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Kriminacht 2021

Kriminacht im Kaffeehaus


Am 12. Oktober 2021 finden sich wieder zahlreiche Wienerinnen und Wiener in etlichen Locations der Stadt ein, um die beliebte Leistungsschau heimischer Krimischreiber – heuer mit Gaststar Petros Markaris und einer Filmvorführung – selbst zu erleben: Die Kriminacht!
Foto: Stefan Joham


Drehbuchschreiber Uli Brée (Vorstadtweiber) ist zum ersten Mal dabei, denn sein Krimidebüt „Du wirst mich töten“ über eine schwangere, junge Polizistin mit bedrückender Vergangenheit erscheint punktgenau zur Kriminacht. Brée wird im Hotel Beethoven lesen, das auch im Roman vorkommt. Andreas Pittler lässt in seinem neuen Thriller „Vienna Dschihad“ seinen Inspektor Glauber im Terrormilieu ermitteln. Und Constanze Scheib schickt in „Der Würger von Hietzing“ eine noble Villenbesitzerin auf Mörderjagd. Michaela Kastel (Titelbild) wurde mit „So dunkel der Wald“ bekannt, heuer liest sie aus ihrem neuen Thriller „Mit mir die Nacht“.

Drehbuchschreiber Uli Brée ist heuer bei der Kriminacht dabei. – ©Jan Frankl

LEO-PERUTZ-PREIS
Sabina Naber, Sabine Kunz, René Anour, Anne Goldmann und Reinhard Gnettner stehen mit ihren Krimis auf der Shortlist zum Leo-Perutz-Preis, der im Rahmen der Kriminacht vergeben wird. Selbstverständlich haben alle Nominierten eine Lesung in einem Kaffeehaus. Und ebenso selbstverständlich sind auch die Publikumalieblinge vorangegangener Kriminächte (heuer schon die 17. ihrer Art!) wie Christian Klinger, Eva Rossmann, Claudia Rossbacher, Edith Kneifl, Theresa Prammer oder Stefan Slupetzky wieder dabei. Als Stargast aus Athen reist der griechische Bestsellerautor Petros Markaris („Das Lied des Geldes“) an, der in der Hauptbücherei Wien lesen wird.

GESPENSTISCH
Wie wandlungsfähig das Genre Krimi ist, beweist etwa Gerhard Loibelsberger, der in „Micky Cola“ die Story eines als Phantom wahrgenommenen Songwriters beschreibt. Gespenstisch sozusagen, weshalb Loibelsberger diesmal in Simmering in der Aufbahrungshalle 2 am Zentralfriedhof lesen wird. Im Admiralkino gibt es bei freiem Eintritt eine Sondervorführung des Films „Aufzeichnungen aus der Unterwelt“ von Tizza Covi und Rainer Frimmel. Mitten im Geschehen stehen der Wienerlied-Sänger Kurt Girk und sein legendärer Freund Alois Schmutzer. Beide müssen ihre Nähe zum illegalen Kartenspiel „Stoß“ nach einem umstrittenen Prozess mit langen Haftstrafen büßen. Die Einleitung dazu gibt Burgstar Robert Reinagl (Reservierungen unter: admiralkino.at).

Im Admiralkino gibt es bei freiem Eintritt eine Sondervorführung des Films „Aufzeichnungen aus der Unterwelt“ – ©Stadtkino Filmverleih

GEDENKEN
Zum Andenken an den 2012 verstorbenen oftmaligen Kriminacht-Gast Ernst Hinterberger, der heuer seinen 90. Geburtstag gefeiert hätte, verschenkt das Kriminacht-Team ausgewählte Trautmann-Krimis an Besucher. Die Kriminacht dankt seinen Unterstützern wie der Wirtschaftskammer Wien und der Stadt Wien.


Buchtipp – Jonathan Lethem, Anatomie eines Spielers

Anatomie eines Spielers


Berlin, Berkeley, Singapur – Jonathan Lethem zeichnet einen Gambler im Kampf mit dem Kapitalismus. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.


Der Amerikaner Alexander Bruno ist weltweit agierender Profispieler, freilich auf dem eher ungewöhnlichen Feld des Backgammon-Spiels. Doch seit kurzem hat er schlechte Karten, das heißt bei ihm natürlich Steine. Denn nicht nur hat er in Singapur eine Art Pechsträhne, er bemerkt in einem Auge auch einen massiven Gesichtsfeldverlust, einen schwarzen Fleck – was leider sehr wahrscheinlich auf einen Tumor hinweist. In Berlin fällt er während eines Spiels mit einem reichen Gegner in dessen Villa zusammen und landet in der Charité. Er hat inzwischen eine Wucherung im Gehirn, der nach Ansicht der deutschen Ärzte nicht operierbar ist. Allerdings soll es in San Francisco einen Neurochirurgen geben, der dem Tumor von vorne zu Leibe rückt, indem er das Gesicht „wegklappt“. So genau will man sich das gar nicht vorstellen – allein Jonathan Lethem beschreibt die Operation des Hippiearztes und Jimmy-Hendrix-Fans in aller Ausführlichkeit.

Finanziert wird Brunos zig-teure Operation von einem College-Klassenkameraden, den er zufällig in Singapur trifft und der – obschon gekleidet wie ein Obdachloser – in beider Heimatstadt Berkeley ein Immobilien- und Fastfood-Imperium aufgebaut hat. Frisch operiert wacht Bruno schließlich in Berkeley auf – geheilt, aber natürlich ziemlich entstellt und weiterhin von den Zuwendungen seines „Freundes“ abhängig. Dankbar will Bruno aber nicht sein, im Gegenteil: er schließt sich der Protestbewegung gegen die neue Ausbeutung durch das Großkapital – namentlich durch seinen Ex-Klassenkameraden an.

