Theaterkritik: „It’s the End of the World as We Know It“ im Schauspielhaus

Bunkerstück im Schauspielhaus


Ein Bunkerstück im Schauspielhaus. Theaterkritik von Helmut Schneider.
Foto: Susanne Einzenberger


Das Schauspielhaus hat mit der britischen Theatergruppe Kandinsky ein aktuelles Stück entwickelt, in dem es um das Überleben bei zu erwartenden Klimakatastrophen geht. Wer reich ist, sorgt vor – nämlich indem er sich einen luxuriösen Bunker anschafft. Bunker-Verkaufsgespräche bilden das Grundgerüst von „SHTF“.

Die Darsteller wechseln permanent zwischen Englisch und Deutsch, Bildschirme werden originell eingesetzt und bisweilen als Verlängerung des Theaterraums verwendet. Da schneidet man etwa Gemüse (am Schirm als Film sichtbar) und die Schauspielerin hält nur die Hände in der richtigen Position. Wie überleben, wenn alles hin ist? Angeblich werden im Silicon Valley längst Projekte forciert, um Lebensmittel künstlich herzustellen. 90 Minuten Nachdenken über den Weltuntergang – klingt ziemlich deprimierend. Durch witzige Einfälle und eine flüssige Handlung gelingt aber dennoch ein sehr ansprechender Theaterabend.


Buchtipp: Damon Galgut, Das Versprechen

Politischer Familienroman aus Südafrika


Damon Galguts Roman „Das Versprechen“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.


Am Beginn des Romans herrscht noch Apartheit in Südafrika, am Ende tritt gerade der wegen massiver Korruptionsvorwürfe beschädigte Präsident Jacob Zuma, wir sind also im Jahr 2018, zurück. Erzählt wird der Abstieg der weißen Familie Swart. Aber wie ein roter Faden zieht sich das titelgebende Versprechen, das die im Sterben liegende krebskranke Mutter ihrer schwarzen Dienerin Salome gegeben hat, nämlich das windschiefe Haus am Rand der Farm nahe Pretoria, in der  Salomes Familie lebt, ihr zu schenken. Im Apartheitsregime ist das gesetzlich noch nicht einmal möglich, aber nacheinander brechen der Vater und die Kinder dieses Versprechen. Erst am Schluss des Romans, als die greise Salome bereits in ihr Heimatdorf zurückziehen will, wird es von der jüngsten Tochter Amor eingelöst. Da steht das Gut allerdings bereits vor der Zwangsversteigerung und niemand weiß, ob nicht Gebietsansprüche von den Besitzern vor der Familie Swart zu erwarten sind.

Damon Galgut konnte mit „Das Versprechen“ den Booker-Preis gewinnen und wie zumeist bei dieser höchsten Auszeichnung für ein englischsprachiges Werk, kann man sich auf diese Jury verlassen. Galgut verwebt meisterhaft die südafrikanische Historie mit der Familiengeschichte der Swarts. Ohne jemals geschwätzig zu werden, schafft er es, Stimmungen und Personen treffend zu beschreiben. Der Roman ist auch klug gegliedert, denn in jedem der vier Kapiteln gibt es ein Begräbnis. Erst stirbt Ma an Krebs, dann kommt Pa bei einem strohdummen Versuch, zugunsten seiner geliebten Kirchengemeinde einen Weltrekord zu brechen, ums Leben. Als Miteigentümer einer Reptilienfarm wird er von einer Kobra, in deren Gehege er Tage ausharren wollte, gebissen. Tochter Astrid, gut verheiratet aber gelangweilt, wird bei einem Raubüberfall ermordet und der älteste der Geschwister, Anton, der einst gegen den Vater und den Staat, der ihm als Soldat zumutete, auf schwarze Demonstranten zu schießen, rebellierte, jagt sich – zum Alkoholiker geworden – eine Kugel in den Kopf. Einzig Amor führt ein selbstbestimmtes, wenngleich sehr karges Leben als Krankenschwester in einer Aids-Station. Sie, die auf alle Einkünfte aus ihrem Erbe verzichtet, erinnert jedes Familienmitglied immer wieder an das Salome gegebene Versprechen. Neben den Familienmitgliedern lässt Galgut aber auch geldgierige Geistliche ebenso auftreten wie Obdachlose oder einen spirituell erleuchteten Yogalehrer. Der Autor weiß zweifelsohne auch seine Leser zu unterhalten. Eines der besten Romane der Saison!


