Die 11-jährige Erzählerin J. versteckt sich unter einem Lastwagen, in dem gerade der gesamten Hausrat der Familie aufgeladen wird, denn ein Umzug steht an. In ein viel größeres Haus, das gebraucht wird, weil die Mutter unzählige Möbelstücke aus dem Dorotheum im nahen Villach aufgekauft hat – der neue Reichtum der Familie, der vom schwunghaften Verkauf von Lastwägen in die eben frei gewordenen Länder aus dem Osten herrührt, verlangt nach einer repräsentativen Bleibe.
J. will gar nicht weg, weil sie sich von ihrer Freundin Luca, ein aus Bosnien stammendes gleichaltriges Mädchen, trennen muss, mit der sie bereits erste Küsse ausgetauscht hat. Wir sind in den 90ern in Kärnten, der Vater schimpft ununterbrochen, weil seine beiden Söhne lange und die Tochter kurze Haare haben. Eine neue Zeit ist im Anmarsch, der neue Bürgermeister – ein guter Freund des Vaters – redet von Hausverstand und umgibt sich mit allerlei Kellernazis, die wieder aus den Löchern kriechen.
Die in Kärnten aufgewachsene Autorin Julia Jost, Jahrgang 1982, hat den Aufstieg Jörg Haiders miterlebt. Sie studierte in Wien und Berlin und hat bisher vor allem an diversen Theatern gearbeitet. Im April wird am Volkstheater ihr Shakespeare-Stück ROM uraufgeführt.
Für ihren ersten Roman hat sie augenscheinlich ihre eigene Jugend verarbeitet. Erstaunlich ist schon, wie viel sie in den 230 Seiten unterbringen kann, denn schließlich erzählt sie sozusagen ganz naiv mit den Augen eines Kindes. Ihre Sprache ist freilich keinesfalls einfach. Zum einen verwendet sie Dialekt und zum anderen findet sie oft ungewöhnliche Sprachbilder.
Am Beginn steht ein tödlicher Unfall. Ein Kind wird von den Spielkameraden genötigt, in einem Schacht das verlorene Messer – ein sorgsam gehüteter alter SS-Dolch mit der Aufschrift „Meine Ehre heißt Treue“ – zu holen und ertrinkt dabei. Ein Trauma für die Kinder und die gesamte Dorfgemeinschaft. Doch Jost wollte keinen sogenannten Anti-Heimatroman schreiben, ihr schriftstellerisches Interesse gilt immer dem erzählenden Kind. Wie war das damals, in Kärnten auf dem Land aufzuwachsen? Ein Roman, der trotzdem so nebenbei das politische Dilemma in unserer Republik darstellt.
Julia Jost wird bei Rund um die Burg – heuer am 10. und 11. Mai – lesen. Infos ab Mitte März unter www.rundumdieburg.at
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2024/02/KarawankenBB.png11001800Helmut Schneiderhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngHelmut Schneider2024-02-29 12:45:192024-02-29 12:45:22Aufwachsen in Kärnten – Julia Josts Debütroman „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht
Die Zahlen sind so ernüchternd wie in der politischen Debatte der USA wirkungslos: Die USA haben mehr Menschen im eigenen Land durch Schusswaffen verloren als sie Tote in allen ihren Kriegen – vom Unabhängigkeitskrieg angefangen – zu beklagen haben. Insgesamt kommen aktuell jedes Jahr fast 40.000 Menschen in den USA durch Schussverletzungen ums Leben, etwa genauso viele wie bei Autounfällen. Der bekannte Schriftsteller Paul Auster hat jetzt einen Essay zu diesem Thema veröffentlicht, wohl auch um sich selbst zu erklären, wie ein derartiger Wahnsinn möglich ist. Dabei beginnt Auster sehr persönlich. Er erzählt, wie das Abfeuern einer Waffe für ihn als Teenager nichts Besonderes war und er sogar – ohne Übung – ein Meister im Tontaubenschießen wurde. Freilich hatte er dann andere Interessen, Waffen gehörten für ihn nicht zum Alltag. Seine Familie hasste zudem Waffen. Erst sehr spät erfährt er den Grund dafür, nämlich dass in einer sehr verdrängten Familiengeschichte ein Revolver eine wichtige Rolle spielte. Seine Großmutter hat nämlich seinen Großvater im Affekt erschossen – damals, gleich nach dem 1. Weltkrieg, fand sie einen Richter, der sie aufgrund temporärer Unzurechnungsfähigkeit freisprach.
