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Entwicklungsroman aus Afrika mit Hindernissen – Chukwuebuka Ibehs „Wünschen“

Ein Bub wächst auf in Port Harcourt, Nigeria, aber er ist etwas anders als die anderen Gleichaltrigen. Statt zum Fußball wie seinen jüngeren Bruder zieht es ihm zum Tanzen – er liebt es, zu Schlagern vor Publikum herumzuwirbeln. Sein Vater, ein schwer arbeitender Händler, wird misstrauisch und als er Obiefuna mit seinem Lehrling bei einer intimen Handlung – sollte das ein Kuss werden? – erwischt, schickt er ihn zur Umerziehung ausgerechnet in ein christliches Internat. Dort ist es so, wie wir das bei der Beschreibung englischer Internate schon oft gelesen haben – sogar nicht-homosexuelle Schüler entdecken die gleichgeschlechtliche Liebe. Doch Obiefuna ist äußerst resilient, entkommt aber nur durch die Verschwiegenheit eines aufgedeckten Mitschülers unbeschadet dem harten Regime der Schulleitung. Denn Nigeria ist – wie fast alle afrikanischen Staaten – ein extrem homophober Staat. Obiefuna ist aber schulisch sehr erfolgreich und wird an einer Universität zugelassen.

Chukwuebuka Ibeh, geboren 2000 in Port Harcourt, ist der internationale Shootingstar der nigerianischen Literatur. Er erzählt konsequent aus der Perspektive des Jünglings – und er tut dies ohne viel Sentimentalität und sehr genau auf das Innenleben seines Protagonisten fokussiert. Derzeit ist Ibeh Student in Missouri und man ist wirklich erstaunt über die Stilsicherheit dieses jungen Schriftstellers.

Obiefuna muss schließlich auch noch das Leiden seiner krebskranken Mutter miterleben, findet aber einen älteren Mann, mit dem er sich eine Partnerschaft vorstellen kann. Doch da kreuzt die Politik sein Leben. Die unbeliebte Regierung führt zur Beschwichtigung der schwulenfeindlichen Bevölkerung extrem strenge Gesetzte gegen Homosexualität ein – bis zu 14 Jahre Kerker drohen Männern, die dabei erwischt werden. Obiefunas Liebhaber sieht keine andere Chance als eine Scheinehe mit einer Frau einzugehen. „Wünschen“ ist ein Roman, der uns ganz nah an die Wirklichkeit Afrikas heranführt.


Chukwuebuka Ibeh: Wünschen
Aus dem Englischen von Cornelius Reiber
S. Fischer
320 Seiten
€ 25,50

Ab ins Musiktheater! – Das Wimmelbuch zu Oper, Musical und Operette

Die Vereinigten Bühnen Wien (VBW) veröffentlichen ein Wimmelbilderbuch von Lisa Manneh. Dieses Buch lädt Leser*innen jeden Alters ein, die facettenreiche Welt von Oper, Musical und Operette zu entdecken.

Ab ins Musiktheater! zeigt auf bunten Seiten eine Vielzahl von Szenen, die das Leben auf und hinter der Bühne lebendig werden lassen. Sänger*innen und Schauspieler*innen präsentieren sich inmitten von Bühnenbildern, während im Orchestergraben musiziert wird und hinter den Kulissen Vorbereitungen für die nächste Aufführung getroffen werden.

Das Wimmelbuch bietet eine anschauliche Einführung in die Abläufe von der ersten Probe bis zur Premiere. Leser*innen können humorvolle Momente, typische Theaterszenen und beliebte Charaktere aus der Welt des Musiktheaters erkunden.

Ab ins Musiktheater! Entstand in Kooperation mit dem Tyrolia Verlag und ist ab sofort in den Verkaufsstellen der Vereinigten Bühnen Wien sowie im gut sortierten Buchhandel erhältlich.


