Theaterkritik – Shakespeare am Burgtheater

Der Sturm ist nur ein weiches Lüfterl


Shakespeares „Der Sturm“ am Wiener Burgtheater. Eine Theaterkritik.
Foto: Burgtheater/Horn


Die Drehbühne dreht sich, die Darsteller schleichen auf der dunklen Bühne herum und singen sich ein, das Orchester spielt ein Medly aus Jazz-Standards, Schlager und Rolling-Stones-Hits, während es im Zuschauerraum anfangs noch hell bleibt. Es vergeht eine Viertelstunde, bevor das erste Wort gesprochen wird. Der isländische Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson macht im Wiener Burgtheater aus Shakespeares „Der Sturm“ einen Liederabend mit eingestreuten Szenen aus dem berühmten Theaterhit. So wirklich Interesse zeigt Arnarsson an dem vielgespielten Stück aber nicht.

Das Bühnenbild von Elín Hansdóttir bietet viel Platz zum Verstecken. Während eines Dialogs rieselt von oben leichtes Material auf die Sprechenden herab und versenkt sie schließlich. Das ergibt ein schönes Bild, aber eben wofür? Dabei ist das achtköpfige Ensemble durchaus erstklassig. Maria Happel verkörpert zwar souverän den Prospero, so wirklich reinziehen kann sie uns aber auch nicht in die Geschichte. Michael Maertens und Roland Koch sind als Blödelpaar Trinculo und Stephano natürlich lustig und Mavie Hörbiger scheint als fragiler Luftgeist das Geschick in Händen zu halten. Florian Teichtmeister spielt den bösen Caliban.

Fast zweieinhalb Stunden nettes Musikhören in sehr unterschiedlicher Gesangsqualität und dazu ein halbgares Theater. Schade um die vielen vergebenen Chancen, die gerade dieses Drama bieten würde.


Informationen & Details auf: burgtheater.at

Buchtipp – Abigail Assor, So reich wie der König

Als junge, arme Französin in Marokko – Helmut Schneiders Buchtipp über Abigail Assors harten Liebesroman „So reich wie der König“.

Marokko in den 90ern


Als junge, arme Französin in Marokko – Helmut Schneiders Buchtipp über Abigail Assors harten Liebesroman „So reich wie der König“.


Marokko in den 90ern: Die Masse der Menschen ist bitterarm, doch einige wenige schwimmen in Geld und Luxus. Mit Autos und Rolex-Uhren wird der Status angezeigt. Sarah ist 16, bildschön und geht auf die französische Schule in Casablanca, wo ihre Klassenkameraden vom Chauffeur nach Hause gebracht werden. Doch sie selbst ist darauf angewiesen, sich ein Mittagessen zu schnorren, die Schule kann sie nur besuchen, weil französische Staatsbürger hier kein Schulgeld zahlen müssen. Aber Sarah hat begüterte Freunde, die sie gerne auf ein Panini einladen. Ihre Mutter, die ihr ganzes Geld an einen Betrüger verloren hat, ist eine bessere Prostituierte. Beiden leben sie am Rande einer Barackensiedlung, haarscharf vom untersten Elend der Stadt getrennt.

Sarahs einziges Kapital ist ihre Schönheit, ihre Liebhaber spendieren ihr allerdings nicht viel mehr als Jeans und ein paar Mahlzeiten. Da hört sie von Driss, dessen Familie reicher sein soll als der König. Sarah träumt davon, seine Frau zu werden und im Familienpalast zu wohnen. Aber Driss ist ein Einzelgänger, der sich fast nur für sein Motorrad zu interessieren scheint. Sarah schafft es letztendlich doch, seine Geliebte zu werden. Ja, es sieht sogar bald nach echter Liebe aus. Auf seine Weise ist allerdings auch Driss ein Gefangener seiner Herkunft. Sein Vater, der größte Textilfabrikant des Landes, hält ihn für einen Versager. Ein Deal mit einem amerikanischen Partner geht schief. In Sarah findet er endlich jemanden, der  ihm zuhört und der zu ihm zu gehören scheint. Als Driss seiner Familie eröffnet, Sarah heiraten zu wollen, erntet er nur Hohn und Ablehnung. In der Schlüsselszene des Romans kommt Sarah anlässlich des islamischen Opferfestes zum ersten Mal ins Haus der Familie. Sarah ist absichtlich schwanger geworden, um ihre Chancen auf eine Hochzeit zu erhöhen. Allerdings hat sie nicht mit der Kaltschnäuzigkeit der Reichen gerechnet. Die Mutter eröffnet ihr unumwunden, was mit den Geliebten ihres Mannes, die ein Kind von ihm haben, passiert. Sie werden ganz einfach aus dem Haus geworfen.

