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Buchtipp – Heimito von Doderer, Die Dämonen

Heimito von Doderers „Die Dämonen“


 „Die Feder des Schriftstellers ist oft klüger als er selbst, wie mitunter das Pferd gescheiter als der Reiter.“ Helmut Schneiders Buchtipp: Heimito von Doderers „Die Dämonen“.


Auch wenn „Die Strudlhofstiege“ Doderers bekanntester und meistgelesener Roman geblieben ist, sind „Die Dämonen“ in Wirklichkeit ein leichter zu lesendes Werk. Man darf sich nur nicht von den fast 1400 Seiten abschrecken lassen.

Die Dramatik ist indes eine ähnliche: Während sich in der Strudlhofstiege alles auf den Unfall der Mary K am 21. September 1925 zuspitzt, ist es bei den Dämonen der Brand des Justizpalastes am 15. Juli 1927 sowie dessen Vorgeschichte, die Ermordung zweier sozialdemokratischen Demonstranten – eine davon ein Kind – im burgenländischen Schattendorf.

Einige der Figuren aus der Strudlhofstiege wie Mary K. oder Rene Stangeler kommen auch in den Dämonen prominent vor. Auch zeitlich sind die Dämonen quasi eine Fortsetzung. „Die Dämonen“ spielen zwischen dem Herbst 1926 und dem Hochsommer 1927 überwiegend in Wien und dessen näherer Umgebung, sowie in der Wiener Sommerfrische (Rax, Semmering), dem Burgenland und auf einer Kärntner Burg.

Auch in den Dämonen löst Doderer am Ende einige Konflikte auf und gönnt den meisten ein Happy End – am Schluss gibt es fast wie in einer Telenovela gleich mehrere Hochzeiten. Ursprünglich sollte der Roman „Dicke Frauen“ heißen, da einer der Chronisten eine Zeitlang besessen von ebensolchen ist. Es herrschte damals in den 20er-Jahren eben ein völlig anderes Frauenideal, nämlich das der sportlichen, burschikosen Frau.

In den Dämonen gibt auch echt unsympathische Figuren, nämlich den Kammerrat Levielle und den Hochstapler Imre Gyurkicz sowie einen Mörder mit dem bezeichnenden Namen Meisgeier. Doderer ist einerseits ein intellektueller, andererseits auch ein hemdsärmeliger Erzähler. Vieles wirkt nicht aufgeschrieben, sondern direkt erzählt. Die Sprachmelodie des Wienerischen ist durchgängig bestimmend.

Die Dämonen des Titels sind nach Doderers Erklärung die Weltanschauungen, quasi eine Fortsetzung des mittelalterlichen Aberglaubens. Der Historiker René Stangeler entdeckt nämlich auf einer Kärntner Burg, wohin er als Archivar eines Erben bestellt ist, eine Handschrift über eine recht seltsame Hexenaustreibung. In Wirklichkeit ging es dem damaligen Burgherrn nämlich um die Befriedigung seiner voyeuristischen Gelüste, die Auspeitschung der Hexen erfolgte mit Samtpeitschen. Auf Seite 1023 heißt es dann: „Damals nannte man es einen Dämon“. Und weiter: „Heute deklariert man das falsch, als ob es vernünftiger Herkunft wäre: eine Weltanschauung.“

Und das passt auch gut zu der Darstellung der historischen Ereignisse rund um den Justizpalastbrand nach dem skandalösen Fehlurteil im Schattendorf-Prozess. Doderer, der selbst ein studierter Historiker war, schildert das Gemetzel der Wiener Polizei an den Demonstranten (84 Todesopfer) als historisch falsch als ein Missverständnis, an dem weder der Republikanische Schutzbund noch die Einsatzkräfte Schuld tragen. Der Abschaum Wiens – der „Ruass“ – soll sich einen Spaß daraus gemacht haben, die Polizei herauszufordern.

Die am wenigsten glaubhafte Figur in dem Roman ist demnach auch der Arbeiter Kakabsa, der eine junge Dame vor einer Buchhandlung vor dem Sturz rettet und daraufhin ausgerechnet eine lateinische Grammatik kauft, um in der Folge brav Latein zu lernen. Sein Bildungseifer lässt ihn zu einem Gelehrten aufsteigen, der schließlich die große Bibliothek eines Fürsten verwalten soll. Am Ende gewinnt er schließlich noch die Hand der von allen verehrten Mary K.

Trotz der Fülle an Handlungssträngen ist der Roman sehr vergnüglich zu lesen. Es wäre eine wundervolle Aufgabe für einen Drehbuchschreiber, daraus eine TV-Serie zu machen – mit tollen Rollen wie der etwas patscherten späteren Millionenerbin Quapp oder den dicken Damen im Wiener Café. Und die einbeinige Mary K., deren Schönheit weiterhin auf die Gesellschaft ausstrahlt, wäre eine Glanzrolle für jede Schauspielerin. Dazu jede Menge Intrigen, versuchte Lieben, Halbweltfiguren und sogar ein spektakulärer Mord. Was will man mehr?


„Die Dämonen“ von Heimito von Doderer, C.H. Beck Verlag

1360 Seiten
ISBN: 978-3-423-10476-0
€29,80

Buchtipp – Heimito von Doderer, Die Strudlhofstiege

Heimito von Doderers Wien erschien vor 70 Jahren.