Eine Geschichte der Information und die neue Macht KI – Yuval Noah Hararis „Nexus“ wird heiß diskutiert

Im Westen wurde es meistens nur gemeldet, im Osten war es aber – zurecht – eine Sensation. 2016 unterlag der koreanische Go-Weltmeister Lee Sedol dem Google-Computerprogramm AlphaGo. Dazu muss man wissen, dass Go ein um ein Vielfaches komplexeres Spiel als Schach ist (Kasparow unterlag bekanntlich schon 1997 dem IBM Deep Blue–Programm), deshalb hat es auch so lange gedauert, bis eine KI die Fähigkeit entwickelte, einen Menschen zu schlagen. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari, der durch seinen Weltbestseller „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ quasi zum Erklärer unserer Zivilisation geworden ist, widmet in seinem neuen Buch „Nexus. Eine kurze Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz“ diesem Ereignis seine volle Aufmerksamkeit – sieht er es nämlich als Beweis, dass Maschinen kreativ sein können. Beim historischen Spiel waren sich nämlich alle kiebitzenden Experten einig, dass AlphaGo einen Fehler gemacht hatte. Dieser stellte sich dann freilich als spielentscheidend heraus. Harari sieht das als Beweis für Kreativität und er prophezeit, dass wir uns schon bald mit einem neuen Individuum auseinandersetzen müssen, nämlich der KI. Darüber lässt sich trefflich diskutieren – dass KI unsere Zukunft bestimmen wird, steht freilich schon jetzt fest. 

Davor beschreibt Harari allerdings sehr anschaulich, dass viele Entwicklungen der Menschheit ohne Informationsnetzwerke gar nicht möglich gewesen wären. Aber mehr Information ist nicht gleich mehr Wahrheit, warnt er mehrmals. Erst die Schrift hat größere Gesellschaften möglich gemacht, weil sie Ordnung herstellen konnte. Nur durch schriftliche Dokumente ließen sich Gesetze für alle durchsetzen. Aber bekanntlich schafft die Bürokratie auch Schubladen, in denen die Wirklichkeit oder gar die Wahrheit erst gezwängt werden muss. Zwar habe etwa der Buchdruck und die Verbreitung von Information moderne Wissenschaft erst möglich gemacht, doch ein erster und größter Buchbestseller war der berüchtigte „Hexenhammer“ – ein Werk zum Aufspüren und zur Folterung von Hexen. Ohne Massenmedien sind große demokratische Staaten nicht denkbar – das Volk muss ja entscheiden können, was oder wen es wählt. Aber die modernen Technologien wie Telefon und Radio ermöglichen auch erstmals die totalitäre Überwachung aller Bürger. Wichtig für die Wissenschaft und für Demokratien ist dabei immer eine funktionierende Fehlerkultur. Diktatoren machen bekanntlich keine Fehler, sie können einfach niemals zugeben, dass sie sich irren.

Was Harari schafft, ist den jetzigen Stand der Diskussion zu formulieren und zu zeigen, wo unsere Kontrollsysteme versagen. Soziale Medien haben bekanntlich die Tendenz, Hass und Verschwörungstheorien zu stärken – denn ihre Algorithmen zielen auf Aufmerksamkeit und schlechte Nachrichten sind in der Medienwelt immer die besten Nachrichten. Nachdem die US-Regierung schon vor 2000 Soziale Medien von der Verantwortung für ihre von Usern generierten Beiträge freisprach (ganz im Gegensatz zu allen anderen Medien, die jederzeit geklagt werden können, wenn sie mit ihren Berichten jemanden schaden), kann sie jetzt niemand mehr in Zaun halten. Einer der größten politischen Fehler der letzten Jahrzehnte.

Die rasante Entwicklung der KI lässt nun nichtmensch­liche, anorganische Akteure entstehen, denen wir uns in Zukunft gegenübersehen werden. Was aber passiert erst, wenn wir einer viel mächtigeren KI freien Lauf lassen? Und vielleicht noch viel dringender: KI ist das ideale Werkzeug für totalitäre Staaten. Was Stalin und Hitler versuchten, aber nicht geschafft haben – die komplette Überwachung aller Bürger – ist heute machbar. Man braucht sich nur die Entwicklung des Sozialkreditwesens in China ansehen. Wer nicht funktioniert, dem werden alle Grundlagen für ein angenehmeres Leben entzogen.

Aber ist eine KI wirklich kreativ? AlphaGO mag einen für Menschen unmöglich zu findenden neuen Zug geschafft haben, aber ist es kreativ, hunderte oder tausende Züge vorauszuberechnen? Sicher, eine KI kann schon heute Texte schreiben, die Menschen nicht mehr von „natürlich“ entstandenen Texten unterscheiden können. Und gewiss erscheint auch schon heute viel Mittelmaß auf dem Buchmarkt – aber pro Jahr eben auch eine Handvoll wirklich beglückender Bücher, von denen ich mir nicht vorstellen kann, dass sie eine KI jemals zustande bringen könnte.