Abigail Assor wurde 1990 in Casablanca geboren und studierte in Paris und London. Ihr Debütroman „So reich wie der König“ schaffte es bereits auf die Shortlist für den Prix Goncourt. Denn Assor ist ohne Zweifel ein erzählerisches Talent. In ihrem Roman wird Casablanca zum nach Armut und Verfall stinkenden Moloch, mit heruntergekommenen Jugendlichen, fliegenverseuchten Imbissbuden und überquellenden Mülleimern. Die Botschaft des Romans ist einfach und brutal – sowohl bei den ganz Armen als auch bei den Reichen dreht sich alles immer nur um Geld.


Als junge, arme Französin in Marokko – Helmut Schneiders Buchtipp über Abigail Assors harten Liebesroman „So reich wie der König“.

Abigail Assor: So reich wie der König
Aus dem Französischen von Nicola Denis
Insel Verlag
ISBN: 978-3-458-64284-8
220 Seiten
€ 23,70

Theaterkritik – „Karoline und Kasimir“ im Volkstheater

Horváths letzte Stunden in Paris


Helmut Schneiders Theaterbesuch: „Karoline und Kasimir – Noli me tangere“ im Volkstheater.
Foto: Marcel Urlaub


Das US-Duo Nature Theater of Oklahoma (Kelly Copper und Pavol Liška) hat sich mit seinen anarchistischen Theaterinterpretationen einen gewissen Ruf erspielt. Dass man die Zuschauer mit einem bekannten Horváth-Stück ins Theater locken wollte, bekennen die beiden Performance-Künstler gleich zu Beginn im lockeren, auf Englisch geführten Dialog. Was soll Theater heute überhaupt noch, wird gestenreich gefragt und dabei gleich eingeräumt: „It could be a big failure – and probably will be. But big!“ Bei soviel Charme verzeiht man den Herren gerne, zumal sie ein sehr einfaches, leicht verständliches Englisch sprechen. Immerhin: Eine Szene aus Horváths Stück bekommen wir ja doch noch zu sehen, wenngleich die Darsteller (hervorragend: Frank Genser, Lavinia Nowak, Julia Franz Richter, Samouil Stoyanov und Jürgen M. Weisert) stumm bleiben und das Drama samt Regieanweisungen nur vorgelesen wird. Das ist zunächst witzig und erfrischend.

Der Hauptteil des mit Pause dreistündigen Abends gilt dann freilich dem Dichter Ödön von Horváth selbst. In verschiedenen Szenen und mit verschiedenen theatralischen Mitteln werden die letzten Stunden des Autors vor seinem Tod in Paris nachgespielt. Horváth wird von Todesahnungen gequält, eine Wahrsagerin hat ihm in Paris etwas Gewaltiges prophezeit, er hofft auf einen Geistesblitz für seinen geplanten Roman „Adieu, Europa“, geht spazieren und muss dringend aufs Klo. Um sich zu erleichtern, sucht er schließlich ein Kino auf, wo gerade Walt Disneys „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ gespielt wird. Das gibt dem Ensemble die Gelegenheit, das Märchen voll ironisierend auf blinkenden Rollschuhen fahrend sehr frei zu realisieren.

Später sind wir in einem Straßencafé, wo der Autor den Regisseur Robert Siodmak trifft, um mit ihm über die Verfilmung seines Romans „Jugend ohne Gott“ zu sprechen. In Wirklichkeit quatsch aber fast ununterbrochen seine Assistentin, eine geborene Österreicherin, die eine Rede auf die Verkommenheit der Wiener und deren Besessenheit von ihrer Verdauung hält.