Auster gibt auch zu, dass er vielleicht anders denken würde, wenn er im Süden der USA aufgewachsen wäre, wo Waffenbesitz einfach zum Alltag gehört. Er erklärt, wie die USA aus einer Miliznation entstanden ist, wo die Bürger ihre Waffen stets griffbereit haben mussten. Bis zur Bürgerrechtsbewegung, als viele weiße Amerikaner sich vor „Black Power“ fürchteten, war die inzwischen berüchtigte Waffenlobbyvereinigung NRA ein kleiner Verein für Sportschützen. Die aller Vernunft spottende Bewaffnung der US-Staatsbürger – es gibt längst mehr Schusswaffen als Einwohner – ist also gar noch nicht so alt. Frustrierend Austers Einschätzung der Zukunft: Selbst wenn es einmal eine Regierung mit großer Mehrheit geben würde, die europäische Gesetze und Prämien für jene, die ihre Waffen abgeben, durchsetzen könnte – eine solche ist aber sowieso nicht in Sicht – würde alles ähnlich sinnlos sein wie das Verbot von Alkohol während der Prohibition, zumal man heute mittels 3D-Drucker einfach selbst Waffen herstellen kann.
Interessant ist Austers Schilderung des einzigen Falls, in dem ein Attentäter durch einen beherzten Mann mit einer Waffe gestoppt wurde – denn die NRA und ihre Anhänger behaupten ja immer, dass man Waffen brauche, um Amokläufern das Handwerk zu legen. Der damalige „Held“ war schwer geschockt, weil er auf Menschen schießen musste, der Attentäter flüchtete zunächst auch noch im Auto, ehe er sich schwer verwundet das Leben nahm. Und erhellend ist auch Austers Vergleich von Schusswaffen mit dem zweiten Heiligtum der USA, dem Auto. Denn beim Individualverkehr ist es durch strenge Gesetze und Auflagen nach und nach gelungen, die Todeszahlen drastisch zu senken. Sicherheitsgurte wurden etwa in den USA lange vor Europa Pflicht.
Ein wichtiges Buch – auch wenn man sich als Europäer natürlich nicht wirklich angesprochen fühlt und Auster keine Lösung dieses Problems für die USA zeigen kann.
Gespenstig sind die im Buch abgebildeten Fotos von Austers Schwiegersohn, des US-Fotografen Spencer Ostrander, der Schauplätze bekannter Waffengewalt-Massaker in den USA in Schwarz-Weiß fotografiert hat – menschenleere Supermärkte, Schulen, religiöse Einrichtungen, die nach den Tragödien geschlossen wurden.
Paul Auster: Bloodbath Nation Mit Fotos von Spencer Ostrander Aus dem Englischen von Werner Schmitz Rowohlt 180 Seiten € 27,50
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2024/02/BloodbathBB.png11001800Helmut Schneiderhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngHelmut Schneider2024-02-23 10:11:042024-02-23 10:11:08Der Waffenbesitz gehört zur DNA der USA – Paul Austers Essay „Bloodbath Nation“
Mit seinem 2021 erschienenen Roman „Salonfähig“ über die Slim-fit-Polititikerkaste erregte der 1994 geborene Wiener Autor und Slam-Poet Elias Hirschl erstmals größere Aufmerksamkeit. Sein neuer Roman „Content“ spielt in einer nahen Zukunft in einer ungenannten Stadt, die auf stillgelegten Kohlefeldern gebaut wurde. Die Protagonistin will einen Roman schreiben, braucht aber den Job in einer Content-Fabrik, wo Beiträge für soziale Plattformen auf dem laufenden Band hergestellt werden. Die 31-jährige Newcomerin muss Listen erfinden nach dem Motto: Die schlechtesten Promi-Trennungen aller Zeiten oder die Top 10 besten Tipps für ein glücklicheres Leben, immer mit dem Hinweis versehen (Die Nummer 7 wird dich zum Weinen/Lachen/Schmunzeln etcetera bringen). Andere schreddern daneben Handys mit Stabmixer oder Hydraulikpressen, während sie zwischendurch weiter davon träumen, in amerikanischen Late-Night-Shows aufzutreten.