70 Jahre „Die Strudlhofstiege“


Vor 70 Jahren erschien Heimito von Doderers Wien-Roman „Die Strudlhofstiege“. Am 21. September, 19 Uhr, feiern wir im Café Landtmann Heimito von Doderer mit einem D-Day für Doderer. Chris Pichler liest Doderer-Kostproben, Klaus Nüchtern („Kontinent Doderer“, C. H. Beck) diskutiert mit Helmut Schneider über Doderers Werk. Eintritt frei!
Text: Helmut Schneider / Foto: Barbara Niggl Radloff CC BY-SA 4.0


Angeblich kannten die kleine Strudlhofstiege im Wien des Jahres 1951 nur die anwohnenden Alsergrunder. Der Verlag presste Doderer deshalb auch den Untertitel „Melzer und die Tiefe der Jahre“ ab, damit man das Buch verkaufen könne. Erst der Erfolg des Romans machte die 1910 eröffnete Fußverbindung  im Stil des Jugendstils aus Mannersdorfer Kalkstein dann genauso berühmt wie ihren Verfasser. Wobei man sicher nicht falsch liegt, wenn man behauptet, dass sehr viele Heimito von Doderers „Die Strudlhofstiege“ nur dem Namen nach kennen. Die 900 Seiten, die der Wiener Schriftsteller seinen Lesern zumutet, haben es nämlich in sich. Wie bei vielen berühmten Werken der Literatur dürfte es zwei Lager geben, nämlich jene, die diesen Roman mit Innbrunst lieben und beim Lesen viel Spaß haben und jene, die ihn nach wenigen Seiten entnervt weglegen.

Das beginnt schon damit, dass sich der Inhalt des Romans kaum wiedergeben lässt, was den Autor sogar diebisch freute. „Ein Werk der Erzählungskunst ist es um so mehr, je weniger man durch eine Inhaltsangabe davon eine Vorstellung geben kann“, notierte er über seinen Roman. Dabei gehört es zum Faszinierendsten dieses Textes, dass „Die Strudlhofstiege“ auch sehr viele Ingredienzien von damaligen Kolportageromanen enthält – wir erleben eine Ehetragödie, die in Selbstmord endet, einen spektakulären Unfall, natürlich Liebesgeschichten & Sex, einen versuchten Schmuggel zwecks Zollbetrug, eine Frau, die es pikanterweise doppelt gibt und eine Bärenjagd.

Andererseits hat das Buch tatsächlich keine Hauptperson. Major Melzer, der im Untertitel genannt wird, ist über lange Strecken abwesend und Doderer verweigert ihm im Roman sogar einen Vornamen. Überhaupt scheint der Autor als Erzähler immer gegenwärtig und präsent. Er lässt uns quasi glauben, dass er die vielen Geschichten und Anekdoten von denen er berichtet, selbst von irgendwo erfahren hat und nur aufschreibt.

In fast kindischer Boshaftigkeit ist Doderer natürlich alles andere als politisch korrekt. Ja, er hält viele seiner Figuren – auch Melzer – für geradezu dumm oder zumindest unwissend. Nicht nur, aber gerade auch Frauen. Melzers spätere Frau Thea wird als Lämmchen beschrieben, das man auf die Weide stellen muss, wo sie dann ab und zu „Bäh“ machen darf. Andererseits finden gestandene Frauen gleich alle Männer als „dumm und umständlich“. Einmal regt der Erzähler gar Wörterbücher für Frauen und Wörterbücher für Männer an – samt Übersetzungshilfen, da die beiden Geschlechter ja pausenlos aneinander vorbeireden. Dann beschreibt Doderer wieder einen Mann als „Schlagetot … mit dem Mund eines Negers“. Fraglich, ob so ein Roman heute erscheinen könnte.

Woraus speist sich nun die Faszination, die die Strudlhofstiege auch heute noch entfalten kann? Immerhin hatte erst vor kurzem das Theater in der Josefstadt eine Dramatisierung auf dem Spielplan und das Schauspielhaus wagte sich vor Jahren erfolgreich an eine Art TV-Serie fürs Theater. Doderer stößt schon auf der allerersten Seite des Buches etwas an, das er ganz am Ende auflöst, nämlich den Straßenbahnunfall der Mary K, bei der diese am 21. September 1925 ein Bein verliert und der zufällig vorbeikommende Melzer ihr durch im Krieg trainierte Schlagfertigkeit – er bindet ihr das Bei ab – das Leben rettet. Der ganze Roman ist auf dieses eine Ereignis hingeschrieben, wobei sich die Spannung aus der Frage ergibt, ob denn alles so zufällig geschehen ist. Denn Melzer hatte Mary K. vor 15 Jahren einen Heiratsantrag nicht gestellt. Ihrer beider Leben wäre dann – vermutlich ohne Unfall – anders verlaufen. Und just als Melzer 1925 Mary K. versorgt, ist seine spätere Frau Thea neben ihm und hilft. Doderer scheint in allen seinen Romanen vom Spannungsfeld zwischen Schicksal und Bestimmung geradezu besessen zu sein. Als Erzähler hält er die Fäden in der Hand, seine Figuren lässt er indes in Zufälligkeiten taumeln. Die Zwillingsschwestern werden zufällig von einer Frau entdeckt, die jemanden am Bahnhof abholt, ein Brief wird von der Falschen geöffnet und so weiter und so fort.