Bis Horváth dann am 1. Juni 1938 bei einem Gewitter auf den Champs-élysées von einem Ast erschlagen wird, ergeben sich noch zahlreiche Möglichkeiten für Tanzeinlagen und Gags. Dem Publikum scheint dieser literatur- und theaterkritische Abend – trotz einiger Leerläufe und Längen – durchaus gefallen zu haben, denn der Premierenapplaus war stürmisch.


KAROLINE UND KASIMIR – NOLI ME TANGERE, Uraufführung nach Ödön von Horváth
Ein Stück von Nature Theater of Oklahoma
Deutsch von Ulrich Blumenbach

Buchtipp – Michel Houellebecq, Vernichten

Der Literatur-Agent-Provocateur


Michel Houellebecq überrascht mit einem Familienroman. Eine Buchkritik von Helmut Schneider.


Ganz ehrlich – die letzten Romane des französischen Starschreibers Michel Houellebecq waren kein Vergnügen für Leser, blieb man doch stets völlig deprimiert zurück. Alter weißer Mann schimpft auf die Gesellschaft, deren Niedergang er zugegebenermaßen sehr beredt und kompromisslos seziert – dafür reichte es aber auch, die Standard-Kommentare zu lesen. „Vernichten“, der neue mehr als 600 Seiten starke neue Roman des Parisers, ist trotz des wenig hoffnungsvollen Titels und die nicht minder traurigen Vorkommnisse, die darin geschildert werden, aber anders. Denn Houellebecq zeigt uns, wie eine Familie irgendwie doch zusammenhält und das Wachkoma des Vaters zu bewältigen versucht und wie sogar eheliche Liebe in schwierigen Zeiten wieder aufzublühen vermag.

Der Plot: Paul ist ein gutverdienender Finanzexperte im Stab des französischen Wirtschaftsministers Bruno, der ihm fast ein Freund geworden ist. Seine Luxusmaisonette ist nur wenige Schritte vom Ministerium entfernt, seine ebenfalls im Staatsdienst arbeitende Frau Prudence sieht er seit 10 Jahren allerdings kaum noch. Sie haben sich auseinandergelebt und ihre Zeiten in der gemeinsamen Wohnung so getaktet, dass sie sich so gut wie nie sehen. Im Bett läuft sowieso schon längst nichts mehr.

Beunruhigend im Büro sind einige Cyberattacken auf den Wirtschaftsminister – ein Meme zeigt gar seine Enthauptung als perfekt gemachten Comic-Strip. Die Geheimdienste der freien Welt stehen vor einem Rätsel. Wir sind dabei mitten in einer heiklen politischen Situation – der Sanierer Bruno steigt zum starken Mann in Frankreich auf, weil der Präsident nach seinen 2 Regierungsperioden (unverkennbar Macron) jetzt einen Platzhalter bis zur wieder möglichen Kandidatur braucht. Der Roman spielt im Jahr 2027 und der tatsächlich als Präsident kandidierende Mann ist ein substanzloser Fernsehmann und Populist, der letztendlich nur gegen seinen geschickten jungen Konkurrenten von der Rechten gewinnt, weil die Terroristen vor der Wahl ein Massaker im Mittelmeer verüben.

Houellebecq zeigt uns in „Vernichten“, wie eine Familie irgendwie doch zusammenhält und das Wachkoma des Vaters zu bewältigen versucht. – ©Pensamento Porto Alegre 2016

Just da bekommt Pauls Vater einen Schlaganfall und fällt in ein Wachkoma, das heißt er versteht alles, was um ihn herum geschieht, kann aber nur blinzeln und bestenfalls den Finger bewegen. Die Familie – neben Paul gibt es noch die überzeugte Katholikin Cécile und den lebensfremden jüngeren Bruder Aurélien – findet sich um die zweite Frau des Vaters – die herzensgute, aber ungebildete Madleine – im großen Haus der Familie in der Provinz ein. Dabei war der alte Mann anscheinend ein führender Geheimdienstler, was er vor seiner Familie aber gut versteckt hatte. Bald wird klar: Wenn der Vater im Spital bleibt, wird er sterben, denn die Betreuung in den staatlichen Einrichtungen ist nach den Budgetkürzungen katastrophal – Houellebecq scheut sich nicht, diesen Umstand Euthanasie zu nennen. Also lässt die Familie – eingefädelt durch Céciles Ehemann, einen arbeitslosen Notar mit Verbindungen zur rechtsextremen Szene – den Vater aus dem Spital entführen. Die Ärzte erstatten sowieso keine Anzeige. Doch leider hat das Auswirkungen auf die helfende Krankenschwester, die längst zur Geliebten von Aurélien geworden ist und die noch dazu keine bleibende Aufenthaltsgenehmigung hat. Der erste Hammerschlag: Aurélien bringt sich um. Der zweite folgt wenig später. Paul geht nach längeren Zahnschmerzen endlich zum Zahnarzt und der hat sofort den Verdacht, dass bei ihm ein Mundhöhlenkrebs wuchert. Es folgt eine ziemlich detaillierte Schilderung der Behandlung durch Chemotherapie – eine komplizierte, aber lebensverlängernde Operation, die ihm das Kiefer und die Zunge kosten würde, lehnt Paul entschieden ab.