Das mit dem Roman wird immer schwieriger, denn bald kann sich die Erzählerin auf nichts mehr konzentrieren, was mehr als 30 Sekunden Aufmerksamkeit erfordert. Zwischendurch passieren Unfälle, die an Monty-Pyton-Sketche erinnern. Eine Mitarbeiterin greift absichtlich in die Hydraulikpresse, weil sie die Taubheit rundherum nicht mehr erträgt, und ein Autor stürzt in ein plötzlich sich bildendes Riesenloch. Ein Lover – Sex ist allerdings so spannend geworden wie ein Klogang – gründet derweilen ein Start-up nach dem anderen. Nach einer privaten Feuerwehr, die kalte Getränke an Brandopfer und Schaulustige verkauft, gründet er ein Unternehmen, das Wasser abpumpt – da versinken allerdings bereits ganze Häuser in der vom Bergwerk ausgelösten Überschwemmung. Der Erzählerin entgleitet nach und nach ihr Leben. Selbst ihr Social-Media-ich wird gekapert – sie muss zusehen, wie sie heiratet und ihre Eltern mit ihr glücklich werden. Irgendwann hat die Heldin dann eine KI so konfiguriert, dass ihr das Listenschreiben abgenommen wird und sie gar nicht mehr ins Büro kommen braucht.
Elias Hirschl schafft in „Content“ eine Welt, die von der unseren vielleicht nur noch um einen Dreh entfernt ist. Das ist satirisch witzig, aber auch gespenstisch. Denn die Millionen Videos auf den Plattformen müssen ja tatsächlich irgendwo hergestellt werden. Und wer mit der U-Bahn fährt, sieht schon heute kaum mehr Menschen, die nicht auf ihr Smartphone starren. Die Wirklichkeit ringsum ist längst out.
Über KI machten sich Menschen schon Gedanken, als es noch nicht einmal Taschenrechner gab und findige Programme besiegten Profispieler in Schach und Go lange vor Rechnern mit heutigen Kapazitäten. Davon erzählt der Roman „Maniac“ des in Rotterdam geborenen und in Chile lebenden Autors Benjamin Labatut.
Er beginnt mit dem Wiener Physiker Paul Ehrenfest, der Einstein verteidigte und zu dessen Freund wurde – bis er zunehmend verzweifelnd an den politischen Umständen sich und seinen am Down-Syndrom leidenden Sohn 1933 in Amsterdam erschoss. An Ehrenfest zeigt Labatut wie die Physik durch die Quantentheorie und die Mathematik durch Kurt Gödels Unvollständigkeitssatz erschüttert wurden.
Den größten Teil des Buches macht aber die Schilderung des ungarischen Mathematikgenies John von Neumann aus. Neumann arbeitete an der Quantenmechanik, erfand die Spieltheorie, arbeitete an entscheidender Stelle am berühmten Manhattan-Projekt zur Schaffung der ersten Atombombe mit – er berechnete etwa den besten Zeitpunkt der Detonation, um die maximale Zerstörungskraft zu entwickeln – und schuf die ersten modernen Computer. Der Buchtitel MANIAC steht für Mathematical Analyzer Numerical Integrator And Computer, die Architektur eines funktionierende Rechners, die noch heute gültig ist. Als er unheilbar krank im Spital lag, bewachte das US-Militär sein Zimmer, damit niemand noch im letzten Moment eventuelle neue Ideen von Neumann mitschreiben konnte. Labatut beschreibt Neumann aber nie direkt, sondern lässt ihn durch Menschen aus seiner Umgebung – Mitarbeiter, seine Frauen, seine Mutter – sehen.