„Anatomie eines Spielers“ ist ein witziger, literarisch ambitionierter Noir-Krimi Jonathan Lethems, der mit seinen Brooklyn-Romanen „Die Festung der Einsamkeit“ und „Motherless Brooklyn“ (verfilmt mit  Bruce Willis, Gugu Mbatha-Raw, Alec Baldwin und Willem Dafoe) berühmt wurde. Inzwischen lebt er allerdings in Kalifornien. Auf den knapp 400 Seiten findet er auch Platz für einige Romanzen, denn Bruno ist sowohl von der Freundin seines Gönners als auch von einer Berlinerin angezogen. Letztere lernte er beim Privatspiel eines reichen Magnaten kennen, als sie unten ohne und oben komplett in Leder eingepackt Sandwichs servierte. Die Schrecken des Turbokapitalismus werden in dem Universitätsstädtchen Berkeley, das ja eigentlich ein Stadtteil von SF ist, anschaulich gemacht. Die völlig unakzeptable bezahlte Unterschichte hat da schön langsam die Nase voll. Eat the Rich!


Jonathan Lethem: Anatomie eines Spielers, Tropen Verlag
432 Seiten
ISBN: 978-3-608-50154-4
€ 25,90

Buchtipp – J. Courtney Sullivan, Fremde Freundin

Drei-Klassen-Gesellschaft


J. Courtney Sullivans Roman über eine scheinbare Freundschaft zwischen einer Autorin und ihrer Babysitterin.
Text: Helmut Schneider


Elisabeth ist eine gutverdienende Schriftstellerin, die wegen ihres gerade geborenen Sohnes Gil mit ihrem Mann Andrew gerade vom schicken Brooklyn in den Nordosten der USA zieht. Dort haben sie Haus und Garten, Andrew kann am College unterrichten und an seiner Erfindung eines solarbetriebenen Grills arbeiten und dort bekommt sie auch problemlos eine Studentin als Babysitterin. Sam ist – schon weil sie bereits als Kind einer Arbeiterfamilie auf ihre Geschwister aufpassen musste – die ideale Betreuerin für Gil. Und sie wird schnell auch zu so etwas wie eine Freundin Elisabeths.

Die New Yorkerin J. Courtney Sullivan erzählt abwechselnd aus der Perspektive von Sam und der von Elisabeth, ihre Sympathien sind gut verteilt. Denn einerseits ist Elisabeth eine liberale Frau, die versucht, ihre Mitmenschen zu verstehen – andererseits aber auch ein typischer Brooklyner Snob – ihre neuen Nachbarn, die anscheinend alle Collegeabschlüsse haben, aber als Mütter längst nicht mehr arbeiten, kommen ihr furchtbar spießig vor. Ihre 500-Dollar-Kleider und 50-Dollar-Seifen hält sie für normal. Dass ihr geschiedener Vater Millionär ist, verdrängt sie und weigert sich, Geld von ihm anzunehmen. Für Sam spielt sie die Frau, die sich hochgearbeitet hat und vergisst, dass sie ihre ersten Praktika nur durch Daddys Netzwerke bekommen hatte.

TURBULENT
Sam ist beeindruckt von Elisabeth, zumal ihre Freundinnen am College ja alle verwöhnte Töchter aus Familien sind, die den Winter in Aspern und den Sommer in der Karibik oder in Europa verbringen, während sie selbst den Studienkredit noch Jahre abzahlen wird. In London, wohin sie ihre beste Freundin Isabella einlädt, lernt sie Clive kennen, der sie bald schon heiraten will. Ein bisschen viel Probleme auf einmal für ein junges Leben.

Geschickt hat J. Courtney Sullivan aber noch eine andere Gesellschaftsschichte eingearbeitet, denn Sam arbeitet auch in der Mensa und lernt dort eingewanderte Frauen kennen, die echte Schwierigkeiten haben, ihr Leben mit ihren Minimalstlöhnen zu bestreiten. Es gibt also nicht nur die Klasse der reichen Erben und der prekären ehemaligen Mittelschicht, sondern auch noch das neue, quasi rechtlose Proletariat der Migranten. Als Sam mit einem unter Pseudonym verfassten Brief an die Collegeleitung versucht, deren Arbeitsbedingungen zu verbessern, wird deren Lage noch schlechter. Längst sind wir in der Drei-Klassen-Gesellschaft – und niemand regt sich mehr darüber auf.

„Fremde Freundin“ hat sicher einige Längen, doch der Roman greift ein wichtiges Thema – den schleichenden gesellschaftlichen Wandel nach neoliberalem Muster – auf. Und er lässt sich wunderbar lesen, denn er gibt uns tiefe und intime Einblicke in das Alltagsleben heutiger junger Frauen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten.


J. Courtney Sullivan: Fremde Freundin, Zsolnay Verlag
528 Seiten
ISBN: 978-3-552-07251-0
€ 24,-

Das war der D-Day für Doderer

Erster D-Day für Doderer bei regem Besuch


Die Heimito-von-Doderer-Gemeinde in Wien hat einen neuen Fixpunkt. 70 Jahre nach Erscheinen der „Strudlhofstiege“ fand in Wiener Café Landtmann der erste „D-Day für Doderer“ statt. Und zwar genau an jenem Datum – 21. September – an dem Mary K. im Roman ihr hübsches rechtes Bein von einer Straßenbahn abgefahren wird.