Yuval Noah Harari: „Nexus“
Eine kurze Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer und Andreas Wirthensohn
Penguin Verlag
656 Seiten
28,99 €


In Steinhof stellt man sich Fragen über das Leben – Thomas Sautners „Pavillon 44“

Ein Mann, der sich für Jesus hält und Gottvater sucht, eine Greisin, die klüger ist als der Primar, eine junge Wut-Patientin und Dimsch, der mit seinem verstorbenen Freund redet – im Pavillon 44 kommen nur die interessantesten Fälle des psychiatrischen Krankenhauses, denn Primarius Lobell hat schon lange „Narrenfreiheit“, weil er ein persönlicher Freund des Wiener Bürgermeisters ist. Dabei ist er selbst seit Jahren von Psychopharmaka abhängig. Als sich Jesus und Dimsch für einen Tag aus dem Krankenhaus verdrücken, droht das System zusammenzubrechen – zumal Lobell gerade an diesem Tag vom Bürgermeister in einem Beisl mit Wein abgefüllt wird.

In Thomas Sautners opulenten Roman „Pavillon 44“ wird Steinhof und eigentlich ganz Wien zu einem psychologischen Grenzfall. Der in Wien und Niederösterreich lebende Autor psychologisiert sogar den eigenen Stand, indem er eine Schriftstellerin dort einquartiert, die für ihre Arbeit recherchiert und die natürlich selbst bald professionelle Hilfe zu brauchen scheint.

Das ist alles sehr unterhaltsam, wenngleich nicht immer originell. Sautner scheint bisweilen selbstverliebt in seinen Erzählstil. Aber er geht auch sehr sorgfältig mit seinem Personal um. Sogar der Busfahrer, der die Ausreißer in die City bringt, wird von Sautner liebevoll porträtiert. Und bei der Diskussion was denn eigentlich normal und was psychisch krank ist kann sich der Autor voll entfalten. In langen Spaziergängen um die eindrucksvolle Kirche am Steinhof von Otto Wagner diskutieren der Primar und die Schriftstellerin über Gott und die Welt. Auch ein karrieresüchtiger junger Nebenbuhler von Lobell, der alles mit Psychopharmaka für heilbar hält, darf nicht fehlen. Ein quasi philosophischer Roman für einige vergnügliche Lesestunden.

Thomas Sautner liest am 8. Oktober, 19 Uhr, in der Buchhandlung Seeseiten in der Seestadt aus seinem Roman.


Thomas Sautner: Pavillon 44
Picus Verlag
458 Seiten
€ 27,-

Ein Familien- und Entwicklungsroman des Nobelpreisträgers aus Sansibar – Abdulrazak Gurnahs „Das versteinerte Herz“

Salim wächst in armen, aber stabilen Familienverhältnissen in Sansibar auf – er besucht die Schule und die Koranschule. Da verlässt plötzlich sein Vater das Haus ohne Erklärung, während sein Onkel Amir im Gefängnis ist und Salims schöne Mutter öfters nachmittags verschwindet. Niemand klärt Salim auf, was wirklich vor sich geht. Und das macht auch die Spannung dieses Romans aus. Erst am Ende, als die Mutter bereits gestorben ist, klärt Salims Vater – Baba –  auf.

Salim ist auch der Erzähler der Geschichte. Wir folgen ihm zu seinem Studium und seinem Leben in London, wo er auch puren Rassismus erleben muss. Ausgerechnet eine aus Indien stammende Frau nennt ihn vor der Salim liebenden Tochter einen „muslimischen Nigger“. Doch Salim findet in London auch viele Freunde – die meisten sind wie er Einwanderer aus allen Teilen der Welt.

Abdulrazak Gurnah, 1948 in Sansibar, das heute zu Tansania gehört, geboren, erhielt 2021 den Nobelpreis für Literatur. Zu diesem Zeitpunkt war keiner seiner fünf in die deutsche Sprache übersetzten Titel mehr im Buchhandel verfügbar. Gurnah ist ein großartiger Erzähler, der in einer schnörkellosen Sprache die Hoffnungen und Ängste seiner Protagonisten vermitteln kann. Er lebt wie Salim in England und war lange Zeit Professor an der Universität in Kent.