Im letzten Kapitel geht es um die berühmten Duelle Mensch gegen Maschine anhand von Schach und Go. Die Schachgroßmeister gaben bald w/o, aber das weitaus komplexere chinesische Go-Spiel schien lange Zeit für Rechner zu komplex. Erst 2016 schlug das Programm AlphaGo die koreanische Go-Legende Lee Sedol, der daraufhin zu spielen aufhörte. Der Kampf wird spannend wie ein Krimi erzählt – ein Buch für Menschen, die über die Zukunft unserer Welt im Schatten von Maschinen nachdenken wollen.
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2024/02/ManiacBB.png11001800Helmut Schneiderhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngHelmut Schneider2024-02-08 07:00:002024-02-09 11:18:17Pioniere der KI – Benjamin Labatuts Wissenschaftsthriller „MANIAC“
Zunächst einmal: Das waren die kürzesten und angenehmsten 1000 Seiten (genau 1050) der letzten Jahre. Karl Ove Knausgård, der mit extremer und auch extrem ausufernder Autofiktion bekannt wurde, kann zweifelsohne interessant erzählen. Wenn er etwas spezieller schildert, dann hat das bei ihm einen Grund. Denn im zweiten Band seiner Morgenstern-Trilogie (der Abschlussband soll noch heuer erscheinen und liegt im Original bereits vor) befinden wir uns – bis auf einigen Einsprengseln – im Kopf zweier Geschwister.
Etwa 500 Seiten erzählt Syvert, der 1986 nach seinem Militärdienst in das Haus seiner Familie in Südnorwegen bei Bergen zurückkehrt, wo nur noch seine Mutter und sein kleiner Bruder Joar leben, denn der Vater ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Syvert weiß nicht so recht, was er mit seinem Leben anfangen soll – für die Uni bräuchte er noch ein paar Kurse und es ist sowieso Sommer. Mutter arbeitet viel und sein Bruder ist zwar unheimlich schlau, aber sozial etwas eigen. Er hört Heavy Metal, trifft frühere Freunde und verliebt sich schließlich in ein etwas kompliziertes Mädchen. Weil die Familie Geld braucht, tritt er einen Aushilfsjob bei einem Bestatter an.
Aber da ist das Thema des Romans sowieso bereits eingeleitet. Denn den Tod seines Vaters kann Syvert einfach nicht verstehen. Und dann findet er noch Briefe an den Vater in Russisch. Er hatte gar nicht gewusst, dass sein Vater diese Sprache beherrschte. Er lässt sie von einem schrulligen Privatgelehrten übersetzen und erfährt, dass sein Vater eine Geliebte in der Sowjetunion hatte. Ja mehr noch – vor seinem Tod, gesteht ihm die Mutter, wollte sein Vater die Familie verlassen. Reichlich Stoff zum Nachdenken für einen noch nicht 20jährigen, auch wenn Syvert nicht gerade als Intellektueller beschrieben wird. Zumal Vaters Geliebte im letzten Brief andeutet, schwanger zu sein. 1986 ist auch das Jahr, in dem Tschernobyl explodiert – die Nachrichten werden immer beunruhigender. Doch Knausgård schlachtet das überraschend wenig aus. Viel interessanter scheinen ihm die Ideen der Evolution oder was lebendige und unbelebte Materie voneinander unterscheidet. Bekanntlich ist ja alles, was jemals existierte und jemals existieren wird, bereits mit dem Urknall da und geht nicht verloren.