„Die Strudlhofstiege“ kann man aber auch als einen Roman eines einzigen Ereignisses und eines Tages lesen – allerdings mit sehr, sehr vielen Vorgeschichten, Abzweigungen und auch einigen Sackgassen (Doderers Personal ist gewaltig), denn der erste Teil spielt ja bereits 1911. Seine Figuren gehören dem vermögendem Bürgertum sowie dem Kleinbürgertum an, Arbeiter, also Proletarier – 1925 sind wir immerhin mitten im „Roten Wien“ –  kommen in dem Roman keine vor. Und noch etwas ist bemerkenswert. Obwohl zwei Hauptakteure – Major Melzer als auch René von Stangeler – im 1. Weltkrieg an der vordersten Front waren, bleibt der Krieg seltsam ausgespart. Wir wissen nur, dass Melzers Lebensmensch – Major Laska, mit dem er auf Bärenjagd am Balkan war,  – in den Armen Melzers stirbt. Auch die Wirtschaftskrise und die Inflation jener Zeit werden mit keinem Wort erwähnt – nur einmal wird eine politische Mission zur Rettung der österreichischen Währung erwähnt. Alle beschriebenen Figuren scheinen von 1911 bis 1925 nur älter geworden zu sein, sonst hat sich in ihren Lebensumständen kaum etwas geändert. Dabei hat Doderer „Die Strudlhofstiege“ teilweise mitten im 2. Weltkrieg geschrieben, wo er als Reservist im Hinterland seinen Dienst ableistete und sogar zeitweise in Kriegsgefangenschaft geriet. Seine finanzielle Lage war ebenso prekär, als Schriftsteller als der er sich seit seiner russischen Gefangenschaft im 1. Weltkrieg sah, war er nahezu unbekannt und er war als 50jähriger noch von Zuwendungen seiner Mutter abhängig.

WIENROMAN ODER GROßSTADTROMAN?

Doderers Roman ist voll mit genauen Ortsangaben, nicht nur die Strudlhofstiege als Schauplatz von teilweise dramatischen Szenen zieht sich durch das gesamte Werk, auch der Althanplatz (heute Julius-Tandler-Platz), wo sich der Unfall ereignet, die Porzellangasse, der Tennisplatz im Augarten, Graben und Kohlmarkt oder das damals noch biedermeierliche Lichtenthal-Viertel am Alsergrund werden immer wieder genannt. Und überall braust der Verkehr, namentlich die Straßenbahnen verbreiten gehörigen Lärm. Nun war Wien 1911 bekanntlich die sechstgrößte Stadt der Welt, aber spürt man das im Roman? Eher nicht, denn Menschenmassen lässt Doderer nicht zusammenkommen. Definiert man Großstadtroman als ein Werk, in dem die moderne Stadt sozusagen Mitspieler ist (genannt wird immer etwa Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“), wird man kaum fündig. Klar gibt es einen Genuis Loci, nachgerade auf der Strudlhofstiege, und die Figuren haben unzweifelhaft etwas Wienerisches, was besonders deutlich wird, wenn Doderer etwa einen deutschen Major reden lässt. Sein Personal ist tief in der Kultur Wiens verwurzelt – seien sie nun ehemalige k.u.k.-Beamte oder sogar Angehörige der ungarischen Botschaft, weil sie eben einen Job brauchen und den zugehörigen Pass haben. Das Wien Doderers ist also nur in Ansätzen eine hektische Großstadt, man verbringt hier im Sommer – und „Die Strudlhofstiege“ spielt nur im Sommer, Wien „zerrinnt“ vor Hitze – die Tage gerne in den Bergen an der Rax oder an der Donau in Greifenstein und Kritzendorf.

Was aber gerade bei diesem Roman – zweifelsohne seinem erfolgreichsten – deutlich wird: Heimito von Doderer war ein originärer Schriftsteller, den man eigentlich mit keinem anderen Autor wirklich vergleichen kann. Und gerade deshalb ist dieser 70 Jahre alte Roman auch noch heute so interessant.

Am 21. September, 19 Uhr, feiern wir im Café Landtmann Heimito von Doderer mit einem D-Day für Doderer. Chris Pichler liest Doderer-Kostproben, Klaus Nüchtern („Kontinent Doderer“, C. H. Beck) diskutiert mit Helmut Schneider über Doderers Werk. Eintritt frei!


Heimito von Doderer: Die Strudlhofstiege
dtv Verlag
ISBN: 978-3-423-01254-6
912 Seiten, € 15,90

D-Day für Doderer

D-Day für Doderer im Café Landtmann


Am 21. September 1925 verliert Mary K. in Heimito von Doderers Roman „Die Strudlhofstiege“ ihr hübsches rechtes Bein. Und wir feiern ab heuer den D-Day!
Foto: Creative Commons, CC BY 3.0 de


Ein Straßenbahnunglück bildet das große Finale in Heimito von Doderers bekanntestem Roman „Die Strudlhofstiege“. Das ganze Buch ist auf diesen 21. September 1925, an dem die hübsche Witwe Mary K. ihr Bein verliert und nur durch das beherzte Eingreifen von Melzer – einem früheren Bekannten – am Leben bleibt, hingeschrieben. Vor 70 Jahren ist „Die Strudlhofstiege“ erschienen und machte nicht nur den Autor, sondern auch die vordem unauffällige Stiege am Alsergrund berühmt. Grund genug, den 1966 verstorbenen einzigartigen Wiener Autor, der sogar einmal auf der Liste für den Nobelpreis stand, mit einer Veranstaltung zu feiern.