Damon Galgut: „Das Versprechen“
Aus dem südafrikanischen Englisch von Thomas Mohr
Luchterhand
ISBN: 978-3-630-87707-5
368 Seiten
€ 24,70

Theaterkritik: „Cyrano de Bergerac“ im Burgtheater

Cyrano de Bergerac Martin Crimp nach Edmond Rostand Premiere am 05 April 2022 im Burgtheater

Augen zu und durch


Ein neuer Cyrano im Burgtheater. Zu sehen etwa am 9. und am 27. Mai 2022.
Foto: Nikolaus Ostermann


Einfach spielen kann man das vor Kitsch nicht zurückschreckende Versdrama „Cyrano de Bergerac“ von Edmond Rostand wohl nur in einem Augen-zu-und-durch-Modus in den diversen Sommertheatern. Nimmt man das französische Drama ernst, müssen die Figuren mehr vermitteln können als ihnen der Text vorgibt. Das bedarf einer subtilen Regie und sensibler Schauspieler. Im Burgtheater wird jetzt eine Version des britischen Dramatikers Martin Crimp (in der Übertragung von Ulrich Blumenbach und Nils Tabert) gespielt, die den Cyrano einen etwas moderneren Anstrich gibt und ihn in der Regie von Lily Sykes auch zeitlich nicht völlig in die Mantel- und Degen-Ära abgleiten lässt. Bisweilen rapt man sogar und der Schluss wurde von Crimp völlig verändert wenn auch nicht ins Happy-End verklärt. Franz Pätzold spielt solide den langnasigen Reimeschmieder, Lilith Häßle die angebetete Roxane, etwas blass wirkt Tim Werths als Schönling Christian.

Man kann sich also durchaus gut unterhalten im Burgtheater und das Entsetzen vor dem Krieg und vor totalitären Gesellschaften hat sowieso leider gerade eine tragische Aktualität.


„Cyrano de Bergerac“ im Burgtheater
burgtheater.at

Buchtipp: Otto Brusatti, Der Gaukler mit Beethoven & Co

Anti-Künstler-Roman


Otto Brusattis schildert in „Der Gaukler mit Beethoven & Co.“ Das Leben eines Komponisten heute. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.


Der „kleine Komponist und Kunstbezweifler“ Edgar Arnold David Niehaus (EADN) wird 1968 in Halle/Saale in der DDR geboren und hätte als Partei-Günstling überall Karriere machen können. Alleine – er entschied sich für die Musik. Und bei erstbester Gelegenheit nutzte er die offenen Grenzen und setzte nach Westberlin über, wo er in der alternativen Hausbesetzer-Szene bald schon die linken Freunde mit neuer und somit unverständlicher Musik nervte. Früh wird er auch krank. Wie es dazu kam, dass EADN in den fest eingezirkelten Kreisen der Avantgarde reüssieren und recht gut von Stipendien leben konnte, letztlich aber nicht unzufrieden als besserer Unterhaltungsmusiker auf Kreuzfahrtschiffen endete, davon erzählt Otto Brusatti in seinem Musik-Roman Roman „Der Gaukler mit Beethoven & Co.“ Das Buch ist zugleich Parodie, Satire, Schelmenroman und Anti-Künstlerroman. Thomas Manns berühmter Komponistenroman „Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde“ wird dabei ebenso lustvoll geplündert und parodiert wie Nietzsches Biografie oder Wittgensteins „Tractatus“. Sein Edgar Niehaus ist ebenso arrogant wie anscheinend untalentiert, er zieht dabei aber ungeniert über Musikerkollegen her und hat damit auch lange Zeiten beträchtliche Erfolge in Talkshows und bei akademischen Symposien.