Im vollbesetzten  „Pressekonferenz-Zimmer“ des Kaffeehauses diskutierte Helmut Schneider (wienlive) mit dem Literaturkritiker und Autor des Buches „Kontinent Doderer“ Klaus Nüchtern über Themen wie Doderers Wien-Topografie, seinen späten Ruhm, seine Vorliebe für Kaffeehäuser, seinen einzigartigen und oft bösartigen Humor und nicht zuletzt über Doderers spezielle Erotik. Die Schauspielerin, Autorin und Regisseurin Chris Pichler bekam für ihre sehr elaborierten Lesungen aus der „Strudlhofstiege“, den „Dämonen“ und den „Wasserfällen von Slunj“ Szenenapplaus. Buchhändler Oliver Hartlieb – selbst ein großer Doderer-Fan – bot aus seinem Shop in der Porzellangasse nahe der Strudlhofstiege, wo es ein eigenes Doderer-Eck gibt, Bücher des Schriftstellers zum Verkauf an. Nach knapp anderthalb Stunden Diskussion und Lesung unterhielten sich viele Gäste noch weiter angeregt über Doderers Leben und Werk.

Der „D-Day für Doderer“ bedankt sich bei seinen Unterstützern Stadt Wien Marketing und Café Landtmann.


Buchtipp – Heimito von Doderer, Die Dämonen

Heimito von Doderers „Die Dämonen“


 „Die Feder des Schriftstellers ist oft klüger als er selbst, wie mitunter das Pferd gescheiter als der Reiter.“ Helmut Schneiders Buchtipp: Heimito von Doderers „Die Dämonen“.


Auch wenn „Die Strudlhofstiege“ Doderers bekanntester und meistgelesener Roman geblieben ist, sind „Die Dämonen“ in Wirklichkeit ein leichter zu lesendes Werk. Man darf sich nur nicht von den fast 1400 Seiten abschrecken lassen.

Die Dramatik ist indes eine ähnliche: Während sich in der Strudlhofstiege alles auf den Unfall der Mary K am 21. September 1925 zuspitzt, ist es bei den Dämonen der Brand des Justizpalastes am 15. Juli 1927 sowie dessen Vorgeschichte, die Ermordung zweier sozialdemokratischen Demonstranten – eine davon ein Kind – im burgenländischen Schattendorf.

Einige der Figuren aus der Strudlhofstiege wie Mary K. oder Rene Stangeler kommen auch in den Dämonen prominent vor. Auch zeitlich sind die Dämonen quasi eine Fortsetzung. „Die Dämonen“ spielen zwischen dem Herbst 1926 und dem Hochsommer 1927 überwiegend in Wien und dessen näherer Umgebung, sowie in der Wiener Sommerfrische (Rax, Semmering), dem Burgenland und auf einer Kärntner Burg.

Auch in den Dämonen löst Doderer am Ende einige Konflikte auf und gönnt den meisten ein Happy End – am Schluss gibt es fast wie in einer Telenovela gleich mehrere Hochzeiten. Ursprünglich sollte der Roman „Dicke Frauen“ heißen, da einer der Chronisten eine Zeitlang besessen von ebensolchen ist. Es herrschte damals in den 20er-Jahren eben ein völlig anderes Frauenideal, nämlich das der sportlichen, burschikosen Frau.

In den Dämonen gibt auch echt unsympathische Figuren, nämlich den Kammerrat Levielle und den Hochstapler Imre Gyurkicz sowie einen Mörder mit dem bezeichnenden Namen Meisgeier. Doderer ist einerseits ein intellektueller, andererseits auch ein hemdsärmeliger Erzähler. Vieles wirkt nicht aufgeschrieben, sondern direkt erzählt. Die Sprachmelodie des Wienerischen ist durchgängig bestimmend.

Die Dämonen des Titels sind nach Doderers Erklärung die Weltanschauungen, quasi eine Fortsetzung des mittelalterlichen Aberglaubens. Der Historiker René Stangeler entdeckt nämlich auf einer Kärntner Burg, wohin er als Archivar eines Erben bestellt ist, eine Handschrift über eine recht seltsame Hexenaustreibung. In Wirklichkeit ging es dem damaligen Burgherrn nämlich um die Befriedigung seiner voyeuristischen Gelüste, die Auspeitschung der Hexen erfolgte mit Samtpeitschen. Auf Seite 1023 heißt es dann: „Damals nannte man es einen Dämon“. Und weiter: „Heute deklariert man das falsch, als ob es vernünftiger Herkunft wäre: eine Weltanschauung.“

Und das passt auch gut zu der Darstellung der historischen Ereignisse rund um den Justizpalastbrand nach dem skandalösen Fehlurteil im Schattendorf-Prozess. Doderer, der selbst ein studierter Historiker war, schildert das Gemetzel der Wiener Polizei an den Demonstranten (84 Todesopfer) als historisch falsch als ein Missverständnis, an dem weder der Republikanische Schutzbund noch die Einsatzkräfte Schuld tragen. Der Abschaum Wiens – der „Ruass“ – soll sich einen Spaß daraus gemacht haben, die Polizei herauszufordern.

Die am wenigsten glaubhafte Figur in dem Roman ist demnach auch der Arbeiter Kakabsa, der eine junge Dame vor einer Buchhandlung vor dem Sturz rettet und daraufhin ausgerechnet eine lateinische Grammatik kauft, um in der Folge brav Latein zu lernen. Sein Bildungseifer lässt ihn zu einem Gelehrten aufsteigen, der schließlich die große Bibliothek eines Fürsten verwalten soll. Am Ende gewinnt er schließlich noch die Hand der von allen verehrten Mary K.