 „Kontinent Doderer. Eine Durchquerung“ nannte Falter-Literaturkritiker Klaus Nüchtern seine 2016 erschienene Doderer-Einführung. Denn Doderer lässt sich wirklich schwer mit anderen Autoren seiner Zeit vergleichen. Deshalb wird Aktrice Chris Pichler am 21. September im Café Landtmann auch einige Kostproben aus Doderers Werken wie etwa dem 1400 starken Romanepos „Die Dämonen“ lesen. Und der Wiener Buchhändler Oliver Hartlieb – selbst ausgesprochener Doderer-Fan, der in seiner Buchhandlung nahe der Strudlhofstiege ein großes Doderer-Sortiment anbietet – wird einige Bücher für interessierte Käufer mitbringen. Der Eintritt ist frei!

Wir danken der Stadt Wien Marketing für die Unterstützung der Veranstaltung.


INFO:

D-Day für Doderer

21. September, 19 Uhr

Café Landtmann, Universitätsring 4, 1010 Wien – Freier Eintritt!

Buchtipp – Marco Missiroli, Treue

Mittelschicht in mittleren Jahren in Mailand


Marco Missirolis Roman „Treue“ (Wagenbach Verlag) über ein Paar auf der Suche nach seinen Bedürfnissen soll heuer noch auf Netzflix als Serie herauskommen.
Buchtipp von Helmut Schneider.


War da was, oder war da nix? Als der Literaturdozent Carlo seiner Studentin Sofia auf der Damentoilette zu nahekommt, wird das als Hilfeleistung nach einem Schwächeanfall erklärt. Seine Ehefrau Margherita – obwohl nur mäßig eifersüchtig – will sich diese Sofia zwar ansehen, nimmt die Sache aber auch nicht wirklich ernst. Zumal sie gerade in erotische Träumereien mit ihrem Physiotherapeuten Andrea schwelgt. Wir sind im Jahr 2009, also mitten in der Weltwirtschaftskrise, als sich der Immobilienmarkt in Mailand von der Krise unbeeindruckt zeigt und Margherita ist Maklerin. Sie sichert auch das Familieneinkommen, denn Carlo verdient als Dozent fast nichts und als Redakteur von Reiseprospekten nur mäßig. Trotzdem wollen sie ihre Traumwohnung kaufen – ein sonnendurchflutetes Appartement im letzten Stock ohne Lift. Im zweiten, 2018 spielenden Teil des Romans wird Margheritas Mutter Anna – die 5. Hauptperson – dann auf der Treppe zu diesem Appartement dann böse stürzen und sich einer Operation unterziehen müssen.

WELTERFOLG
Marco Missirolis Roman „Treue“ ist ein Welterfolg und wird Ende des Jahres in einer Serie-Adaption bei Netflix gestreamt. Man kann vermuten, dass das damit zusammenhängt, dass in diesem Buch das Personal und die Zielgruppe perfekt zusammenpasst. Die Mittelschicht in den westlichen Ländern in den mittleren Jahren samt ihren Sorgen und Sehnsüchten mit den obligaten Ehebrüchen als Katalysator. Carlo und Margherita sind nicht reich, Carlos Eltern aber wohlhabend, während Margheritas Mutter Anna Schneiderin war. Zähneknirschend lassen sie sich von den Eltern finanziell helfen, weil die Traumwohnung zu verlockend scheint. Sofia, die Studentin kehrt nach dem Ausrutscher mit Carlo, der eigentlich ja keiner war, nach Rimini zurück, wo sie mit ihrem verwitweten Vater ein Eisenwarengeschäft führt. Einzig Andrea passt nicht so recht ins Milieu, denn er hat ein dunkles Geheimnis. Er ist in der Szene, die natürlich illegale Hundekämpfe veranstaltet. Als er dann ein Hund, an dem er sein Herz verloren hat im Kampf getötet wird weicht er in die Boxkampfszene aus. Außerdem ist er schwul, was Margherita, die ihn dann doch einmal verführt, erst später erfährt.

SPANNUNG
Marco Missiroli, der auch für den Corriere della Siera schreibt, erzählt abwechselnd aus der Sicht seiner Protagonisten, die Übergänge sind meist fließend. Im Zentrum steht die alte Frage, ob man sich in einer Beziehung selbst treu bleiben kann, wenn man seine Bedürfnisse nicht auslebt. Manches erscheint klischeehaft, die Obsessionen Andreas wirken wie aus dem „Fight Club“ entlehnt. Aber dann wieder gelingt es Missiroli, Spannung und Anteilnahme herzustellen. Am besten ist ihm wohl die Figur der alte Anna gelungen, die einmal in ihrer Karriere als Schneiderin die Ehre hatte, ein zerrissenes Kleid von Yves Saint Laurent auf die Schnelle balltauglich zu machen. Und dann ist da noch im zweiten Teil Carlos und Margheritas Sohn Lorenzo, der die Welt mit seinen Kinderaugen betrachtet und von seiner Großmutter innbrünstig geliebt wird. Herzschmerz gibt es eben auch viel in dem Buch – ideal also für eine Netflix-Adaption.


Marco Missiroli: Treue
Aus dem Italienischen von Esther Hansen
Wagenbach Verlag
ISBN: 978-3-8031-3330-4
252 Seiten, € 23,70


Lust auf mehr Literatur? Hier entlang zum letzten Buchtipp.