Geht er auch einen Pakt mit dem Teufel ein? Just an zwei Weihnachtsabenden kommt es zu seltsamen Begegnungen mit zwei mysteriösen Zeitgenossen, krank ist er ja schon und in der Liebe hat er auch wenig Glück. Einmal bringt er in Wien – neben Berlin und Leipzig seine Schicksalsstadt – eine angehende feministische Literatin dazu, ihm Textfetzen für ein Oratorium zu liefern und einmal findet er tatsächlich ausgerechnet in Ungarn eine von Primzahlen besessene Frau, mit der er einige unbeschwerte Tage verbringen kann. Nach einem vielversprechenden Abschied, begeht die anscheinend schwerkranke Frau allerdings Suizid. Niehaus macht weiter mit der Zerstörung von Traditionen, er will Wittgenstein vernichten, was ihm wiederum ein Stipendium einbringt. Er macht auch das zu Musik. Das letzte große Werk, dessen Aufführung mindestens sieben Stunden dauern würde, ist schließlich ein Balladenprojekt. Stefan George und immer wieder Franz Schubert sind seine geistigen Führer, an denen er sich abarbeitet. Letztlich holt ihn seine Krankheit, die nie genau diagnostiziert wird, aber ein und er stirbt mit nur 51 Jahren – immerhin keine Primzahl und immerhin bleibt ihm ein langes Darben in geistiger Umnachtung wie Nietzsche und Manns Adrian Leverkühn erspart.

Der Roman ist natürlich in erster Linie für musikalische und literarische Feinspitze ein Vergnügen, da allerlei Verweise und Anspielungen zu entschlüsseln wären. Brusatti beschreibt mit den Augen seines Protagonisten die eitlen musikalischen Eliten und den trägen, selbstgefälligen Kulturbetrieb. Beim Festival „Rund um die Burg“ am 20./21. Mai wird er seinen Roman dem Publikum vorstellen.

Otto Brusatti wird am 20. Mai, 18.30 Uhr, bei „Rund um die Burg“ im Landtmann Bel Etage bei freiem Eintritt aus seinem Roman lesen.


Otto Brusatti: „Der Gaukler mit Beethoven & Co. Ein Musik-Roman“
Morio Verlag
ISBN: 978-3-945424-98-8
364 Seiten
€ 16,50

Theaterkritik: „Reich des Todes“ im Akademietheater

Reich des Todes


Eine Geschichtsstunde –  Rainald Goetz‘ „Reich des Todes“ im Akademietheater. Theaterkritik von Helmut Schneider.
Foto: Ruiz-Cruz


Am Beginn herrscht Party – am Ende Ratlosigkeit. In der Inszenierung von „Reich des Todes“ von Rainald Goetz durch Robert Borgmann im Akademietheater tanzen sich weiß bekleidete Menschen zur Rave-Musik in Trance, während im Hintergrund bereits Leuchtstoffröhren die Fassade des World Trade Centers andeuten. Doch schnell ist Schluss mit lustig, die jungen Menschen liegen leblos am Boden und werden mit Erde bedeckt. Die Anschläge von 9/11 sind für Rainald Goetz aber nur der Ausgangspunkt einer Entwicklung, die sich in den Einschränkungen liberaler Freiheiten und schließlich in den Folterzellen in Abu Ghuraib fortsetzt. Der amerikanische Präsident, Geheimdienstchefs und Folterknechte und -mägde treten auf, Berichte von Menschenrechtsverletzungen werden verlesen. Dass dieses Stück über eine Zeitenwende jetzt just zu einem Zeitpunkt erscheint, als angesichts der Gräuel des Ukraine-Kriegs wieder viele von einer Zeitenwende sprechen, kann man auch als notwendiges Korrektiv eines umsichgreifenden Schwarz-Weiß-Denkens empfinden.

Goetz zieht aber auch Parallelen zu den Verbrechen der Nazis, er holt da ziemlich heftig aus.

Auf einem zweiten Bühnenvorhang ist der Grundriss eines Konzentrationslagers aufgezeichnet, Braunhemden in Wehrmachtsstiefeln treten auf. Aber macht das schon ein gutes Theaterstück aus? Die Folter-Vorwürfe im Irak und Guantanamo sind bekannt, auch wenn man nach wie vor nicht weiß, was Obama letztendlich bewogen hat, sein Wahlkampfversprechen, Guantanamo aufzulösen, zu brechen. Robert Borgmann versucht in einzelnen Szenen durchaus mit Erfolg, ansprechende Theaterbilder zu schaffen und die Texte ins Tragisch-Komische zu verfremden. Die Schauspielerinnen und Schauspieler – Marcel Heuperman, Felix Kammerer, Christoph Luser, Elisa Plüss, Safira Robens, Martin Schwab und Andrea Wenzl – erzeugen eine große Bühnenpräsenz. Mehmet Ateşçi gelingt etwa in einem Käfig ein beeindruckender Folteropfermonolog. Der erkenntnismatte 20-minütigen Schlussmonolog, den Martin Schwab vom Blatt ablesen muss, ist dann aber – nach dreieinhalb Stunden – eine Geduldprobe fürs Publikum.