Trotz der Fülle an Handlungssträngen ist der Roman sehr vergnüglich zu lesen. Es wäre eine wundervolle Aufgabe für einen Drehbuchschreiber, daraus eine TV-Serie zu machen – mit tollen Rollen wie der etwas patscherten späteren Millionenerbin Quapp oder den dicken Damen im Wiener Café. Und die einbeinige Mary K., deren Schönheit weiterhin auf die Gesellschaft ausstrahlt, wäre eine Glanzrolle für jede Schauspielerin. Dazu jede Menge Intrigen, versuchte Lieben, Halbweltfiguren und sogar ein spektakulärer Mord. Was will man mehr?


„Die Dämonen“ von Heimito von Doderer, C.H. Beck Verlag

1360 Seiten
ISBN: 978-3-423-10476-0
€29,80

Buchtipp – Heimito von Doderer, Die Strudlhofstiege

Heimito von Doderers Wien erschien vor 70 Jahren.

70 Jahre „Die Strudlhofstiege“


Vor 70 Jahren erschien Heimito von Doderers Wien-Roman „Die Strudlhofstiege“. Am 21. September, 19 Uhr, feiern wir im Café Landtmann Heimito von Doderer mit einem D-Day für Doderer. Chris Pichler liest Doderer-Kostproben, Klaus Nüchtern („Kontinent Doderer“, C. H. Beck) diskutiert mit Helmut Schneider über Doderers Werk. Eintritt frei!
Text: Helmut Schneider / Foto: Barbara Niggl Radloff CC BY-SA 4.0


Angeblich kannten die kleine Strudlhofstiege im Wien des Jahres 1951 nur die anwohnenden Alsergrunder. Der Verlag presste Doderer deshalb auch den Untertitel „Melzer und die Tiefe der Jahre“ ab, damit man das Buch verkaufen könne. Erst der Erfolg des Romans machte die 1910 eröffnete Fußverbindung  im Stil des Jugendstils aus Mannersdorfer Kalkstein dann genauso berühmt wie ihren Verfasser. Wobei man sicher nicht falsch liegt, wenn man behauptet, dass sehr viele Heimito von Doderers „Die Strudlhofstiege“ nur dem Namen nach kennen. Die 900 Seiten, die der Wiener Schriftsteller seinen Lesern zumutet, haben es nämlich in sich. Wie bei vielen berühmten Werken der Literatur dürfte es zwei Lager geben, nämlich jene, die diesen Roman mit Innbrunst lieben und beim Lesen viel Spaß haben und jene, die ihn nach wenigen Seiten entnervt weglegen.

Das beginnt schon damit, dass sich der Inhalt des Romans kaum wiedergeben lässt, was den Autor sogar diebisch freute. „Ein Werk der Erzählungskunst ist es um so mehr, je weniger man durch eine Inhaltsangabe davon eine Vorstellung geben kann“, notierte er über seinen Roman. Dabei gehört es zum Faszinierendsten dieses Textes, dass „Die Strudlhofstiege“ auch sehr viele Ingredienzien von damaligen Kolportageromanen enthält – wir erleben eine Ehetragödie, die in Selbstmord endet, einen spektakulären Unfall, natürlich Liebesgeschichten & Sex, einen versuchten Schmuggel zwecks Zollbetrug, eine Frau, die es pikanterweise doppelt gibt und eine Bärenjagd.

Andererseits hat das Buch tatsächlich keine Hauptperson. Major Melzer, der im Untertitel genannt wird, ist über lange Strecken abwesend und Doderer verweigert ihm im Roman sogar einen Vornamen. Überhaupt scheint der Autor als Erzähler immer gegenwärtig und präsent. Er lässt uns quasi glauben, dass er die vielen Geschichten und Anekdoten von denen er berichtet, selbst von irgendwo erfahren hat und nur aufschreibt.

In fast kindischer Boshaftigkeit ist Doderer natürlich alles andere als politisch korrekt. Ja, er hält viele seiner Figuren – auch Melzer – für geradezu dumm oder zumindest unwissend. Nicht nur, aber gerade auch Frauen. Melzers spätere Frau Thea wird als Lämmchen beschrieben, das man auf die Weide stellen muss, wo sie dann ab und zu „Bäh“ machen darf. Andererseits finden gestandene Frauen gleich alle Männer als „dumm und umständlich“. Einmal regt der Erzähler gar Wörterbücher für Frauen und Wörterbücher für Männer an – samt Übersetzungshilfen, da die beiden Geschlechter ja pausenlos aneinander vorbeireden. Dann beschreibt Doderer wieder einen Mann als „Schlagetot … mit dem Mund eines Negers“. Fraglich, ob so ein Roman heute erscheinen könnte.