Eine Stadt. Ein Buch. – 2021

Der Hase mit den Bernsteinaugen


„Eine Stadt. Ein Buch.“ Heuer werden ab 11. November 100.000 Exemplare von Edmund de Waals Bestseller „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ verteilt. Ein Interview mit dem in London lebenden Künstler & Autor.
Text: Helmut Schneider / Foto: Tom Jamieson


Edmund de Waal, 1964 in Nottingham geboren, war längst ein weltbekannter Keramikkünstler und Professor in London, als er von seinem Großonkel Iggy in Tokio 264 japanische Netsukefiguren erbte und plötzlich mit seiner Familiengeschichte konfrontiert wurde, die ihn auch wieder nach Wien brachte. De Waal ist ein Nachfahre der berühmten Ephrussis, die im Wien um 1900 an Reichtum den Rothschilds um nicht viel nachstanden. Das Palais Ephrussi gegenüber der Universität am Ring war bis zur Enteignung durch die Nazis das Stammhaus der Bankerfamilie. Wie durch ein Wunder waren die kleinen japanischen Netsukefiguren aus Elfenbein oder Holz – Tierfiguren wie eben der Hase mit den Bernsteinaugen, aber auch Menschenfigürchen – der Plünderung entgangen. Ein Dienstmädchen hatte sie in seiner Kittelfalte nach und nach in Sicherheit gebracht. De Waal recherchierte vier Jahre lang anhand der abenteuerlichen Reise dieser Netsuke – von Japan nach Paris, dann nach Wien und wieder retour – und somit auch des Hasen mit den Bernsteinaugen die Geschichte seiner Urahnen. Die Ephrussis stammten ursprünglich aus Odessa, wo sie mit dem Verkauf von Getreide reich geworden waren. Später schufen sie Bankhäuser und Dynastien in Paris und Wien, ehe sie von den Nazis in die ganze Welt vertrieben wurden. De Waals Mühe hat sich freilich gelohnt. „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ wurde 2010 zu einem internationalen Bestseller und Edmund de Waal ist seither nicht nur ein gefragter Künstler, sondern auch ein gefragter Autor.

Und durch diesen Bucherfolg wurde die Geschichte der Familie Ephrussi auch in Wien wieder bekannt. Das Jüdische Museum Wien stellte 2019/2020 die Familiengeschichte in der Ausstellung „Die Ephrussis. Eine Zeitreise“ dar. Das Kunsthistorische Museum zeigte Edmund de Waals Keramikarbeiten zuerst zu einer Schau im Theseustempel und lud ihn dann ein, eine persönliche Ausstellung mit Objekten aus der Schatzkammer zu kuratieren – „Edmund de Waal trifft Albrecht Dürer. During the Night.“ 2018 übergab Edmund de Waal den größten Teil seiner Netsuke-Sammlung dem Jüdischen Museum als Dauerleihgabe. Und im Vorjahr wurde Edmunds Vater Victor de Waal österreichischer Staatsbürger – ein Herzenswunsch des Vertriebenen.

Wir erreichten Edmund de Waal am Tag des EM-Spiels England gegen Deutschland („die ganze Familie sitzt vor dem Fernseher, aber nicht alle halten zu England …“) telefonisch in London.


wienlive: Wann waren Sie das erste Mal in Wien und wie haben Sie sich damals gefühlt?

Edmund de Waal: Das war vor 25 Jahren. Ich habe die Stadt nicht verstanden, war sogar ängstlich und irgendwie fremd. Das war ja lange bevor ich begonnen hatte „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ zu schreiben. Ich kannte einige Geschichten meines Großonkels Iggy in Japan und von meiner Großmutter, aber mein Vater wollte überhaupt nicht über seine Kindheit sprechen. Kurz: Wien war damals für mich ein sehr schwieriger und komplizierter Ort. Ich erinnere mich, dass ich vor unserem alten Familienhaus gestanden bin und ich mich sehr schlecht fühlte – so völlig von der Geschichte des Ortes ausgeschlossen. Ich traute mich auch gar nicht hineinzugehen.

Sie haben alle Ihre Netsuke dem Jüdischen Museum in Wien vermacht. Warum wollten Sie, dass sie in Wien bleiben?

De Waal: Wir haben in der Familie beschlossen, unser ganzes Archiv – also Papiere, Fotografien und Briefe – an das Jüdische Museum zu geben. Die Netsuke sind eine 10-jährige Leihgabe. Der Grund ist sehr einfach: Diese Figuren können sehr kraftvoll eine Geschichte über eine jüdische Familie in Wien erzählen. Ich liebe sie sehr und habe sie auch gerne bei mir, aber ich dachte, während der nächsten zehn Jahre könnten sie hier in Wien ihre Geschichten erzählen, was sie sicher wundervoll tun werden. Es ist also ein Statement.

Ihr Vater hat letztes Jahr die österreichische Staatsbürgerschaft bekommen. Warum war ihm das so wichtig?

De Waal: Er sagte sehr deutlich, dass er das für seinen Großvater tut, der als Flüchtling staatenlos starb, weil man ihm die österreichische Staatsbürgerschaft weggenommen hatte. Interessant ist, dass jetzt meine Brüder und auch ich um die Staatsbürgerschaft angesucht haben. Ich möchte Teil von Österreich sein – und zwar nicht nur symbolisch, sondern ich möchte wirklich mit diesem Land verbunden sein. Deshalb bedeutet mir auch die Einladung zu „Eine Stadt. Ein Buch.“ sehr viel.

„Der Hase mit den Bernsteinaugen“ war ein internationaler Hit. War das Buch in deutschsprachigen Ländern am erfolgreichsten?