Informationen & Karten: burgtheater.at

Buchtipp: Joseph Henrich, die seltsamsten Menschen der Welt

Die seltsamsten Menschen der Welt


Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurde – die sehr andere Kulturgeschichte von Joseph Henrich. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.


Als wir bei EineStadt.EinBuch. den in China aufgewachsenen Dichter und Filmer Dai Sijie zu Gast hatten, erzählte er mir im Interview vom Kulturschock den er erlitt, als er in Paris zu studieren anfing und ihm eine Putzfrau beiläufig mitteilte, dass sie heute Abend in die Pariser Oper ginge. Nicht die Tatsache, dass eine Putzfrau in die Oper geht, war der Schock, sondern dass anscheinend jeder und jede in Paris einfach so „ich“ sagt. Das machte mir zum ersten Mal bewusst, dass wir die westliche Kultur des Individualismus als für alle geltend und alternativlos ansehen. Dieser Hochmut hat nicht nur schon Kriege entschieden – die USA scheiterten in Vietnam, Irak oder Afghanistan auch an der Unfähigkeit, sich in ihre Gegner einzufühlen –, sondern behindert schlicht das Verständnis für anderer Gesellschaftsformen. Es ist eben auch eine Art kulturelle Aneignung, allen Ländern dieser Welt die Demokratie aufzwingen zu wollen – eine schmerzliche Erfahrung, die wir im Westen kaum akzeptieren können. Ein Beispiel: Als in Afghanistan noch halbwegs demokratische Wahlen abgehalten wurden, befragte man Wähler, warum sie eine bestimmte Partei gewählt hatten und bekam dabei erstaunliche Antworten. Die meisten erklärten ohne Umschweife, dass sie den bestimmten Politiker gewählt hatten, weil der über 7 Ecken mit ihnen verwandt war. Politische Programme interessierten sie gleich Null.

Der amerikanische Anthropologe Joseph Henrich hat nun auf 650 Seiten nachzuzeichnen versucht, warum der Westen in Wirklichkeit höchst „sonderbar“ ist. Sonderbar oder seltsam ist die Übersetzung des englischen WEIRD, das bei Henrich für Western, Educated, Industrialized, Rich und Democratic steht. In „Die seltsamsten Menschen der Welt. Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurde“ beschreibt der Professor in British Columbia die Entstehung der vieldiskutierten westlichen Werte aus den Verboten, die die Kirche im untergehenden Römischen Reich und im Frühmittelalter durchsetzen konnte. Konkret die Monogamie und das Verbot der Vetternehe. In den Jahrhunderten davor war es in den meisten Kulturen üblich, dass die erfolgreichsten/reichsten Männer mehrere Frauen für sich beanspruchten. Für die Frauen ein gar nicht so schlechter Deal wie man auf dem ersten Blick meinen könnte, denn es lebt sich als 3. oder 4. Frau eines mächtigen Mannes sicher besser als als einzige Frau eines Hungerleiders. Allerdings blieben dadurch viele junge Männer unbeweibt und ohne Perspektive auf ein besseres Leben. Ein Umstand, der in allen Kulturen der Kriminalität Vorschub leistet. Doch dadurch, dass erfolgreiche Männer sehr viele Kinder hatten legten sie auch nur wenig Wert auf deren Ausbildung – etwas, das Gesellschaften in ihrer Weiterentwicklung allerdings brauchen. Die weitverbreitete Sitte der Heirat zwischen Verwandten (Vettern und Cousinen) trug außerdem zur Bildung von Clans bei – Verwandtschaft wurde wichtiger als Talent und Eignung. In ihrem Absolutheitsanspruch für Gott waren dem Christentum und später dem katholischen Papsttum starke verwandtschaftliche Beziehungen allerdings ein Dorn im Auge. Alle sollten sich Gott unterordnen, auch für die Könige sollten die heiligen Gesetze der Ehe gelten.

