Buches etwas an, das er ganz am Ende auflöst, nämlich den Straßenbahnunfall der Mary K, bei der diese am 21. September 1925 ein Bein verliert und der zufällig vorbeikommende Melzer ihr durch im Krieg trainierte Schlagfertigkeit – er bindet ihr das Bein ab – das Leben rettet. Der ganze Roman ist auf dieses eine Ereignis hingeschrieben, wobei sich die Spannung aus der Frage ergibt, ob denn alles so zufällig geschehen ist. Denn Melzer hatte Mary K. vor 15 Jahren einen Heiratsantrag nicht gestellt. Ihrer beider Leben wäre dann – vermutlich ohne Unfall – anders verlaufen. Und just als Melzer 1925 Mary K. versorgt, ist seine spätere Frau Thea neben ihm und hilft. Doderer scheint in allen seinen Romanen vom Spannungsfeld zwischen Schicksal und Bestimmung geradezu besessen zu sein. Als Erzähler hält er die Fäden in der Hand, seine Figuren lässt er indes in Zufälligkeiten taumeln. Die Zwillingsschwestern werden zufällig von einer Frau entdeckt, die jemanden am Bahnhof abholt, ein Brief wird von der Falschen geöffnet und so weiter und so fort.

Seine Figuren gehören dem vermögendem Bürgertum sowie dem Kleinbürgertum an, Arbeiter, also Proletarier – 1925 sind wir immerhin mitten im „Roten Wien“ –  kommen in dem Roman keine vor. Und noch etwas ist bemerkenswert. Obwohl zwei Hauptakteure – Major Melzer als auch René von Stangeler – im 1. Weltkrieg an der vordersten Front waren, bleibt der Krieg seltsam ausgespart. Wir wissen nur, dass Melzers Lebensmensch – Major Laska, mit dem er auf Bärenjagd am Balkan war, – in den Armen Melzers stirbt. Auch die Wirtschaftskrise und die Inflation jener Zeit werden höchstens gestreift – nur einmal wird eine politische Mission zur Rettung der österreichischen Währung erwähnt. Alle beschriebenen Figuren scheinen von 1911 bis 1925 nur älter geworden zu sein, sonst hat sich in ihren Lebensumständen kaum etwas geändert. Dabei hat Doderer „Die Strudlhofstiege“ teilweise mitten im 2. Weltkrieg geschrieben, wo er als Reservist im Hinterland seinen Dienst ableistete und sogar zeitweise in Kriegsgefangenschaft geriet. Seine finanzielle Lage war ebenso prekär, als Schriftsteller als der er sich seit seiner russischen Gefangenschaft im 1. Weltkrieg sah, war er nahezu unbekannt und er war als 50jähriger noch von Zuwendungen seiner Mutter abhängig.

Wienroman oder Großstadtroman?

Doderers Roman ist voll mit genauen Ortsangaben, nicht nur die Strudlhofstiege als Schauplatz von teilweise dramatischen Szenen zieht sich durch das gesamte Werk, auch der Althanplatz (heute Julius-Tandler-Platz), wo sich der Unfall ereignet, die Porzellangasse, der Tennisplatz im Augarten, Graben und Kohlmarkt oder das damals noch biedermeierliche Lichtenthal-Viertel am Alsergrund werden immer wieder genannt. Und überall braust der Verkehr, namentlich die Straßenbahnen verbreiten gehörigen Lärm. Nun war Wien 1911 bekanntlich die sechstgrößte Stadt der Welt, aber spürt man das im Roman? Eher nicht, denn Menschenmassen lässt Doderer nicht zusammenkommen. Definiert man Großstadtroman als ein Werk, in dem die moderne Stadt sozusagen Mitspieler ist (genannt wird immer etwa Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“), wird man kaum fündig. Klar gibt es einen Genius Loci, nachgerade auf der Strudlhofstiege, und die Figuren haben unzweifelhaft etwas Wienerisches, was besonders deutlich wird, wenn Doderer etwa einen deutschen Major reden lässt. Sein Personal ist tief in der Kultur Wiens verwurzelt – seien sie nun ehemalige k.u.k.-Beamte oder sogar Angehörige der ungarischen Botschaft, weil sie eben einen Job brauchen und den zugehörigen Pass haben. Das Wien Doderers ist also nur in Ansätzen eine hektische Großstadt, man verbringt hier im Sommer – und „Die Strudlhofstiege“ spielt nur im Sommer, Wien „zerrinnt“ vor Hitze – die Tage gerne in den Bergen an der Rax oder an der Donau in Greifenstein und Kritzendorf.