Im zweiten Part des Buches ist dann Alevtina die Hauptperson – wir sind etwa 40 Jahre später in der Jetztzeit, denn Alvetina ist das Kind der Briefschreiberin und somit Syverts Halbschwester in Russland. Sie ist ausgebildete Biologin, hat aber in den letzten Jahren ihren Job gewechselt und arbeitet nun als Ärztin. Erst als ihr Vater stirbt, hat sie den Mut, einen vor Jahren geschriebenen Brief Syverts zu beantworten und ein Treffen in Moskau vorzuschlagen. Dieses Zusammentreffen, das zunächst völlig schief zu gehen scheint, ist sozusagen der Abschlusshöhepunkt des Romans. Alvetina hat natürlich ihren leiblichen Vater niemals kennengelernt. Als junge Biologin wollte sie beweisen, dass die Bäume gemeinsam mit den mit ihnen in Symbiose lebenden Pilzen eine Art Bewusstsein haben. Eine Dichterfreundin interessiert sich währenddessen für einen russischen Utopisten, der nichts Geringeres als die Wiedererweckung all jener Toten in Angriff nehmen wollte, die jemals auf der Erde gelebt haben. Im Zuge ihrer Recherchen lässt sie sich Tanks zeigen, in denen heute schon Menschen für die Ewigkeit eingefroren werden. Die Transhumanisten im Silicon Valley sind da sicher schon weiter…
Alle Nebenstränge auch nur anzudeuten, ist kaum möglich. Wir erleben Schlägereien, Gewaltausbrüche, Überfälle und diverse Alkohol- und Drogenräusche. Am Ende erscheint auch wieder der helle Stern aus dem ersten Band auf dem Horizont und plötzlich sterben mehrere Tage lang keine Menschen.
Knausgårds „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ ist ein faszinierender Roman über den Tod und die Versuche ihn zu überwinden, dargebracht in einer Familiengeschichte – bekanntlich das langlebigste und erfolgreichste Genre überhaupt.
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2024/02/WoelfeBB.png11001800Helmut Schneiderhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngHelmut Schneider2024-02-05 11:36:562024-02-05 11:45:09„Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ ist der zweite Band von Knausgårds Morgenstern-Trilogie
Am Montag, 29. Jänner, wird im Augustinertrakt der Nationalbibliothek ein ganz besonderes Buch präsentiert. Zum 100. Todestag von Franz Kafka bat Herausgeber Otto Brusatti Autorinnen und Autoren um einen Text in Gedanken an den Prager Schriftsteller, der die Weltliteratur beeinflusst hat wie kaum ein anderer. Theodora Bauer, Arno Geiger, Max Gruber, Monika Helfer, Bodo Hell, Paulus Hochgatterer, Franz Hohler, Radek Knapp, Natasha Korsakova, Thomas Macho, Kurt Palm, Rafik Schami, Stefan Slupetzky, Renate Welsh und Anton Zeilinger schrieben Neues für diesen Band, der vom Künstler Edgar Tezak mit Zeichnungen versehen wurde. Drei davon – Stefan Slupetzky, Kurt Palm und Renate Welsh – werden bei der Präsentation ihre Geschichten vorlesen, die Cellospielerin Anna Schweizer wird Stücke von Bach und Webern zum Besten geben. Der Eintritt ist frei, anschließend wird zu einem Umtrunk geladen!
„Für K. Neue Geschichten und Bilder für Franz Kafka“ 29. Jänner 2024 Österreichische Nationalbibliothek Einlass 18.30 Uhr, Beginn 19 Uhr Josefsplatz 1, 1010 Wien Oratorium im Augustinertrakt (Halbstock)
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2024/01/FuerKBB.png4501100wienlive Redaktionhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngwienlive Redaktion2024-01-24 08:42:282024-01-24 08:42:31Neue Geschichten für Kafka – Buchpräsentation „Für K.“ in der Nationalbibliothek
Die 1996 in Brighton geborene Saba Sams gewann unter anderem den BBC Short Story Award und gilt jetzt bereits als eine der talentiertesten jungen Autorinnen Englands. Nach der Lektüre ihrer 10 Geschichten in „Send Nudes“ kann man nur sagen zurecht. Ihr gelingen nämlich höchst eindrucksvolle Porträts von Frauen und Mädchen, die alle – wie man heute sagen würde – gewisse Defizite aufweisen. Oder aber sie spiegeln exakt unsere heutige kaputte Gesellschaft wider. Da ist etwa die Studentin, die sich in eine Kommilitonin verliebt, die nichts als Partys, Sex und den großen Rausch im Kopf hat. Oder eine Zwölfjährige, die von der viel älteren Stieftochter dafür gehasst wird, weil ihr Vater eben eine neue Beziehung mit deren Muttereingegangen ist. Zwei Mädchen leben da den ganzen Sommer auf Festivals, weil ihre Mütter dort als Trapezkünstlerinnen auftreten. Und eine junge Frau freundet sich so mit dem großen Hund ihres Liebhabers an, dass dieser schließlich nur noch auf sie hört. Die Titelgeschichte zeigt uns eine Frau, die ihre gnadenlose Einsamkeit in einem Internetforum loswerden will.