Einen weiteren Schub in Richtung einer sonderbaren Gesellschaft brachten die Ideen des Protestantismus und der Alphabetisierung. Als Luther 1517 seine berühmten 95 Thesen an die Schlosskirche in Wittenberg nagelte, konnte in Deutschland gerade einmal 1 Prozent der Bevölkerung lesen. Die eigentlich revolutionäre Idee Luthers bestand nun nicht in der Ablehnung des Papsttums, sondern in der Eigenermächtigung des Individuums. Jeder sollte selbst die Bibel lesen können und so übersetze er dann auch die – bis dahin nur Priestern in Lateinisch vorbehaltene – Bibel ins Deutsche. Die Erfindung des Buchdrucks tat ein Übriges und so waren bis ins beginnende 20. Jahrhunderts protestantische Länder wesentlich besser alphabetisiert als katholische. Die Idee, jeder solle für seinen Glauben selbst verantwortlich sein, bewirkte aber auch, dass andere Bindungen in der Gemeinschaft weniger wichtig wurden.

Es gibt etwa einen einfachen Test, um herauszufinden, wie sehr sich Menschen als eigenständige Personen fühlen. Bittet man Probanten verschiedener Kulturen den Satz „Ich bin…“ zu vervollständigen, bekommt man ganz unterschiedliche Antworten. Im Westen definieren sich Individuen etwa über ihren Beruf, ihre Bildung, ihre Heimat oder ihre Vorlieben. In den nicht sonderbaren Kulturen hingegen viel stärker über ihre Bindungen innerhalb ihrer Gesellschaft – etwa „Ich bin der Sohn von, der Ehemann von, der Bote meines Onkels usw.“

Henrich behauptet gleich zu Beginn, dass sich in den westlichen Kulturen über die Jahrhunderte die Gehirne neu verdrahtet hätten. Unsere Fähigkeit zu Lesen ging etwa zu Lasten der Fähigkeiten, ein Gesicht schnell zu erkennen. Warum aber wurde das westliche Modell so erfolgreich? Hätte jemand von außen auf die Welt um 1000 nach Christus geblickt, hätte er vorhergesagt, dass sich entweder die Araber oder die Chinesen zur Weltherrschaft aufschwingen würden – beide Kulturen waren wesentlich weiter entwickelt als die nach dem Zusammenbruch des römischen Imperiums rückständigen Europäer. Während der Kreuzzüge staunten die christlichen Ritter über die hohe Kultur der Moslems, kluge Herrscher wie Friedrich II. lernten viel von der arabischen Welt – so erfuhren Europäer etwa nur über die Vermittlung von arabischen Gelehrten von der Existenz eines Aristoteles. Um 1900 war hingegen ein Gutteil der Welt entweder direkt als Kolonie oder als schwache Staaten von Europa oder den USA abhängig. Die meisten Forscher machen dafür das Aufkommen der Wissenschaften im Gefolge der Kolonialisierung verantwortlich. Henrich will in seinem Buch aber erklären, warum sich gerade im Westen die Wissenschaften so erfolgreich entwickelt haben. Er beschreibt die vielbeschworenen westlichen Werte wie Menschenrechte, Freiheit, repräsentative Demokratie oder Wissenschaft nicht als Resultat der Aufklärung oder der Vernunft, sondern als Folge psychologischer Phänomene, die durch ein Bündel von Regeln in der Frühzeit des Christentums aufgestellt worden waren. Interessanterweise sind sonderbare, also westlichen Gesellschaften, Fremden gegenüber weniger misstrauisch, halten sich eher an Gesetze und sind mehr am Tausch von Waren interessiert.  