In „Das versteinerte Herz“ (2017 im Original erschienen) erfährt man viel über das Leben in Sansibar und das eines Migranten in London. In seiner Heimat herrschen korrupte Politiker, das Volk wird durch staatlichen Terror in Abhängigkeit gehalten. In London erlebt Salim die Zeit des Balkankriegs und 9/11 – Misstrauen überall. Aber der Roman ist trotz des drückenden Geheimnisses kein Buch der Trauer. Salim muss seinen Weg finden, er ist einsam, findet aber immer wieder auch Menschen, die ihn aufheitern. Am Ende korrespondiert die Familiengeschichte mit Shakespeares „Maß um Maß“, in dem eine junge Frau ihren geliebten Bruder retten will und mit dem Mann schlafen soll, der ihn zum Tode verurteilt hat. Es geht um Schande und Liebe, Opfer und Enttäuschung – große Literatur!


Abdulrazak Gurnah: Das versteinerte Herz
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Penguin Verlag
364 Seiten
€ 27,50

Musik & gute Stimmung beim 4. D-Day für Doderer im Café Landtmann

Bild: ©Sandra Oblak

Es ist fast schon eine kleine Gemeinschaft, die alljährlich beim D-Day für Doderer zusammenkommt, um einen der originellsten Wiener Schriftsteller – den 1966 verstorbenen Heimito von Doderer – zu feiern. Besonders auffällig waren die vielen Schriftstellerinnen und Schriftsteller im Publikum. Nächstes Jahr steht sogar ein 100-Jahr-Jubiläum an, denn „Die Studlhofstiege“ spielt ja exakt am 21. September 1925. An diesem Tag verliert bekanntlich Mary K ein Bein bei einem Unfall mit der Straßenbahn.

Heuer versuchte wienlive-Autor Otto Brusatti, die literarischen Konzeptionen in Doderers Kurzgeschichten zu erhellen. Viele Erzählungen funktionieren wie Sonaten in der Musik. Besonders eindrucksvoll gelang dies bei Doderers dreiteiligem Text „Sonatine“. Brusatti las abwechselnd mit der Schauspielerin und Regisseurin Chris Pichler die kurzen Texte und spielte dazwischen jeweils einen Satz aus Mozarts „Sonate facile“ auf der mitgebrachten CD (interpretiert von Glenn Gould). Dass Doderer Musik auch als Thema seiner Werke einbaute, wurde mit einer Szene aus den „Dämonen“ – Quapps desaströses Vorspielen als Geigerin bei einem Dirigenten – unterstrichen. Nach der Podiumsdiskussion mit wienlive-Herausgeber Helmut Schneider blieben die Gäste noch lange für Gespräche im Café.


D-Day für Doderer: Am 21. September diskutieren Otto Brusatti und Helmut Schneider über Musik im Werk des Großschriftstellers

Bild: ©picturedesk

Am 21. September diskutieren Otto Brusatti und Helmut Schneider über Musik im Werk des Großschriftstellers Heimito von Doderer. Chris Pichler liest ausgewählte Stellen.

Heimito von Doderer, 1966 verstorben, war gewiss einer der eigenständigsten Autoren, die Wien je hervorgebracht hat. Wienlive und das echo medienhaus erinnern seit 2021 alljährlich am 21. September – das ist der Tag, an dem sein bekanntestes Werk, „Die Strudlhofstiege“, spielt und mit einem brutalen Unfall mit einer Straßenbahn beginnt – an diesen Schriftsteller, der in der Nachkriegszeit als der wichtigste Dichter Österreichs galt und beinahe den Literaturnobelpreis erhalten hätte. Heuer, beim 4. D-Day für Doderer, geht es mit dem Autor, Regisseur, Ausstellungsmacher und Musikexperten Otto Brusatti um „Musik, Lärm und Stille“ im Werk von Heimito von Doderer. Die Schauspielerin Chris Pichler wird ausgewählte Stellen lesen, wienlive-Chefredakteur Helmut Schneider wird moderieren.

Doderer war ein großer Bewunderer Beethovens, auf seinem Schreibtisch stand stets eine Partitur der 7. Symphonie. Sein letztes, unvollendet gebliebenes Romanprojekt nannte er im Tagebuch nach seiner Lieblingssymphonie „Roman No 7“ – davon wurde nur der Teil „Die Wasserfälle von Slunj“ veröffentlicht, „Der Grenzwald“ erschien posthum als Fragment. Nach dem Erscheinen des Monumentalwerks „Die Dämonen“ war Doderer der bekannteste Schriftsteller Österreichs, sogar der SPIEGEL widmete ihm ein Cover.