Woraus speist sich nun die Faszination, die die Strudlhofstiege auch heute noch entfalten kann? Immerhin hatte erst vor kurzem das Theater in der Josefstadt eine Dramatisierung auf dem Spielplan und das Schauspielhaus wagte sich vor Jahren erfolgreich an eine Art TV-Serie fürs Theater. Doderer stößt schon auf der allerersten Seite des Buches etwas an, das er ganz am Ende auflöst, nämlich den Straßenbahnunfall der Mary K, bei der diese am 21. September 1925 ein Bein verliert und der zufällig vorbeikommende Melzer ihr durch im Krieg trainierte Schlagfertigkeit – er bindet ihr das Bei ab – das Leben rettet. Der ganze Roman ist auf dieses eine Ereignis hingeschrieben, wobei sich die Spannung aus der Frage ergibt, ob denn alles so zufällig geschehen ist. Denn Melzer hatte Mary K. vor 15 Jahren einen Heiratsantrag nicht gestellt. Ihrer beider Leben wäre dann – vermutlich ohne Unfall – anders verlaufen. Und just als Melzer 1925 Mary K. versorgt, ist seine spätere Frau Thea neben ihm und hilft. Doderer scheint in allen seinen Romanen vom Spannungsfeld zwischen Schicksal und Bestimmung geradezu besessen zu sein. Als Erzähler hält er die Fäden in der Hand, seine Figuren lässt er indes in Zufälligkeiten taumeln. Die Zwillingsschwestern werden zufällig von einer Frau entdeckt, die jemanden am Bahnhof abholt, ein Brief wird von der Falschen geöffnet und so weiter und so fort.

„Die Strudlhofstiege“ kann man aber auch als einen Roman eines einzigen Ereignisses und eines Tages lesen – allerdings mit sehr, sehr vielen Vorgeschichten, Abzweigungen und auch einigen Sackgassen (Doderers Personal ist gewaltig), denn der erste Teil spielt ja bereits 1911. Seine Figuren gehören dem vermögendem Bürgertum sowie dem Kleinbürgertum an, Arbeiter, also Proletarier – 1925 sind wir immerhin mitten im „Roten Wien“ –  kommen in dem Roman keine vor. Und noch etwas ist bemerkenswert. Obwohl zwei Hauptakteure – Major Melzer als auch René von Stangeler – im 1. Weltkrieg an der vordersten Front waren, bleibt der Krieg seltsam ausgespart. Wir wissen nur, dass Melzers Lebensmensch – Major Laska, mit dem er auf Bärenjagd am Balkan war,  – in den Armen Melzers stirbt. Auch die Wirtschaftskrise und die Inflation jener Zeit werden mit keinem Wort erwähnt – nur einmal wird eine politische Mission zur Rettung der österreichischen Währung erwähnt. Alle beschriebenen Figuren scheinen von 1911 bis 1925 nur älter geworden zu sein, sonst hat sich in ihren Lebensumständen kaum etwas geändert. Dabei hat Doderer „Die Strudlhofstiege“ teilweise mitten im 2. Weltkrieg geschrieben, wo er als Reservist im Hinterland seinen Dienst ableistete und sogar zeitweise in Kriegsgefangenschaft geriet. Seine finanzielle Lage war ebenso prekär, als Schriftsteller als der er sich seit seiner russischen Gefangenschaft im 1. Weltkrieg sah, war er nahezu unbekannt und er war als 50jähriger noch von Zuwendungen seiner Mutter abhängig.

WIENROMAN ODER GROßSTADTROMAN?

Doderers Roman ist voll mit genauen Ortsangaben, nicht nur die Strudlhofstiege als Schauplatz von teilweise dramatischen Szenen zieht sich durch das gesamte Werk, auch der Althanplatz (heute Julius-Tandler-Platz), wo sich der Unfall ereignet, die Porzellangasse, der Tennisplatz im Augarten, Graben und Kohlmarkt oder das damals noch biedermeierliche Lichtenthal-Viertel am Alsergrund werden immer wieder genannt. Und überall braust der Verkehr, namentlich die Straßenbahnen verbreiten gehörigen Lärm. Nun war Wien 1911 bekanntlich die sechstgrößte Stadt der Welt, aber spürt man das im Roman? Eher nicht, denn Menschenmassen lässt Doderer nicht zusammenkommen. Definiert man Großstadtroman als ein Werk, in dem die moderne Stadt sozusagen Mitspieler ist (genannt wird immer etwa Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“), wird man kaum fündig. Klar gibt es einen Genuis Loci, nachgerade auf der Strudlhofstiege, und die Figuren haben unzweifelhaft etwas Wienerisches, was besonders deutlich wird, wenn Doderer etwa einen deutschen Major reden lässt. Sein Personal ist tief in der Kultur Wiens verwurzelt – seien sie nun ehemalige k.u.k.-Beamte oder sogar Angehörige der ungarischen Botschaft, weil sie eben einen Job brauchen und den zugehörigen Pass haben. Das Wien Doderers ist also nur in Ansätzen eine hektische Großstadt, man verbringt hier im Sommer – und „Die Strudlhofstiege“ spielt nur im Sommer, Wien „zerrinnt“ vor Hitze – die Tage gerne in den Bergen an der Rax oder an der Donau in Greifenstein und Kritzendorf.

Was aber gerade bei diesem Roman – zweifelsohne seinem erfolgreichsten – deutlich wird: Heimito von Doderer war ein originärer Schriftsteller, den man eigentlich mit keinem anderen Autor wirklich vergleichen kann. Und gerade deshalb ist dieser 70 Jahre alte Roman auch noch heute so interessant.

Am 21. September, 19 Uhr, feiern wir im Café Landtmann Heimito von Doderer mit einem D-Day für Doderer. Chris Pichler liest Doderer-Kostproben, Klaus Nüchtern („Kontinent Doderer“, C. H. Beck) diskutiert mit Helmut Schneider über Doderers Werk. Eintritt frei!