Am 21. September, 11 Uhr, feiern wir im Theater in der Josefstadt Heimito von Doderer mit einem D-Day für Doderer.

Foto: (c) Heribert Corn / Zsolnay

Zwillingsgeschwister – Jente Posthumas Roman „Woran ich lieber nicht denke“ über einen Verlust

Zwillinge sind wohl eine eigene Spezies. Gleichalt aufwachsen, oft sich ähnlich sehend und doch verschieden, sofern es sich nicht um eineiige Zwillinge handelt. Die niederländische Autorin Jente Posthuma beschreibt ein solches Zwillingspaar aus der Sicht des Mädchens, das um ihren Zwillingsbruder trauert, der sich mit 35 Jahren das Leben genommen hat. Dass sie das nicht mit teigigem Trübsinn macht, verleiht dem Roman den nötigen Charme und die gebotene Ernsthaftigkeit. Die Schwester erzählt jeweils in kurzen Sequenzen, in denen sie in Zeit und Thema springt. Etwa indem sie von den Zwillingsexperimenten Josef Mengeles berichtet, vom Einsturz der Twin Towers oder vom Selbstmord Sylvia Plaths.

Der Bruder war nur 45 Minuten älter, nannte sich aber „Eins“ und die Schwester (wie selbstverständlich) „Zwei“. Er war anfangs der Robuste, immer Quirlige und die Schwester die Fragende. In der Schule wird er gemobbt, denn früh zeigt sich auch, dass er homosexuell ist. Die Schwester zieht sich zurück und verwendet Pullover als Ersatz-Kuscheltiere. 142 bunte Pullover umfasst ihre Sammlung, als sie konstatiert: „Es wurde Zeit, in Therapie zu gehen.“ Sie findet freilich einen verständnisvollen Partner, der ihr sogar nachsieht, dass sie nach dem Tod des Bruders nächtelang in dessen naher Wohnung schläft.

Der Roman wurde zurecht für den Booker-Preis nominiert. Ein sehr genaues Porträt einer Zwillingsbeziehung und eines Verlustes.

Jente Posthuma: Woran ich lieber nicht denke. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Luchterhand, 256 Seiten, € 23,95

Koreanerinnen in Berlin und Bremen – Ta-Som Helena Yuns Roman „Oh Sunny“

Die 1985 in Berlin geborene Ta-Som Helena Yun bringt in ihrem Debütroman die Zerrissenheit einer jungen Frau zwischen zwei Welten auf den Punkt. Dabei läuft für ihre Protagonistin Sunny auf den ersten Blick alles bestens. Das Jurastudium hat der 26-Jährigen wenig Mühe gemacht. Die aus Korea stammenden Eltern können ihre Tochter bei Bekannten aus der Community mit Stolz präsentieren. Doch in Wirklichkeit ist Sunny am Ende ihrer Kräfte. Sie glaubt noch immer, ihre Abtreibung mit 16 würde als Makel an ihr bis in alle Ewigkeiten kleben und ihre Beziehung zu einem angehenden Arzt ist zerbrochen. Nach einem Streit mit ihrer dominanten Mutter flüchtet Sunny aus Bremen nach Berlin zu der etwas älteren Ha, die mit Sunny in der Familie aufgewachsen war, weil sie die Verhältnisse in Korea nicht ertragen konnte. Ha leitet ein koreanisches Sport- und Kulturzentrum am Rande der Stadt. Und dort zieht Sunny kurzerhand ein. Das Periphere, Unsichere ihrer Existenz scheint ihr entgegenzukommen – sie startet nur halbherzig Versuche, Job und Wohnung zu finden. Monatelang lebt sie neben Turnmatten und Medizinbällen. Nach und nach begreifen wir ihre Situation, die ähnlich vieler Migranten scheint. Wobei natürlich die allermeisten weit weniger privilegiert sind. Denn Sunnys Eltern sind wohlhabend, der Vater war in Korea Führer der Opposition und ist in Deutschland Professor. Und Sunny ist perfekt zweisprachig.