Schwere Kost also, doch schon vor der Erkrankung haben Paul und Prudence wieder zueinander gefunden, sie erleben einen zweiten Frühling in ihrer Beziehung – für Houellebecq eine Gelegenheit, wieder ein paar Sexszenen einzufügen. Die hätte man ehrlicherweise genauso wenig gebraucht wie die vielen Träume von Paul, die im Buch auftauchen. Früher hieß es unter Schriftstellern: Erzähle einen Traum und die verlierst einen Leser, aber Houellebecq kann sich das anscheinend leisten. Am Ende gewährt er dem Paar einen fast heiligen Frieden. Das ist dann echt berührend, wenn der Grantscherm der modernen Literatur die letzten innigsten Momente eines Ehepaars mit gröstmöglicher Anteilnahme schildert. Ein Houellebecq also, den man auch psychisch weniger gefestigten Lesern empfehlen kann. Die vielen Unwahrscheinlichkeiten und die doch ziemlich undifferenzierte Darstellung der Terroristen – wer sie sind, wird nie aufgeklärt – nimmt man da in Kauf.


Michel Houellebecq: Vernichten
Aus dem Französischen von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek
DuMont Verlag
ISBN: 978-3-8321-8193-2
622 Seiten
€ 28,80

Theaterkritik – Burgtheater, Jean-Paul Sartres Geschlossene Gesellschaft

Wo sind die Folterinstrumente?


Eine Theaterbesprechung zu Jean-Paul Sartres „Geschlossene Gesellschaft“ am Burgtheater.
Text: Helmut Schneider / Foto: Burgtheater/Horn


„Wo sind die Folterinstrumente?“ fragt Garcin den befrackten Einweiser, als er in den von einer Mauer umschlossenen Raum kommt, in dem sich nur ein langer Tisch, ein leeres Buffet und eine mannshohe weiße Gurke in der Anmutung einer Erwin-Wurm-Skulptur befindet. Der Kellner, der nie etwas bringen wird und sich mittels der meistens kaputten Klingel auch nicht rufen lässt, kann da nur grinsen ob der Naivität des Neuankömmlings. Sartres Hölle, in die nach und nach der Journalist Garcin, die Lesbe Inès und die reiche Gattin Estelle kommen, ist bekanntlich kein mittelalterliches Schauerbild. Die reinsten und schmerzhaftesten Qualen schaffen sich die Menschen immer noch am besten selbst oder im Austausch mit Leidensgenossen. „Die Hölle, das sind die anderen“ ist jener Satz aus Sartres „Geschlossene Gesellschaft“ den auch jene kennen, die das Stück nie gesehen haben.