Heimito von Doderer: Die Strudlhofstiege
dtv Verlag
ISBN: 978-3-423-01254-6
912 Seiten, € 15,90

D-Day für Doderer

D-Day für Doderer im Café Landtmann


Am 21. September 1925 verliert Mary K. in Heimito von Doderers Roman „Die Strudlhofstiege“ ihr hübsches rechtes Bein. Und wir feiern ab heuer den D-Day!
Foto: Creative Commons, CC BY 3.0 de


Ein Straßenbahnunglück bildet das große Finale in Heimito von Doderers bekanntestem Roman „Die Strudlhofstiege“. Das ganze Buch ist auf diesen 21. September 1925, an dem die hübsche Witwe Mary K. ihr Bein verliert und nur durch das beherzte Eingreifen von Melzer – einem früheren Bekannten – am Leben bleibt, hingeschrieben. Vor 70 Jahren ist „Die Strudlhofstiege“ erschienen und machte nicht nur den Autor, sondern auch die vordem unauffällige Stiege am Alsergrund berühmt. Grund genug, den 1966 verstorbenen einzigartigen Wiener Autor, der sogar einmal auf der Liste für den Nobelpreis stand, mit einer Veranstaltung zu feiern.

 „Kontinent Doderer. Eine Durchquerung“ nannte Falter-Literaturkritiker Klaus Nüchtern seine 2016 erschienene Doderer-Einführung. Denn Doderer lässt sich wirklich schwer mit anderen Autoren seiner Zeit vergleichen. Deshalb wird Aktrice Chris Pichler am 21. September im Café Landtmann auch einige Kostproben aus Doderers Werken wie etwa dem 1400 starken Romanepos „Die Dämonen“ lesen. Und der Wiener Buchhändler Oliver Hartlieb – selbst ausgesprochener Doderer-Fan, der in seiner Buchhandlung nahe der Strudlhofstiege ein großes Doderer-Sortiment anbietet – wird einige Bücher für interessierte Käufer mitbringen. Der Eintritt ist frei!

Wir danken der Stadt Wien Marketing für die Unterstützung der Veranstaltung.


INFO:

D-Day für Doderer

21. September, 19 Uhr

Café Landtmann, Universitätsring 4, 1010 Wien – Freier Eintritt!

Buchtipp – Marco Missiroli, Treue

Mittelschicht in mittleren Jahren in Mailand


Marco Missirolis Roman „Treue“ (Wagenbach Verlag) über ein Paar auf der Suche nach seinen Bedürfnissen soll heuer noch auf Netzflix als Serie herauskommen.
Buchtipp von Helmut Schneider.


War da was, oder war da nix? Als der Literaturdozent Carlo seiner Studentin Sofia auf der Damentoilette zu nahekommt, wird das als Hilfeleistung nach einem Schwächeanfall erklärt. Seine Ehefrau Margherita – obwohl nur mäßig eifersüchtig – will sich diese Sofia zwar ansehen, nimmt die Sache aber auch nicht wirklich ernst. Zumal sie gerade in erotische Träumereien mit ihrem Physiotherapeuten Andrea schwelgt. Wir sind im Jahr 2009, also mitten in der Weltwirtschaftskrise, als sich der Immobilienmarkt in Mailand von der Krise unbeeindruckt zeigt und Margherita ist Maklerin. Sie sichert auch das Familieneinkommen, denn Carlo verdient als Dozent fast nichts und als Redakteur von Reiseprospekten nur mäßig. Trotzdem wollen sie ihre Traumwohnung kaufen – ein sonnendurchflutetes Appartement im letzten Stock ohne Lift. Im zweiten, 2018 spielenden Teil des Romans wird Margheritas Mutter Anna – die 5. Hauptperson – dann auf der Treppe zu diesem Appartement dann böse stürzen und sich einer Operation unterziehen müssen.

WELTERFOLG
Marco Missirolis Roman „Treue“ ist ein Welterfolg und wird Ende des Jahres in einer Serie-Adaption bei Netflix gestreamt. Man kann vermuten, dass das damit zusammenhängt, dass in diesem Buch das Personal und die Zielgruppe perfekt zusammenpasst. Die Mittelschicht in den westlichen Ländern in den mittleren Jahren samt ihren Sorgen und Sehnsüchten mit den obligaten Ehebrüchen als Katalysator. Carlo und Margherita sind nicht reich, Carlos Eltern aber wohlhabend, während Margheritas Mutter Anna Schneiderin war. Zähneknirschend lassen sie sich von den Eltern finanziell helfen, weil die Traumwohnung zu verlockend scheint. Sofia, die Studentin kehrt nach dem Ausrutscher mit Carlo, der eigentlich ja keiner war, nach Rimini zurück, wo sie mit ihrem verwitweten Vater ein Eisenwarengeschäft führt. Einzig Andrea passt nicht so recht ins Milieu, denn er hat ein dunkles Geheimnis. Er ist in der Szene, die natürlich illegale Hundekämpfe veranstaltet. Als er dann ein Hund, an dem er sein Herz verloren hat im Kampf getötet wird weicht er in die Boxkampfszene aus. Außerdem ist er schwul, was Margherita, die ihn dann doch einmal verführt, erst später erfährt.