Mehr noch als die Geschichten selbst fasziniert der Stil der jungen Britin. Da scheint kein Wort zu viel zu stehen, die Dialoge sind prägnant und künstliche Melancholie oder Larmoyanz ist nirgendwo auszumachen.
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2024/01/NudesBB.png11001800Helmut Schneiderhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngHelmut Schneider2024-01-24 08:19:352024-01-24 08:19:37Frauen und Mädchen in England heute – Saba Sams‘ Kurzgeschichtenband „Send Nudes“
Mit 76 erfährt Martin, dass er nur noch wenige Wochen zu leben hat – Bauchspeicheldrüsenkrebs. Dabei hat der Professor für Recht gerade die vielleicht glücklichste Phase seines Lebens mit einer um vieles jüngeren Frau und einen Sohn im Kindergarten. Was also tun in den letzten Tagen, die im noch bleiben?
Bernhard Schlink stellt in seinem neuen Roman jene Fragen, die alle Menschen sich irgendwann stellen müssen. Denn dem Tod kann niemand entkommen, manche können ihr Ende aber genau datieren. Ulla, seine 43jährige Frau, schlägt Martin vor, seinem Sohn etwas zu hinterlassen – einen Brief oder ein Video. Und daran arbeitet Martin dann auch obwohl ihm Gefühle immer schwergefallen sind. Schicksalsschläge hat er immer erst mit einiger Verzögerung begriffen, manche nannten ihn deswegen gefühlskalt. Schlink beschreibt Martin auch als einen sehr nüchternen Menschen, als einen Gefassten.
Dramatik bekommt der Plot freilich dadurch, dass Martin erfährt, dass Ulla ihn mit einem jüngeren Mann betrügt. Und wieder erweist sich der Professor als durch und durch von Vernunft getrieben. Er macht seiner Frau keine Szene, sondern sucht den Liebhaber auf und bittet ihn, sich um Ulla und seinen Sohn zu kümmern.
„Das späte Leben“ ist somit ein Roman über die zwei wichtigsten Themen aller Menschen, nämlich Liebe und Tod. Es freut ungemein, wenn das ein Autor einmal so unspektakulär und ohne auf Auflagen zu schielen behandeln kann.
Als Kind ist Denise Lesur eigentlich ganz glücklich. Die Mutter führt in der Kleinstadt im Norden Frankreichs einen kleinen Krämerladen, der Vater daneben eine Kneipe. Die Kunden lassen anschreiben, niemand hat viel Geld, die Säufer sind Stammgäste – und dass es nur ein Plumpsklo im Hof gibt, stört auch niemanden. Denises Eltern arbeiten ständig, sie haben es geschafft, sich als Besitzlose hochzuarbeiten und sind nun froh, keinen Chef mehr zu haben.