Im Burgtheater lässt Hausherr Martin Kušej Sartres im Weltkrieg entstandenes Drama fast wie eine Komödie spielen – besonders Christoph Luser als Höllenknecht kann mit seiner trockenen distanzierten Spielweise souverän Lacher abstauben. Tobias Moretti als frauenverachtender Verräter der Widerstandsbewegung, Dörte Lyssewski als manipulative Geliebte und Regina Fritsch als Kindsmörderin müssen natürlich immer wieder ihre Sünden aufarbeiten. Aber auch sie entblößen sich bis zur Lächerlichkeit. Zumal sie längst nicht von ihrer Schuld überzeugt sind – Sartre kannte die Mechanismen der Selbsttäuschung zur Verhinderung jeglicher kognitiver Dissonanz nur zu gut. Kušej kann sein Publikum damit aber gut unterhalten, zumal er genügend Spannungsverstärker eingebaut und den Text gekürzt hat. Die Darsteller müssen etwa auf Kies gehen, was schön knirscht und immer wieder lässt sich ein bedrohliches Brummen vernehmen, das von Maschinen zu kommen scheint. Oft wird die Bühne um den Zuschauerraum erweitert, zumal während der gesamten Vorstellung das Saallicht aufgedreht bleibt. Der spannendste Moment ist jener als Garcin bemerkt, dass die Türe offen ist, er also gehen könnte. Natürlich bleibt er da, längst haben sich alle ihrem Schicksaal ergeben – die Hoffnung ist nicht einmal mehr eine Erinnerung.


Buchtipp – Wolfgang Hermann, Insel im Sommer

Wiedererwachen in der Provence


Helmut Schneiders Buchtipp: Wolfgang Hermanns Erzählung „Inseln im Sommer“.


Ein Mann leidet, denn sein minderjähriger Sohn war einfach so im Bett gestorben. „Die Angst überfiel mich wie ein Raubtier…“ – der Erzähler, ein Mitarbeiter an einer Universität in Wien, stürzt in eine schwere, langanhaltende Depression. Er reist nach Paris, wo er vor Jahren schon gelebt hatte. Aber die Stadt ist ihm zu laut, will zu viel von ihm und er kann nichts zurückgeben. Erst in der Provence, wo er ein befreundetes Paar besucht, findet er langsam wieder zu sich. Zumal er die Österreicherin Klara und ihre Tochter Maria kennenlernt und mit ihnen ein paar wundervolle Tage am Strand und am See verbringt. Klara ist Künstlerin – sie macht Skulpturen, die Töne erzeugen, wenn der Wind durch sie durchströmt – und sie hat ebenfalls eine unerfreuliche Geschichte mit ihrem Ex-Mann – ausgerechnet ein ehemaliger Mönch aus einem Zen-Kloster –, der sie stalkte, zu verarbeiten.

Hermann braucht nur knapp 70 Seiten, um eine Geschichte zu erzählen, die voller Emotionen ist. Wir leiden mit dem Vater, freuen uns, wenn er wieder ein Zipfelchen von Glück zu fassen bekommt und nehmen das ungewisse Ende doch als eine Verheißung besserer Tage.

Wolfgang Hermann wuchs in Dornbirn in Vorarlberg auf und studierte ab 1981 Philosophie und Germanistik an der Universität Wien. 1986 promovierte er mit einer Arbeit über Friedrich Hölderlin zum Doktor der Philosophie. Anschließend war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Wien. Seit 1987 ist er freier Schriftsteller. Er hat schon ein beachtliches Werk geschaffen – mit zahlreichen Romanen, Theaterstücken und Libretti. Zu einiger Bekanntheit gelangte er durch seinen Roman „Herr Faustini verreist“, dem noch einige Faustini-Romane folgten. „Inseln im Sommer“ ist ein empfehlenswertes Leseabenteuer.


Wolfgang Hermann, Inseln im Sommer – Erzählung
Czernin Verlag
ISBN: 978-3-7076-0754-3
74 Seiten
€ 17,-

Buchtipp – Wir sind das Licht, Gerda Blees

Verhungern in den Niederlanden


Gerda Blees‘ Roman über eine sektenähnliche Hausgemeinschaft „Wir sind das Licht“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.


Eines Nachts ist Elisabeth zu schwach zum Aufstehen und stirbt auf der Luftmatratze, auf der sie seit Monaten im Haus ihrer Schwester schläft. Weder ihre Schwester Melodie noch die beiden Mitbewohner Muriel und Petrus rufen einen Notarzt. Denn die vier nehmen seit Monaten kaum noch Nahrung zu sich, weil sie davon überzeugt sind, dass Licht, Musik und Liebe ausreichen, um einen Körper ausreichend zu versorgen.