De Waal: Ja, tatsächlich – ist das nicht außergewöhnlich? Einer der unglaublichsten
Momente in meinem Leben war, als ich 2010 anlässlich der Veröffentlichung des Buches eine Rede in Wien im Palais Ephrussi halten durfte. Die ersten beiden Besprechungen in Deutsch kamen heraus, ich fühlte, dass das Buch in der deutschsprachigen Welt gelesen und ernst genommen wurde. Absolut außergewöhnlich! Es ist für mich immer noch erstaunlich, dass eine Familiengeschichte eine so große Wirkung entfalten konnte.

Wer hat diesen genialen Buchtitel erfunden?

De Waal: Das war ich, aber wir hatten in der Familie eine lange Diskussion darüber.

Sie waren inzwischen schon oft in Wien. Gibt es etwas, worauf Sie sich besonders freuen, vielleicht ein Besuch in einem Kaffeehaus?

De Waal: Immer wenn ich in Wien bin, gehe ich sehr viel alleine herum – um mit meinem Vater, meiner Großmutter, meinem Großonkel in Verbindung zu treten, die zum Teil hier gelebt haben – das sind ganz private Orte. Aber natürlich bewege ich mich in Wien von einer Schale Kaffee zur nächsten. Schon bevor ich das Buch zu schreiben begonnen habe, war mein Verlangen nach Kaffee tief in mir verankert. Mein Vater, mein Großvater, mein Urgroßvater hatten alle ihre Lieblings-Kaffeehäuser. Ich werde von einem zum anderen gehen.       


Buchtipp – Reinhard Tötschinger, Rochade

Im Talk mit Jan Vermeer – Reinhard Tötschingers Fälscherroman „Rochade“


Als eines der berühmtesten Gemälde des Kunsthistorischen Museums – Jan Vermeers „Die Malkunst“, das man nach Amsterdam verliehen hatte, bei einem Anschlag ebendort beschädigt wird, muss natürlich der Chefrestaurator Clemens Hartman mit äußerster Sorgfalt vorgehen. Allein, der junge Kanzler der Republik – der mit den gegeelten Haaren – will das Gemälde so schnell wie möglich wieder vollkommen wiederhergestellt in seinen Amtsräumen haben. Und so greift Clemens gemeinsam mit seinem pfiffigen Assistenten Hubert zu einer List. Sie wollen „Die Malkunst“ mit der gebotenen Ruhe zu Hause fertig restaurieren und dem Kanzler eine schnell hergestellte Kopie unterjubeln.

Der Unternehmensberater und Psychotherapeut Reinhard Tötschinger hat schon Theaterstücke und Essays geschrieben, „Rochade“ ist nun sein Romandebüt. Eines, das sich sehen lassen kann. In die sehr witzig geschriebene Geschichte einer Fälschung flechtet er historische Erzählungen über die vielen Besitzer dieses berühmten Vermeers ein. Das Gemälde galt nämlich als eines von Hitlers Lieblingsbildern – als Österreich annektiert wurde, schaffte man es nach Deutschland, wo es zum Prunkstück des Führermuseums werden sollte. Und Tötschingers Erzähler Clemens Hartmann hatte einen Großvater, der als Kunstkurator zeitweise in Hitlers Diensten stand.

Die Spannung ergibt sich klarerweise dann dadurch, dass wir bis zum Ende nicht wissen, ob der Schwindel mit der Fälschung durchgehen wird. Zudem wird das Kunsthistorische gerade von einem Unternehmensberater heimgesucht, der von Kunst keine Ahnung hat, sich aber überall einmischt und bald schon Kündigungen verlangt. Alles muss schneller und billiger gemacht werden. Die üblichen Verwerfungen bei einer neoliberalen populistischen Regierung. Als Leser wünscht man sich, Tötschinger hätte auch die Nebenfiguren besser charakterisiert. Wir bekommen gerade noch den interessanten Assistenten Hubert zu fassen, die Tochter Hartmanns scheint allerdings nur angedeutet. Dafür bleibt aber das Vergnügen, Jan Vermeer himself kennenzulernen, denn Hartmann spricht bald schon mit dem Meister, der ja auch im Bild selbst – allerdings eben nur von hinten – zu sehen ist, und der dann auch antwortet. Vermeer will übrigens schleunigst wieder im Museum ausgestellt werden, wo er sich an den hübschen Touristinnen erfreuen kann…


Reinhard Tötschinger: Rochade, Picus Verlag
ISBN: 978-3-7117-2109-9
288 Seiten, € 22,–

Buchtipp – Carolina Setterwall, Betreff: Falls ich sterbe

Plötzlich Alleinerzieherin


Plötzlich Alleinerzieherin – „Betreff: Falls ich sterbe“ der Bestseller der Schwedin Carolina Setterwall. Ein Buchtipp von Helmut Schneider


Als Roman wäre der Welterfolg „Betreff: Falls ich sterbe“ der Musikredakteurin Carolina Setterwall eine Katastrophe. Zu viele Türen werden aufgemacht ohne dass man dadurch woanderns hinkäme. Die Ich-Erzählerin Caroline verliebt sich in ihren Traummann Aksel – man ist jung, feiert das Leben und dann will sie unbedingt ein Kind, wozu er nur widerwillig ja sagt. Als das Baby dann da ist, schickt er ihr eine Mail mit dem Betreff „Falls ich sterbe“, in der alle seine Daten und Passwörter aufgelistet sind. Wenig später stirbt er plötzlich im Schlaf. Sehr viel später erfährt sie von seiner Herzschwäche, aber es ist nicht klar, ob er davon wusste. Und ein anderes Mal macht sich Caroline – obwohl selbst ziemlich betrunken – Sorgen, weil er ein paar Biere zu schnell geschluckt hat. Wem fällt da nicht Tschechows Revolver ein, der hier allerdings keine Kugel abfeuern wird.