Als sie Denise in eine katholische Privatschule stecken, bricht allerdings ihre Welt zusammen. Denise wird als Asoziale gehänselt, die Bürgertöchter blicken auf sie herab. Und Denise sieht zum ersten Mal ihr Elternhaus mit anderen Augen: die schlechten Manieren, den Nachttopf im Schlafzimmer, die schmierige Küche, das lächerliche Angebot ihres Ladens und die kotzenden Zechbrüder. Mit zähem Fleiß kämpft sich Denise nach oben, sie wird Klassenbeste und schafft mühelos die Anforderungen für den Besuch einer Universität. Da sieht sie längst auf ihre Eltern herab, deren Geld ihr erst den Besuch der Schulen ermöglicht hat. Als letzte Schranke will sie die Freundin eines Bürgerlichen werden. Mit den im Jahr 1961 noch verheerenden Folgen einer Schwangerschaft. Denise gerät an eine Engelmacherin, denn Abtreibungen sind noch illegal. Mit diesem Schock beginnt und endet der erste Roman der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux, der 1974 bei Gallimard erschienen ist. Noch schreibt Ernaux, die sich später ja als „Ethnologin ihrer selbst“ begreift, fiktional, wenngleich die Handlung ja mit den späteren autofiktionalen Büchern fast identisch ist. „Die leeren Schränke“ ist auf jeden Fall ein faszinierender Roman über die zerstörerischen Brüche, die ein sozialer Aufstieg mit sich bringt. Denise hasst ihre Herkunft, obwohl sie klug genug ist zu erkennen, dass auch in der bürgerlichen Welt vieles nur Schein ist. Als ihr Liebhaber erfährt, dass sie schwanger ist, macht er sich aus dem Staub.
Während Ernaux später für ihren lakonischen Stil bekannt wurde, ist dieser Erstling noch durchaus drastisch und plastisch erzählt. Stellenweise wirkt der in der ersten Person geschilderte Text wie eine Anklage gegen die Gesellschaft und sich selbst. Spannend und interessant zu lesen ist das Ganze aber auf jeden Fall.
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2024/01/LeerBB.png11001800Helmut Schneiderhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngHelmut Schneider2024-01-12 09:53:222024-01-12 09:58:10Der Aufstieg hat seinen Preis – Das Debüt der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux erstmals auf Deutsch
Wien verdankt dem Regisseur und Autor Markus Kupferblum viele ungewöhnliche Opern- und Theaterproduktionen. Nun lebt er mit seiner Familie in Boston und gerade ist sein Bühnenkünstler-Credo als Buch erschienen.
Hier in Wien macht der Regisseur, der schon an sehr vielen Orten der Welt inszeniert, gefilmt, gespielt und unterrichtet hat, nur noch eine Gesprächsreihe im Porgy & Bess mit bekannten Kulturschaffenden wie zuletzt mit Robert Schindel. Nicht nur weil seine Frau in Harvard ihren PhD macht, seine Kinder dort zur Schule gehen und er selbst in Harvard unterrichtet. In Wien wurde es für ihn, der schon 1992 beim hoch angesehenen Festival von Avignon ausgezeichnet wurde und der 2007 einen Nestroypreis erhielt, immer schwieriger, seine Inszenierungen zu finanzieren. Der in Wien Geborene ist ausgebildeter Clown, hat auch als Schauspieler viel gespielt und unterrichtete etwa in Wien, Tel Aviv, Teheran, Frankfurt, Michigan, Louisiana, Boston, New York und Bolivien.
wienlive: Wie verlief Ihr künstlerischer Werdegang?
Markus Kupferblum: Ich habe meine künstlerische Sozialisation in Paris erfahren und war bei Peter Brooks englischer Version der „Mahabharata“ dabei – der war schon damals mein Idol und ich war erst 20. Seine Konzentration auf die Menschen – die Schauspieler – hat mich sehr geprägt – denn sie sind es schließlich, die uns die Geschichten erzählen. Das hatte ich nicht gekannt, denn ich bin ja in Wien mit der Theatertradition des Burgtheaters aufgewachsen. Brook wurde später von Peymann gefragt, ob er fürs Burgtheater arbeiten möchte, und hat glatt abgelehnt. Ich hab ihn nach dem Grund gefragt und er hat geantwortet: Ich brauche Zeit! Das hat mich sehr fasziniert.
Mit 22 habe ich bereits meine erste freie Operngruppe gegründet, weil ich den Betrieb an der Staatsoper ungeheuer aufgeblasen gefunden habe.
Worum geht es im neuen Buch?