Brusatti: „Doderer war auch ein heimlicher Musikstrukturalist – wie viele andere und vor allem in der öster-reichischen Literatur, wie Ingeborg Bachmann oder Thomas Bernhard. Er baute musikalische Formen ein, in seine Texte. Man merkt es vorerst kaum, man soll es zumeist auch gar nicht merken.“ Dazu gibt es passende Musik aus der Konserve. Die Buchhandlung analog wird vor Ort einen Büchertisch aufstellen.


INFO
21. 9. 24
19.00 Uhr
Café Landtmann
Freier Eintritt, keine Reservierung möglich

Aufwachsen in Wien und München – Ljuba Arnautovićs bewegender Roman „Erste Töchter“

Der Vater gehörte zu jenen Unglücklichen, die nach der Zerschlagung der Demokratie durch die Austrofaschisten unter Dollfuß aus Wien nach Moskau geflohen waren, um dort in die Fänge des Diktators Stalin zu geraten. Karl wandert in den Gulag und kommt erst 1953 nach Wien zurück. Mit einer russischen Frau und de facto heimatlos, denn auch Deutsch spricht er nur noch schlecht. Dafür findet er immer wieder junge Frauen, die ihn heiraten. Die beiden Töchter parkt er zwischendurch in Waisenheimen – das scheint nicht nur heute ziemlich grausam. Und diesen beiden Töchtern – Lara und Lund – widmet Ljuba Arnautović, 1954 in Kursk geboren und seit 1987 in Wien lebend, im dritten Teil ihrer autobiografisch geprägten Trilogie ihr Hauptaugenmerk. Die Jüngere wächst in Wien auf, die Ältere gutbürgerlich in München. Die Jüngere wäre fast am Praterstrich verkommen, die Ältere wird von der Alternativszene geprägt. Sie bleiben aber mittels Briefe miteinander verbunden und finden als Erwachsene wieder zueinander. Arnautović erzählt eher nüchtern, wenngleich nicht chronologisch – die Ereignisse sprechen aber auch für sich. Nur ein schmaler Roman, aber trotzdem können wir die schwierigen Verhältnisse, in denen die Figuren – etwa auch Karls erste russische Frau in Wien – gut nachempfinden. Ein berührendes Buch. 


Ljuba Arnautović: Erste Töchter
Zsolnay
160 Seiten
€ 24,50

D-Day für Doderer am 21. September – Heimito von Doderers „Divertimenti“

Heimito von Doderer entstammte einer wohlhabenden Familie, sein Großvater und Vater waren Architekten und Techniker, sie wurden etwa mit dem Bau von Eisenbahnen und Wasserregulierungen reich, ein Gutteil ihres Vermögens ging allerdings im 1. Weltkrieg verloren. Sohn Heimito geriet als Leutnant im Weltkrieg bald in russische Gefangenschaft und konnte erst nach 4 Jahren über St. Petersburg in den Wirren der russischen Revolution nach Wien fliehen. In Sibirien hatte er den Entschluss gefasst, Schriftsteller zu werden und so nahm Doderer in Wien nicht nur ein Studium (Geschichte) auf, sondern versuchte auch – meist vergebens – in Zeitschriften zu veröffentlichen. Finanziell war er nach wie vor von seinen Eltern abhängig. Und das blieb er auch bis zum Erscheinen der „Strudlhofstiege“ 1951.

Doderer wollte anders schreiben als die anderen und folgte – bezugnehmend auf musikalische Formen – einem strengen Konzept. Darüber wird heuer am 21. September der Musikwissenschaftler und Autor Otto Brusatti im Café Landtmann sprechen. Die Schauspielerin Chris Pichler wird entsprechende Szenen aus Doderers Werk vorlesen.

Zu den ersten Texten, die Doderer nach seiner Heimkehr schrieb, gehören seine „Divertimenti“. Entgegen Doderers Absicht scheinen sie ungeordnet. Freilich behauptete der Autor stets mehr an der Form und weniger am Inhalt, an der Thematik, interessiert zu sein. In den 7 Divertimenti – das letzte erschien allerdings sehr viel später nach dem Krieg unter dem Titel „Die Posaunen von Jericho“ – geht es etwa um ein blindes Mädchen, das zur Pianistin und dann sehend wird, um den Traum eines Unfallopfers vom Kampf  Überlebender nach einem Weltuntergang, um einen jungen Mann, dessen Probleme sich ohne sein Zutun lösen, um einen Professor, dessen Frau bei der Geburt der Tochter stirbt oder um eine Sitzkassierin in einem Café, die verrückt wird und sich verantwortlich für eine Hungerrevolte fühlt. Doderer hat zweimal jeweils einen Text öffentlich vorgetragen und dabei kein Manuskript gebraucht. Die Zuhörer sollen begeistert gewesen sein. Und er dachte sogar an die Ablöse des Buches durch die Schallplatte und das Radio. Am 21. September werden wir über Musik und Literatur bei Doderer viel zu diskutieren haben.