Was die fast 500 Seiten Selbstbespiegelung für manche aber sicher interessant macht sind die genaue Schilderung der Zeit vor und vor allem nach der Katastrophe. Anfang Dreißig mit Baby plötzlich ohne Geliebten und Vater dazustehen ist sicher herausfordernd. Dabei hat Caroline wirklich die besten Voraussetzungen, ihre Situation durchzustehen. Es sind immer Freunde und Familie für sie da – Caroline ist nie alleine, wenn sie es nicht will. Finanzielle Sorgen gibt es auch keine. Dazu die großzügigen schwedischen Sozialgesetze. Als Leser denkt man sich da oft, sie solle einmal an die vielen anderen Alleinerzieherinnen denken, die ganz andere Probleme zu meistern haben. Caroline fühlt das manchmal auch, wenn sie etwa im Urlaub zu dem sie eingeladen wurde neidisch auf Menschen ohne Kind blickt. Dabei war es doch ihr großer Wunsch, endlich Mutter zu werden. Und natürlich klebt sie an ihrem Sohn Ivan, der sich naturgemäß unverzüglich in einen Tyrannen entwickelt. So detailliert und genau wollen wir es bisweilen gar nicht wissen, wenn etwa jedes Wehwechchen detailiert beschrieben wird.

Immerhin gibt es so etwas wie ein Finale. Caroline verliebt sich in einen alleinerziehenden Vater mit einer etwas älteren Tochter. Wäre doch eine prima Familie. Doch dann stellt sich heraus, dass dieser Mann – fast niemandem sonst in dem Buch gönnt die Erzählerin einen Namen – möglichst schnell noch ein Kind von ihr will. Als sie wirklich schwanger wird, merkt sie, dass sie jetzt noch nicht dafür bereit ist. Nun ja, das Buch ist immerhin ein internationaler Bestseller.


„Betreff: Falls ich sterbe“ von Carolina Setterwall
480 Seiten, € 22,90
ISBN: 978-3-462-05260-2

Literaturcafé

Pop-Up Literaturcafé

Pop-Up Literaturcafé


SDas mobile Pop Up Literatur-Café im Gemeindebau bietet WienerInnen die Möglichkeit, eine kurze Auszeit bei Gratis Kaffeepause und Lesungen zu genießen. Am 20. August geht’s los!


Zu den unten angeführten Terminen können Sie sich erfreut in einen Innenhof eines Gemeindebaus, in einen Park oder an einen ruhigen Platz ohne allzu viel Autolärm begeben und

  • als Erwachsener Kaffee aus einer richtigen Espressomaschine & Kuchen
  • als Kind  Getränk & Kuchen und 2 x 10 Minuten Vorlesung aus einem Kinderbuch

genießen.  Und das ganze natürlich GRATIS!!!

Das ganze findet in einem netten Rahmen bestehend aus Sonnenschirmen, Kaffee-Tischen und –Sesseln an einem ungewöhnlichen Ort statt.

Damit machen wir Wien noch lebenswerter – und das mitten im Sommer!

Termine & Adressen

Fr. 20.08.2021 | 15:00 – 18:00 Uhr, Paul-Speiser-Hof, 1210 Wien
Mo. 23.08.2021 | 15:00 – 18:00 Uhr, Rennbahnweg 27, 1220 Wien
Di. 24.08.2021 | 15:00 – 18:00 Uhr, Thürnlhof, 1110 Wien
Mi. 25.08.2021 | 15:00 – 18:00 Uhr, Stromstraße 14-16, 1200 Wien
Do. 26.08.2021 | 15:00 – 18:00 Uhr, Weinberggasse 60, 1190 Wien
Fr. 27.08.2021 | 15:00 – 18:00 Uhr, Hugo-Breitner-Hof, 1140 Wien
Mo. 30.08.2021 | 15:00 – 18:00 Uhr, Reumannhof, 1050 Wien
Di. 31.08.2021 | 15:00 – 18:00 Uhr, George-Washington-Hof, 1100 Wien
Mi. 01.09.2021 | 15:00 – 18:00 Uhr, Putzendoplergasse 2-28, 1230 Wien
Sa. 04.09.2021 | 15:00 – 18:00 Uhr, Per-Albin-Hansson-Siedlung, 1100 Wien

Buchtipp – Maarten T Hart, Der Nachtstimmer

In der niederländischen Provinz


Maarten ’t Hart: Der Nachtstimmer – ein Roman über einen Orgelstimmer, der plötzlich Ziel von Attentaten wird. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.


Maarten ’t Hart, der im südholländischen Warmond bei Leiden lebt, ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller Hollands. Mit seinen skurrilen Helden, die gegen ein durch Zufälle bestimmtes Schicksal ankämpfen, hat er sich eine treue Leserschaft erschrieben. In seinem neuen, bei Piper erschienenen Roman „Der Nachtstimmer“ geht es um den Orgelstimmer Gabriel Pottjewijd, der wegen einer lauten Fabrik in einem kleinen Nest an der südholländischen Meeresküste oft nur nachts arbeiten kann. Dabei hilft ihm ein Mädchen, das bei den Einheimischen als debil gilt, in Wirklichkeit aber nur eine leichte Form des Autismus aufweist. Lanna weigert sich schlicht, Niederländisch zu sprechen und kommuniziert mit ihrer brasilianischen Mutter – die Witwe eines Matrosen – nur auf Portugiesisch. Aber der Ort ist sowieso voller Skurrilitäten – der Wirt des einzigen Gasthofs, wo der Orgelstimmer wohnt, ist kauzig und trägt eine Brille ohne Gläser. Die Einheimischen diskutieren stundenlang über unbedeutende Bibelstellen und einer von ihnen sammelt sogar Bibelausgaben – sein Haus ist von oben bis unten voll damit.