Henrich unterstützt seine These durch eine Reihe psychologischer Tests. Etwa das berühmte Ultimatum-Spiel. Sie werden gebeten mit einem ihnen unbekannten Menschen in einem anderen Raum 100 Euro zu teilen. Und zwar mit folgenden Spielregeln: Sie teilen, der Deal hält aber nur, wenn ihr Partner dem zustimmt. Lehnt er ab, bekommen beide kein Geld. In den westlichen Kulturen bieten die Spieler meist 50:50 an, in allen anderen Kulturen behält der, der das Geld aufteilt. in der Regel mehr – etwa im Verhältnis 80:20. Das Interessante ist nun, dass die Westler geringe Beträge ablehnen – mit dem Ergebnis, dass niemand etwas bekommt –, während überall sonst sich die zweiten Spieler auch mit kleinen Beträgen zufriedengeben. Das ist objektiv gesehen natürlich eine rationale Entscheidung – allerdings eine, die Westler als unfair empfinden. In einigen wenigen Kulturen, in denen das Schenken ein hoher Stellenwert einräumt wird, bieten die ersten Spieler sogar mehr als sie für sich selbst behalten wollen.

Henrichs Thesen sind zweifelsohne faszinierend und in den meisten Punkten nachvollziehbar. Sein Werk ist fast so etwas wie eine Ergänzung zum meistdiskutierten Buch der letzten Jahre, nämlich Yuvak Noah Hararis „Eine kurze Geschichte der Menschheit“. Alles lässt sich mit seinen Ideen natürlich nicht erklären. Warum sind die größten Verbrechen der Menschheit – wie etwa der Holocaust – gerade in den hochentwickelten Gesellschaften verübt worden oder wie konnte ein noch radikaleres System gegen die Vetternwirtschaft wie der Kommunismus sich in Ländern wie Russland oder China durchsetzen. Doch das meiste ist schlüssig. Wer etwa wissen will, warum autokratische regierte Staaten für Korruption stärker anfällig sind als Demokratien, wird auch eine Antwort finden. Und psychologischen Studien, die rein auf Untersuchungen an westlichen Universitäten nach dem Motto „Wir befragen unsere Collegestudentinnen und Collegestudenten und schließen dann auf die ganze Welt“ durchgeführt werden, wird man nach diesem Buch sicher grundsätzlich misstrauen.


Joseph Henrich: Die seltsamsten Menschen der Welt. Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurde
Aus dem Amerikanischen von Frank Lachmann und Jan-Erik Strasser
Suhrkamp Verlag
ISBN: 978-3-518-58780-5
650 Seiten
€ 35,-

Theaterkritik: „All right. Good night.“ im Volkstheater


Ein Stück über Verschwinden und Verlust – „All right. Good night.“ im Volkstheater. Theaterkritik von Helmut Schneider.
Foto: Merlin Nadj-Torma


Kann ein so großes Ding wie eine Boeing 777 in unserer vernetzten, kontrollierten Welt einfach so verschwinden und was passiert mit den weltweit Millionen von Demenzkranken, deren Bewusstsein und Gedächtnis sich von Tag zu Tag mehr vernebelt? Helgard Haug von Rimini Protokoll spiegelt in der Produktion „All right. Good night.“ den tragischen Flug der Malaysia Airlines im Jahr 2014 mit 239 Menschen am Bord, der nie restlos aufgeklärt werden konnte, mit dem Protokoll der Demenzerkrankung ihres Vaters, eines evangelischen Pfarrers. Ein Abend mit viel Musik und viel Text – allerdings wird der nur ganz selten gesprochenen, sondern im Bühnenhintergrund mit gut lesbaren großen Lettern angezeigt. Das erzeugt überraschenderweise eine eigene Stimmung und ganz viel Spannung. Im Theater stören Übertitel ja meistens, man nimmt sie aber im Kauf, um etwa einer fremdsprachigen Oper folgen zu können. Bei dieser Produktion hat man das Gefühl, etwas Intimes zu lesen. Es ist fast wie eine Buchlektüre. Dazu trägt natürlich auch die Musik von Barbara Morgenstern in Zusammenarbeit mit dem Zafraan Ensemble – 3 Musiker und 2 Musikerinnen sind stets auf der Bühne – bei. Es ist beileibe keine Hintergrundmusik, sondern ein dichtes Geflecht an Klängen, immer passend zum Text. Was sonst noch passiert auf der Bühne wird nebensächlich – angedeutet wird ein Strand mit dem Fund eines Wrackteils.