Ha überträgt ihr schließlich ein Projekt. In Berlin wurde ein Denkmal für die sogenannten „Trostfrauen“ errichtet, das jetzt plötzlich im Viertel zu stören scheint. Unter diesem euphemistischen Begriff sind Frauen gemeint, die während der japanischen Besatzung Koreas den fremden Soldaten zu Diensten sein mussten. Nach dem Weltkrieg wurden diese oft von ihren eigenen Angehörigen abermals gedemütigt und gemieden.

 Ta-Som Helena Yun beschreibt aber auch andere Koreanerinnen in Berlin. Und so besteht das Bild einer eigenen Gemeinschaft mit Ha im Mittelpunkt. Doch Ha ist weit weniger stark als Sunny anfangs vermutet.

Ta-Som Helena Yun wirft einen interessanten Blick auf eine spezielle Community, das Buch liest sich sehr unterhaltsam – obwohl die Hauptperson ja über lange Strecken antriebslos ist und die Konfliktszenen – etwa mit Sunnys Mutter – nicht groß ausgeschlachtet werden. Gehört auch einmal gewürdigt: Der Leykam Verlag macht ausnehmend sorgfältig und originell gestaltete Bücher.  

Ta-Som Helena Yun: Oh Sunny, Leykam Verlag, 272 Seiten, € 24,50

Geschichten vom Ende der USA – Zach Williams „Es werden schöne Tage kommen“

Auch der Büroalltag kann zum Horror werden. Ein kleiner Schneesturm und der Erzähler ist plötzlich mit dem Sicherheitsmenschen und einem etwas kauzigen Kollegen im Büro allein. Der hat gerade eine Scheidung am Hals, seine Frau hat aufgenommen, dass er sie umzubringen gedroht hat und der Sicherheitsmensch hat seltsame Ideen zur Geschichte der Rassentrennung. Doch auch der Erzähler ist seltsam und am Ende bleibt ein beklemmendes Gefühl übrig. Was ist hier los?

Das ist die erste Geschichte der 10 Stories, die der junge amerikanische Erzähler, der noch nicht einmal einen Wikipedia-Artikel hat, obwohl er global schon ziemlich gehypt wird. In „Es werden schöne Tage kommen“ schafft er eine Art postzivilisatorische Welt, in der unser Alltag schon ziemlich kaputt geworden ist. Der Horror im Alltag ist vielleicht unser schlimmster Horror.

Wir erleben, wie eine Mutter beobachtet, wie ihrem Baby ein sechster Zeh wächst, wie  zwei ungleiche Brüder in der Provinz Jugendliche beim sinnlosen Feiern beobachten, wie ein Park-Ranger eine Ausflugscrew in Zaum zu halten versucht oder wie ein trauernder Witwer in eine antikapitalistische Verschwörungsgesellschaft gerät. Könnte doch allen passieren, oder?

Zach Williams: Es werden schöne Tage kommen, Stories. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell und Clemens J. Setz, dtv, 272 Seiten, € 25,50

Rund um die Burg am 9. und 10. Mai an 3 Locations