SPANNUNG
Marco Missiroli, der auch für den Corriere della Siera schreibt, erzählt abwechselnd aus der Sicht seiner Protagonisten, die Übergänge sind meist fließend. Im Zentrum steht die alte Frage, ob man sich in einer Beziehung selbst treu bleiben kann, wenn man seine Bedürfnisse nicht auslebt. Manches erscheint klischeehaft, die Obsessionen Andreas wirken wie aus dem „Fight Club“ entlehnt. Aber dann wieder gelingt es Missiroli, Spannung und Anteilnahme herzustellen. Am besten ist ihm wohl die Figur der alte Anna gelungen, die einmal in ihrer Karriere als Schneiderin die Ehre hatte, ein zerrissenes Kleid von Yves Saint Laurent auf die Schnelle balltauglich zu machen. Und dann ist da noch im zweiten Teil Carlos und Margheritas Sohn Lorenzo, der die Welt mit seinen Kinderaugen betrachtet und von seiner Großmutter innbrünstig geliebt wird. Herzschmerz gibt es eben auch viel in dem Buch – ideal also für eine Netflix-Adaption.


Marco Missiroli: Treue
Aus dem Italienischen von Esther Hansen
Wagenbach Verlag
ISBN: 978-3-8031-3330-4
252 Seiten, € 23,70


Lust auf mehr Literatur? Hier entlang zum letzten Buchtipp.

Eine Stadt. Ein Buch. – 2021

Der Hase mit den Bernsteinaugen


„Eine Stadt. Ein Buch.“ Heuer werden ab 11. November 100.000 Exemplare von Edmund de Waals Bestseller „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ verteilt. Ein Interview mit dem in London lebenden Künstler & Autor.
Text: Helmut Schneider / Foto: Tom Jamieson


Edmund de Waal, 1964 in Nottingham geboren, war längst ein weltbekannter Keramikkünstler und Professor in London, als er von seinem Großonkel Iggy in Tokio 264 japanische Netsukefiguren erbte und plötzlich mit seiner Familiengeschichte konfrontiert wurde, die ihn auch wieder nach Wien brachte. De Waal ist ein Nachfahre der berühmten Ephrussis, die im Wien um 1900 an Reichtum den Rothschilds um nicht viel nachstanden. Das Palais Ephrussi gegenüber der Universität am Ring war bis zur Enteignung durch die Nazis das Stammhaus der Bankerfamilie. Wie durch ein Wunder waren die kleinen japanischen Netsukefiguren aus Elfenbein oder Holz – Tierfiguren wie eben der Hase mit den Bernsteinaugen, aber auch Menschenfigürchen – der Plünderung entgangen. Ein Dienstmädchen hatte sie in seiner Kittelfalte nach und nach in Sicherheit gebracht. De Waal recherchierte vier Jahre lang anhand der abenteuerlichen Reise dieser Netsuke – von Japan nach Paris, dann nach Wien und wieder retour – und somit auch des Hasen mit den Bernsteinaugen die Geschichte seiner Urahnen. Die Ephrussis stammten ursprünglich aus Odessa, wo sie mit dem Verkauf von Getreide reich geworden waren. Später schufen sie Bankhäuser und Dynastien in Paris und Wien, ehe sie von den Nazis in die ganze Welt vertrieben wurden. De Waals Mühe hat sich freilich gelohnt. „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ wurde 2010 zu einem internationalen Bestseller und Edmund de Waal ist seither nicht nur ein gefragter Künstler, sondern auch ein gefragter Autor.

Und durch diesen Bucherfolg wurde die Geschichte der Familie Ephrussi auch in Wien wieder bekannt. Das Jüdische Museum Wien stellte 2019/2020 die Familiengeschichte in der Ausstellung „Die Ephrussis. Eine Zeitreise“ dar. Das Kunsthistorische Museum zeigte Edmund de Waals Keramikarbeiten zuerst zu einer Schau im Theseustempel und lud ihn dann ein, eine persönliche Ausstellung mit Objekten aus der Schatzkammer zu kuratieren – „Edmund de Waal trifft Albrecht Dürer. During the Night.“ 2018 übergab Edmund de Waal den größten Teil seiner Netsuke-Sammlung dem Jüdischen Museum als Dauerleihgabe. Und im Vorjahr wurde Edmunds Vater Victor de Waal österreichischer Staatsbürger – ein Herzenswunsch des Vertriebenen.

Wir erreichten Edmund de Waal am Tag des EM-Spiels England gegen Deutschland („die ganze Familie sitzt vor dem Fernseher, aber nicht alle halten zu England …“) telefonisch in London.


wienlive: Wann waren Sie das erste Mal in Wien und wie haben Sie sich damals gefühlt?

Edmund de Waal: Das war vor 25 Jahren. Ich habe die Stadt nicht verstanden, war sogar ängstlich und irgendwie fremd. Das war ja lange bevor ich begonnen hatte „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ zu schreiben. Ich kannte einige Geschichten meines Großonkels Iggy in Japan und von meiner Großmutter, aber mein Vater wollte überhaupt nicht über seine Kindheit sprechen. Kurz: Wien war damals für mich ein sehr schwieriger und komplizierter Ort. Ich erinnere mich, dass ich vor unserem alten Familienhaus gestanden bin und ich mich sehr schlecht fühlte – so völlig von der Geschichte des Ortes ausgeschlossen. Ich traute mich auch gar nicht hineinzugehen.

Sie haben alle Ihre Netsuke dem Jüdischen Museum in Wien vermacht. Warum wollten Sie, dass sie in Wien bleiben?

De Waal: Wir haben in der Familie beschlossen, unser ganzes Archiv – also Papiere, Fotografien und Briefe – an das Jüdische Museum zu geben. Die Netsuke sind eine 10-jährige Leihgabe. Der Grund ist sehr einfach: Diese Figuren können sehr kraftvoll eine Geschichte über eine jüdische Familie in Wien erzählen. Ich liebe sie sehr und habe sie auch gerne bei mir, aber ich dachte, während der nächsten zehn Jahre könnten sie hier in Wien ihre Geschichten erzählen, was sie sicher wundervoll tun werden. Es ist also ein Statement.