Die Niederländerin Gerda Blees erzählt in ihrem Debütroman „Wir sind das Licht“ von einer seltsamen Wohngemeinschaft rund um die dominante Musikerin und Gruppenleiterin Melodie. Eines Tages haben sich die vier – angeleitet von obskuren Kursen und Videos im Internet – darauf geeinigt, dass Nahrung ihre Körper nur vom Wesentlichen ablenkt und behindert. Ihre Gemeinschaft nennen sie „Klang und Liebe“, ihre Zeit verbringen sie mit singen und meditieren. Der Tod der schweigsamen Elisabeth ruft dann freilich die Behörden auf den Plan. Der zuständige Arzt hält ihren Tod für nicht natürlich, der Pathologe stellt eine krasse Unterernährung fest. Die Polizistin Lisa, die selbst Probleme mit ihrer magersüchtigen Tochter hat, untersucht den Fall aufgrund des Verdachts auf unterlassener Hilfeleistung und nimmt Melodie, Petrus und Muriel in Untersuchungshaft. Die Beweisführung ist allerdings schwierig, da alle davon überzeugt sind, das Beste für Elisabeth getan zu haben. Nur langsam kommen bei Muriel Zweifel. Ob sie nach der Freilassung die Gruppe verlässt bleibt aber ungewiss.

Blees‘ Erzählweise ist dabei höchst kreativ. Sie lässt in jedem Kapitel andere Menschen, aber auch Dinge und Gedanken zu Wort kommen. So berichten etwa der „Tatort“, „Klang und Liebe“, ein Kugelschreiber oder die Eltern von Elisabeth aus ihrer Sicht. Zutage kommen toxische Beziehungen innerhalb der Gruppe – Muriel und Petrus sind in ihrer Psyche gefangen und können sich der manipulativen Kraft Melodies nicht entziehen. Petrus leidet an Wutanfällen, Muriel ist hochgradig entscheidungsschwach. Als Anregung diente der Autorin ein Zeitungsbericht über einen ähnlichen Fall. Allerdings hat Blees die Figuren neu erfunden. Sie schafft es aber, dass wir die Geschichte als erschreckend real und durchaus plausibel empfinden. Eine interessante, aber nicht leicht verkraftbare Lektüre.


Wir sind das Licht von Gerda Blees
Aus dem Niederländischen von Lisa Mensing
Erschienen im Zsolnay Verlag
ISBN: 978-3-552-07274-9
240 Seiten
€ 23,70

Theaterkritik: Ernst Jandl im Volkstheater

Großer Erfolg mit Ernst Jandl im Volkstheater


Das ging ja schnell: Kurz nach der Premiere wurde der Jandl-Abend „humanistää! eine abschaffung der sparten“ in der Regie von Claudia Bauer als einzige österreichische Produktion zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Dabei war das Volkstheater das letzte Mal 1970 bei der prestigeträchtigen Veranstaltung dabei. Nun: Dieser Jandl-Abend ist aber auch tatsächlich formidabel. Intellektuell fordernd und trotzdem höchst unterhaltsam.
Text: Helmut Schneider / Foto: Nikolaus Ostermann/Volkstheater


Der 2000 verstorbene Lyriker Ernst Jandl schrieb auch zwei sehr spezielle Theaterstücke, nämlich „die humanisten“ und die Sprechoper „Aus der Fremde“. In ersterem macht er sich über einen Bildungsbetrieb lustig, der sich an Selbstlob zu ergötzen pflegt. „Aus der Fremde“ ist gänzlich im Konjunktiv geschrieben und schildert das Leben eines Schriftstellers (er selbst) und seiner dichterischen Freundin (Friederike Mayröcker), die am Abend einen Gast empfangen.

Im Volkstheater wird gleich zu Beginn dieses Gastmahl auf einem Podest zusätzlich verfremdet, indem Dichterin und Dichter ständig von neuen Darstellern besetzt werden. Dazu gibt es Livemusik und Teile aus den „humanisten“ sowie zahlreiche Lautgedichte Jandls. Geradezu ein Publikumshit wird „ich was not yet/ in brasilien/ nach brasilien/ wulld ich laik du go“. Bekanntlich zelebrierte Jandl eine „heruntergekommene“ Sprache, der er freilich das Äußerste abverlangte. Nach zwei Stunden sind sowohl Jandl-Fans als auch Jandl-Neuentdecker restlos zufrieden mit dem voll Witz und Spielfreude agierenden Ensemble. Sollte man sich unbedingt anschauen!