Meine Helena in „Die Schönheit der Helena“ ist jene aus dem Sommernachtstraum. Ihr Monolog ist für mich schon lange die beste Gelegenheit, jungen Schauspielerinnen und Schauspielern zu zeigen, wie man an eine Rolle herangeht. Mein Buch ist sozusagen ein Manifest für ein sinnliches Theater. Ich finde das noch immer vorherrschende postdramatische, zerstörerische Theater inzwischen sehr altbacken. Es hatte etwa in Berlin nach dem Fall der Mauer eine wichtige Funktion, aber es ist für mich nicht mehr befriedigend, so an Literatur heranzugehen. Als „Brookianer“ fehlt mir die einmalige Chance, Theater als Labor zu erleben, in dem die großen Konflikte der Menschheit abgehandelt werden. Deswegen hat Brook ja so viel Zeit für seine Inszenierungen gebraucht – er probte eineinhalb Jahre! Das hat mich als Junger fast wahnsinnig gemacht: Ich habe bei ihm Proben erlebt, die perfekt waren – und dann hat er gemeint: so, jetzt können wir das streichen. Er war der Meinung, dass man sich nie an etwas klammern dürfe und dass man durch die Streichung Gelegenheit für etwas Neues bekomme.
Das Theater heute will ja inzwischen überkorrekt sein, wie sehen Sie das?
Political Correctness hat sicher seine Berechtigung, aber wenn man das ganz genau nimmt, heißt es doch, dass man kein Stück von Shakespeare mehr spielen dürfte. Bei „Romeo und Julia“ gibt es Sex mit Minderjährigen, beim „Kaufmann von Venedig“ den Antisemitismus, bei „Othello“ begeht ein Afrikaner einen Mord. Wenn Menschen etwa in einer Komödie über Menschen lachen, ist es ja das Ziel, dass sie erkennen, dass sie über sich selbst lachen. Diese Großzügigkeit, über sich selbst lachen zu können, ist doch eine der wunderbarsten menschlichen Qualitäten! Das wissen wir seit Aristoteles. Mit Political Correctness wird es sehr, sehr ernst auf unserer Welt.
Ist das vielleicht auch ein Grund, warum immer weniger Menschen ins Theater gehen?
Ich kann mir vorstellen, dass es da einen Zusammenhang gibt. Wenn sich das Theater nicht mehr darauf konzentriert, was es kann und was es besser kann als ein Netflix-Abo mit Millionen Filmen, dann wir niemand mehr ins Theater gehen. Denn es kostet viel Geld, man kann nicht in Hausschuhen Popcorn essen, nicht auf Stopp oder Fast Forward drücken, kann sich nicht zwischendurch ein Bier holen. Es geht um das Erlebnis, dass ein echter Mensch im selben Raum vor dir steht und du diesen Raum mit vielen anderen Menschen teilst, die dieselbe Empathie zu entwickeln imstande sind. Theater muss die Wahrheit des Augenblicks feiern. Denn auch wenn morgen dasselbe Stück gespielt wird, ist es immer wieder neu und anders.
Am schwierigsten ist es, die Jugend zum Theater zu verführen, oder sehen Sie das anders?
Ich bin da nicht so sicher. Wir Theatermacher müssen auf jeden Fall lernen zuzuhören und herauszufinden, was für Bedürfnisse die Jugendlichen haben. Eigentlich habe ich nur gute Erfahrungen mit ihnen gemacht – und dies auch immer gerne. In Litauen kurz nach der Wende habe ich mit arbeitslosen russischen Jugendlichen, die sich zu Recht völlig ausgeschlossen gefühlt haben – es durfte ja nicht einmal mehr Russisch gesprochen werden –, Straßentheater geprobt. Wir haben dann am Hauptplatz von Vilnius eine Show aufgeführt. Und diese Kinder waren so glücklich, weil ihnen zum ersten Mal von Menschen applaudiert wurde.
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2023/12/Diesner_echo_30437_011-scaled.jpg17082560Helmut Schneiderhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngHelmut Schneider2023-12-22 11:32:222023-12-22 11:32:24Für den Zauber der Bühne