Ihr Vater hat letztes Jahr die österreichische Staatsbürgerschaft bekommen. Warum war ihm das so wichtig?

De Waal: Er sagte sehr deutlich, dass er das für seinen Großvater tut, der als Flüchtling staatenlos starb, weil man ihm die österreichische Staatsbürgerschaft weggenommen hatte. Interessant ist, dass jetzt meine Brüder und auch ich um die Staatsbürgerschaft angesucht haben. Ich möchte Teil von Österreich sein – und zwar nicht nur symbolisch, sondern ich möchte wirklich mit diesem Land verbunden sein. Deshalb bedeutet mir auch die Einladung zu „Eine Stadt. Ein Buch.“ sehr viel.

„Der Hase mit den Bernsteinaugen“ war ein internationaler Hit. War das Buch in deutschsprachigen Ländern am erfolgreichsten?

De Waal: Ja, tatsächlich – ist das nicht außergewöhnlich? Einer der unglaublichsten
Momente in meinem Leben war, als ich 2010 anlässlich der Veröffentlichung des Buches eine Rede in Wien im Palais Ephrussi halten durfte. Die ersten beiden Besprechungen in Deutsch kamen heraus, ich fühlte, dass das Buch in der deutschsprachigen Welt gelesen und ernst genommen wurde. Absolut außergewöhnlich! Es ist für mich immer noch erstaunlich, dass eine Familiengeschichte eine so große Wirkung entfalten konnte.

Wer hat diesen genialen Buchtitel erfunden?

De Waal: Das war ich, aber wir hatten in der Familie eine lange Diskussion darüber.

Sie waren inzwischen schon oft in Wien. Gibt es etwas, worauf Sie sich besonders freuen, vielleicht ein Besuch in einem Kaffeehaus?

De Waal: Immer wenn ich in Wien bin, gehe ich sehr viel alleine herum – um mit meinem Vater, meiner Großmutter, meinem Großonkel in Verbindung zu treten, die zum Teil hier gelebt haben – das sind ganz private Orte. Aber natürlich bewege ich mich in Wien von einer Schale Kaffee zur nächsten. Schon bevor ich das Buch zu schreiben begonnen habe, war mein Verlangen nach Kaffee tief in mir verankert. Mein Vater, mein Großvater, mein Urgroßvater hatten alle ihre Lieblings-Kaffeehäuser. Ich werde von einem zum anderen gehen.       


Buchtipp – Reinhard Tötschinger, Rochade

Im Talk mit Jan Vermeer – Reinhard Tötschingers Fälscherroman „Rochade“


Als eines der berühmtesten Gemälde des Kunsthistorischen Museums – Jan Vermeers „Die Malkunst“, das man nach Amsterdam verliehen hatte, bei einem Anschlag ebendort beschädigt wird, muss natürlich der Chefrestaurator Clemens Hartman mit äußerster Sorgfalt vorgehen. Allein, der junge Kanzler der Republik – der mit den gegeelten Haaren – will das Gemälde so schnell wie möglich wieder vollkommen wiederhergestellt in seinen Amtsräumen haben. Und so greift Clemens gemeinsam mit seinem pfiffigen Assistenten Hubert zu einer List. Sie wollen „Die Malkunst“ mit der gebotenen Ruhe zu Hause fertig restaurieren und dem Kanzler eine schnell hergestellte Kopie unterjubeln.

Der Unternehmensberater und Psychotherapeut Reinhard Tötschinger hat schon Theaterstücke und Essays geschrieben, „Rochade“ ist nun sein Romandebüt. Eines, das sich sehen lassen kann. In die sehr witzig geschriebene Geschichte einer Fälschung flechtet er historische Erzählungen über die vielen Besitzer dieses berühmten Vermeers ein. Das Gemälde galt nämlich als eines von Hitlers Lieblingsbildern – als Österreich annektiert wurde, schaffte man es nach Deutschland, wo es zum Prunkstück des Führermuseums werden sollte. Und Tötschingers Erzähler Clemens Hartmann hatte einen Großvater, der als Kunstkurator zeitweise in Hitlers Diensten stand.

Die Spannung ergibt sich klarerweise dann dadurch, dass wir bis zum Ende nicht wissen, ob der Schwindel mit der Fälschung durchgehen wird. Zudem wird das Kunsthistorische gerade von einem Unternehmensberater heimgesucht, der von Kunst keine Ahnung hat, sich aber überall einmischt und bald schon Kündigungen verlangt. Alles muss schneller und billiger gemacht werden. Die üblichen Verwerfungen bei einer neoliberalen populistischen Regierung. Als Leser wünscht man sich, Tötschinger hätte auch die Nebenfiguren besser charakterisiert. Wir bekommen gerade noch den interessanten Assistenten Hubert zu fassen, die Tochter Hartmanns scheint allerdings nur angedeutet. Dafür bleibt aber das Vergnügen, Jan Vermeer himself kennenzulernen, denn Hartmann spricht bald schon mit dem Meister, der ja auch im Bild selbst – allerdings eben nur von hinten – zu sehen ist, und der dann auch antwortet. Vermeer will übrigens schleunigst wieder im Museum ausgestellt werden, wo er sich an den hübschen Touristinnen erfreuen kann…


Reinhard Tötschinger: Rochade, Picus Verlag
ISBN: 978-3-7117-2109-9
288 Seiten, € 22,–