Als sich Gabriel Pottjewijd dann mit der ebenso schönen wie spröden Brasilianerin und ihrer Tochter sehr, sehr langsam anfreundet, ist er bald schon nicht mehr seines Lebens sicher. Er wird ins Hafenbecken gestoßen und eines Nachts fallen in der Kirche, in der er arbeitet sogar Schüsse. Wahrscheinlich ist er nicht der einzige Verehrer der Schönen. Aber Maarten ’t Hart interessiert der Krimi, den er uns auftischt, nur bedingt. Dafür ist das Ganze ja auch viel zu langsam erzählt. Er liebt es, leicht ironische und humorvoll pointierte Sätze zu schreiben – wirklich Böses kündigt sich in anderer Sprache an. Und so ist „Der Nachtstimmer“ ein Buch für Leser, die sich an skurrilen Wendungen und der sehr calvinistisch-puritanischen Stimmung erfreuen können – sozusagen ein Krimi für Menschen, die keine Krimis mögen.


„Der Nachtstimmer“ von Maarten ’t Hart
320 Seiten
ISBN: 978-3-492-07043-0
€ 24,00

Buchtipp – Hans-Ulrich Treichel, Schöner denn je

Im West-Berlin der 80er Jahre


Hans-Ulrich Treichels Roman „Schöner denn je“ über eine Männerfreundschaft, die auf Konkurrenz gebaut ist.
Text: Helmut Schneider


Beide wachsen in der Provinz auf und ziehen dann nach West-Berlin zum Studieren. Aber während der Erzähler Andreas dann doch lieber das Lehramt macht, absolviert Erik überraschenderweise zunächst eine Tischlerlehre, um dann als Filmarchitekt durchzustarten. Einmal in der damals noch geteilten Stadt angekommen, sieht man sich sowieso kaum noch. Dabei hatte Andreas alles getan, um Erik als seinen besten Freund zu gewinnen. Doch Erik war schon immer anders – brutal gesagt besser. Es schaut gut aus, hat die hübscheren Mädchen, ist beliebt und fährt ein cooles Auto. Am schlimmsten aber: Erik nimmt das alles nur beiläufig wahr, er ist bescheiden, gibt nie an und drängt sich niemals auf. Erik ist einfach lässiger.

Zum Wendepunkt im Roman kommt es erst, als Andreas nach einer gescheiterten Ehe eine Wohnung sucht und zufällig Erik in einem Restaurant trifft. Der bietet ihm für die nächsten Monate selbstlos seine 8-Zimmer-Wohnung in bester Lage als Bleibe an, weil er selbst beruflich nach New York und Hollywood muss. Und dann ruft in Eriks Wohnung noch die berühmte Schauspielerin Hélène an, für die Andreas schon seit Jahren schwärmt und die Erik, wie auch andere Berühmtheiten – zu Klaus Kinski, sagt er nur „Ach, der Klaus“ –anscheinend sehr gut kennt.

Der 1952 geborene deutsche Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel kostet in seinem neuen Roman die Komik dieser Männer-Nicht-Freundschaft aus. Wir erleben das Ganze ja aus der Sicht des Underdogs. Wobei Andreas als Lehrerausbildner in Romanistik ja ganz gut leben könnte und würde – wäre da nicht Erik wie die sprichwörtliche Karotte vor seiner Nase. Je länger man in diesem Roman liest, desto mehr bekommt man das Gefühl, dass Erik in Wirklichkeit nur ein Phantom, ein Spiegelbild des Erzählers, ist. Andreas findet in Eriks großer Wohnung nichts Persönliches, alles ist ebenso geschmackvoll wie nichtssagend. Als er dann beim verzweifelten Stöbern in den Läden ganz hinten auf Röntgenbilder von Eriks Schädel stößt, wirkt das fast auch wieder wie eine Metapher. Der perfekte Mensch hat möglicherweise einen Hirntumor.

Lustig und doch auch wieder mysteriös sind auch die Szenen mit Hélène, die Andreas schließlich bittet, ihn in Berlin herumzufahren. Weit kommen sie aber nicht – überall wird der Star angesprochen. Als sie ihn dann in Eriks Wohnung besucht, schläft sie – natürlich ohne ihn – im Bett ein. Ein Filmstar ist eben immer müde. Witzig ist auch wieder einmal vor Augen geführt zu bekommen, was vor kurzem noch normal war. In der 80er-Jahren gab es noch keine Computer und wer einen Anruf erwartete, musste brav zu Hause bleiben und warten. Hans-Ulrich Treichels Roman „Schöner denn je“ ist vielleicht eine Studie darüber wie sehr uns Vorbilder und Wünsche unser Leben vermiesen. So einen Hinweis kann man ja ab und zu brauchen.


„Schöner denn je“ von Ulrich Treichel, suhrkamp Verlag
ISBN: 978-3-518-42973-0
175 Seiten
€ 22,70