Samstag, 21. September – 4. D-Day für Doderer, 19 Uhr, Café Landtmann, Eintritt frei!

Rauf und runter, schwarz und weiß – Colson Whiteheads Debütroman

Colson Whiteheads Debütroman „Die Intuitionistin“ über eine Fahrstuhlinspektorin in neuer Übersetzung.

Als 1999 der Debütroman von Colson Whitehead erschien, ahnte natürlich noch niemand, dass aus dem New Yorker ein vielbeachteter Bestsellerautor werden würde. Sein Vater – verriet er mir bei einem Interview in Wien – schlug die Hände zusammen, weil sein bestens ausgebildeter  (Harvard) Sohn, Schriftsteller werden wollte. Colson Whitehead ist zwar schwarz, aber entstammt der oberen Mittelschicht – sein Vater verdiente gut an der Börse. Glücklicherweise blieb Whitehead bei seiner Berufswahl und seit „The Underground Railroad“ gehört der 1969 Geborene zu den US-Bestsellerautoren. Dass Hanser jetzt diesen Erstling, der ursprünglich auf Deutsch bei Hoffmann und Campe erschienen ist, jetzt neu übersetzen ließ, erweist sich als ein Glücksfall. Denn 2024 liest man diesen vielschichtigen Roman anders als vor der Jahrtausendwende.

„The Intuitionist“ weist noch Elemente des postmodernen Romans auf, in seinen Themen ist er allerdings brandaktuell. Wir sind in einer sehr großen Stadt in den USA, die nicht genannt wird und in einer Zeit, als es noch keine Handys gab. Auch fotografiert wird noch analog, wahrscheinlich sind wir gar erst in den 50er-Jahren. Es geht um den Kampf zwischen zwei Richtungen innerhalb der Fahrstuhlinspektoren, den Empirikern und den Intuitionalisten. Erstere prüfen brav Motor, Aufhängung und Sicherheitseinrichtungen, zweitere führen eine Art Zwiegespräch mit dem Fahrstuhl, lauschen auf die Geräusche beim Anfahren und Bremsen und haben damit eine um 10 Prozent bessere Quote beim Aufspüren von Mängeln. Trotzdem gelten sie als Spinner und sind geächtet. Wer denkt da heute nicht an die Gläubigen der reinen Wissenschaft und die Anhänger alternativer Medizin. Lila Mae gehört den Intiutionalisten an und sie ist nicht nur die allererste weibliche Inspektorin, sondern auch noch schwarz. In der rassistischen Matschowelt hat sie daher einen doppelt schweren Stand – da nützt es nichts, dass sie bei der Arbeit keine Fehler macht und auch sonst nur durch Leistung auffällt.

Da stürzt just ein Lift in einem Regierungsgebäude, den sie kurz vorher inspiziert hatte, in die Tiefe. Etwas, das es nicht geben dürfte. Noch dazu ist gerade Wahlkampf für den Vorsitz der Inspektorengilde und der Fauxpas einer Intuitionistin kommt den überheblichen Empirikern gerade Recht. Die Intuitionisten sind indes schon lange auf der Suche nach den letzten Notizen ihres verstorbenen, legendenumwogten Theoretikers, der vor seinem Tod einen Fahrstuhl ganz ohne Mechanik entwickelt haben soll. Lila Mae sucht nach diesen Aufzeichnungen, zumal sie in den Schriften erwähnt sein soll. Spätestens hier ist der Roman mit seinen vielen Wendungen – Hausdurchsuchungen, Gefangennahmen, sogar Folter – zum Krimi geworden. Und man merkt bei jeder Zeile, dass Whitehead viel Spaß daran hatte, seine Leser rätseln zu lassen. Am Ende gibt es noch eine gute Pointe.


Colson Whitehead: Die Intuitionistin
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
Hanser
272 Seiten
€ 26,80