Zwar gehen die vielen Toten des Absturzes natürlich auch nahe – eine Gruppe Angehöriger des Flugs MH370 fragt bis heute seit dem Absturz jeden einzelnen Tag im Büro von Malaysia Airlines nach, ob es Neuigkeiten gebe –, die größte Betroffenheit entsteht aber dabei wenn wir miterleben, wie ein kluger, engagierter Mensch im Alter die Kontrolle über seine Gedanken und Sätze verliert. Die zweieinhalbstündige Koproduktion des Volkstheaters mit u.a Hebbel am Ufer in Berlin wurde heuer – wohl zurecht – zum Berliner Theatertreffen eingeladen.


Infos & Karten: volkstheater.at

Buchtipp: Berit Glanz, Automaton

Vernetzt und prekär


Berit Glanz beschreibt in seinem neuen Roman „Automaton“ die Working-Class-Poor der Globalisierung. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.


Unter Automaton versteht man Menschen, die digitale Foto- und Videoaufnahmen sichten und bewerten. Tiff ist eine von ihnen, die von zuhause Aufträge für Firmen annimmt, die anscheinend behaupten, schon eine funktionierende KI zu besitzen, in Wirklichkeit aber ihre Überwachungsvideos von Menschen sichten zu lassen. Der Job bei einer Plattform, den sie vorher hatte und bei dem sie Fotos rauslöschen musste, die den Anstand oder gesetzliche Bestimmungen verletzen, war noch anstrengender und noch schlechter bezahlt. Mit einigen digitalen Leidensgenossen hat sie eine Chatgruppe gegründet, um sich bei der öden Arbeit die Zeit zu vertreiben. Als sie bei der Überwachung eines Garagentors ein paarmal einen Mann sieht, der zum Einschlafen seinem Hund vorliest, ist sie fasziniert. Als dann der Mann verschwindet und der Hund verzweifelt nach ihm Ausschau hält, ist sie alarmiert. Was ist mit dem augenscheinlich obdachlosen Mann geschehen. Mit ihren Chat-Freunden versucht sie, herauszufinden, was geschehen ist. Sie hat dabei anfangs keine Ahnung, wo auf der Welt sich dieses anonyme Garagentor befindet. Die Firma für die sie arbeitet hat alle eine Geheimhaltungsklausel unterschreiben lassen – sie kann dort also auch nicht nachfragen.

Als Leser wird einem aber bald klar, dass es sich um den anderen Erzählstrang des Romans handeln muss. Die Autorin schildert das ebenso karge und von Finanznöten geplagte Leben von Stella in Oakland, einem wenig reizvollen Stadtteil von San Francisco. Nach Jobs in einer Fischfabrik und als Erntehelferin in einer Marihuana-Farm arbeitet sie jetzt in einer Suppenküche für Bedürftige. Und dort trifft sie einen Mann, der niemals lange an einem Ort bleiben will. Wir ahnen es, das muss jener Obdachlose sein, der verschwunden ist und wir erleben, wie die globale Rettungsversuche von Tiff letztlich erfolgreich werden.

Berit Glanz ist ein Roman gelungen, der uns nicht nur die prekäre Situation von Onlinearbeiterinnen zeigt, sondern auch eindrucksvoll beschreibt, wie vernetzt unsere Welt inzwischen geworden ist. Die digitalen Fäden, die um den Erdball gesponnen sind, verbreiten aber auch ein gehöriges Gefühl von Unbehagen.


Berit Glanz: Automaton
Berlin Verlag
ISBN: 978-3-8270-1438-2
288 Seiten
€ 22,70

Theaterkritik: „Der.Semmelweis.Reflex“ im Off-Theater

Totentanz der Wissenschaft


Das Off-Theater spielt „Der.Semmelweis.Reflex“. Eine Theaterkritik von Helmut Schneider.
Foto: Barbara Palffy


Als Semmelweis-Reflex wird die Vorstellung beschrieben, dass das wissenschaftliche Establishment eine neue Entdeckung quasi „reflexhaft“ ohne ausreichende Überprüfung erst einmal ablehne und den Urheber eher bekämpfe als unterstütze, wenn sie weit verbreiteten Normen oder Überzeugungen widerspricht. – Zitat Wikipedia. Im Off-Theater in Neubau stellt das Bernhard Ensemble das turbulente und letztendlich tragische Leben des Ignaz Semmelweis (1818 – 1865, er starb im Irrenhaus an einer Blutvergiftung) als mahnendes Beispiel für Ignoranz in der Wissenschaft dar. Und das mit zum Teil drastischen Mitteln. Bevor die Zuschauer eingelassen werden, müssen sie sich Plastikpatschen über die Schuhe stülpen – man geht schließlich in einen Operationssaal, der sich zunächst als Leichenhalle präsentiert. Denn das war ja die wichtige Erkenntnis des in Wien und Budapest tätigen Arztes Dr. Semmelweis – zu seiner Zeit übertrugen die Ärzte die Keime der sezierten Toten ohne Hygiene direkt auf die Wöchnerinnen, sodass die Frauen, die in der Nachbarabteilung des AKH mit Hebamme entbanden, eine ungleich höhere Überlebenschance hatten.

Glücklicherweise spielt das Off-Theater-Ensemble unter Ernst Kurt Weigel das freilich sehr frei und flüssig. Tote haben ebenso ihre Auftritte wie ignorante Kollegen und leidende Mütter. Zur Choreografie von Leonie Wahl bewegen sich die fünf Darstellerinnen und Darsteller auch oft zu einem schaurigen Totentanz. Wissenschaft kann ja auch Spaß machen.

Gelungene 100 Minuten.


Infos & Karten: www.off-theater.at

Buchtipp: Kim Hye-Jin, Die Tochter

Annäherung zwischen Generationen


Annäherung zwischen Generationen – Kim Hye-Jins Mutter-Tochter-Roman aus Südkorea. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.


Ein Blick in die Untiefen der Wirtschaftsboom-Region Südkorea: Kim Hye-Jin zeigt uns in ihrem ersten auf Deutsch erhältlichen Roman „Die Tochter“ Menschen, die kaum etwas vom großen Wohlstand abbekommen und die an der noch immer sehr traditionellen Gesellschaft leiden. Die Mutter besitzt zwar nach dem Tod ihres Mannes ein Mietshaus, doch das ist so desolat und die Mieter so knapp bei der Kasse, dass sie auch noch im Alter in einem Seniorenheim als Pflegerin arbeiten muss, während ihre Tochter Green trotz Studiums nur eine kaum bezahlte Assistentenstelle an der Uni hat. Doch das macht der Mutter weniger Sorgen als Greens Beziehungsstatus, denn diese lebt mit einer Köchin zusammen, die im Roman immer nur das Mädchen genannt wird. Aus der Traum vom sicheren Hafen der Ehe mit Enkelkindern. Gleichgeschlechtliche Beziehungen sind in Korea bestenfalls vom Gesetz geduldet, in der Gesellschaft aber weiterhin verpönt.

Kim Hye-Jin erzählt aus der Sicht der Mutter, wir bekommen somit ihre große Abneigung gegen die Partnerin ihrer Tochter unmittelbar mit. Aber im Lauf der Handlung dürfen wir erleben, dass die beiden mehr gemeinsam haben als sie zugeben würden. Um Geld zu sparen, das sie nicht haben, ziehen die Tochter und das Mädchen bei der Mutter ein. Green engagiert sich auf der Uni für Lehrende, denen man aufgrund ihrer Homosexualität ohne Angabe von Gründen den Lehrvertrag nicht mehr verlängert hatte. Ein aussichtsloser Kampf bei dem Green schließlich sogar brutal von Gegendemonstranten verprügelt wird.

Aber die Mutter ist auf ihre Art nicht weniger engagiert. Als sie mitbekommt, dass ihre demente Patientin trotz der großen Summen, die sie für das Seniorenheim bezahlt hat, in eine Abteilung ohne intensive Pflege abgeschoben wird, „befreit“ sie diese kurzerhand und bringt sie zu sich nach Hause. Kim Hye-Jin zeichnet das Bild einer sozialdarwinistischen Gesellschaft, in der nicht einmal mehr Reichtum ein gutes Leben garantiert. Wenn sich niemand um einen kümmert, kümmert es eben niemand mehr. Ein hartes, aber notwendiges Buch, das Wert ist, gelesen und diskutiert zu werden.    


Kim Hye-Jin: Die Tochter
Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee
Hanser Berlin
ISBN: 978-3-446-27232-3
172 Seiten
€ 20,60