Karten und Infos: volkstheater.at

Buchtipp: Uns zusammen halten, Mirthe van Doornik

Aufwachsen in prekärer Lage


„Uns zusammen halten“ von Mirthe van Doornik – oder vom Aufwachsen in prekärer Lage & zwei Schwestern in den Niederlanden. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.


Am Beginn des Romans ist Kine 11 und Nico 15 und die kleine Schwester bewundert die größere, die cooler ist und Menschen mit Blicken töten kann. Am Ende taumelt Nico nach den Anschlägen von Nine Eleven aus purer Angst vor Gefahren und Unglücksfällen durch ihr Leben, während Kine zu studieren beginnt und im Job erfolgreich ist. Dazwischen das Drama eines Aufwachsens in höchst schwierigen Verhältnissen in einem Sozialghetto mit einer alkoholkranken Mutter, die bis zuletzt das Bild einer intakten Familie aufrecht erhalten will. Tageweise gibt es nur Nudeln mit Ketchup, manchmal ist gar nichts Essbares da, wenn das Geld nur noch für die Weinflaschen reicht, die die Mutter bis zum Abend braucht. Der Vater lebt längst woanders und kann nur sporadisch aushelfen.

Mirthe van Doornik arbeitet als Dokumentarfilmerin, der Roman „uns zusammenhalten“ ist ihr autobiografisch gefärbtes Debüt und ein Buch, das von Beginn an berührt. Doornik erzählt die Geschichte abwechselnd aus der Perspektive von Kine und Nico und trotz der vielen sozialen Katastrophen mit einem lakonischen Humor. Es wird klar was es heißt, nicht am allgegenwärtigen Wohlstand in einem der reichsten Ländern Europas teilhaben zu können – etwa mit aus den Sammelstellen für die Dritte Welt aufgeklaubten Kleidern in die Schule zu gehen oder im Supermarkt klauen zu müssen. Mutter Nina versucht immer wieder ihren Kindern auch etwas zu bieten. Sie gewinnen bei einem Bastel-Wettbewerb den Besuch im Disneyland oder machen einen Ausflug zu einer Hippiekolonie in Amsterdam. Zeitweise lebt ein Indianerfan in einem Tipi im Wohnzimmer bei ihnen. Aber die Tücken des Alltags holen sie immer wieder ein – Armut ist eine große Herausforderung und purer Stress.

Nach der emotionalen Stärke der Geschichte und der gelungenen erzählerischen Umsetzung müsste „uns zusammenhalten“ ein Bestseller werden.


„Uns zusammen halten“ von Mirthe van Doornik – oder vom Aufwachsen in prekärer Lage & zwei Schwestern in den Niederlanden.

Mirthe van Doornik: Uns zusammenhalten
Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann
Haymon Verlag
ISBN: 978-3-7099-8126-9
312 Seiten
€ 22,95

Ein halbes Jahr Musik

Ein halbes Jahr Musik


Musik-Streaming – Wie sich meine Hörgewohnheiten nach einem halben Jahr veränderten.
Text: Helmut Schneider


1976 gründete Richard Branson seinen ersten Plattenladen in der Londoner Oxford Street. In den 90er-Jahren – am Höhepunkt der CD-Welle – gab es in hunderten Ländern Virgin Megastores mit einem breiten Angebot an Musikträgern, auch in Wien existierte bis 2004 ein komfortabler Laden in der Mariahilfer Straße. Heute sind nur noch Reste des Megastore-Imperiums übrig, bekanntlich verdient der britische Milliardär und Abenteurer sein Geld heute unter anderem mit Weltraumtouristen. Denn wer Musik hören will, bedient sich jetzt meist eines Steamingdienstes.

Lange Zeit dachte ich, das wäre nichts für mich – vor allem weil ich der Qualität der Wiedergabe misstraute. Seit einem halben Jahr bediene ich mich nun eines Netzwerkplayers von NAD und eines Abos des angeblich hochwertigsten Musikstreaminganbieters Tidal. Das kostet bei Master-Qualität 20 Euro im Monat – aber sonst würde ich mich wohl jeden Tag fragen, warum ich mir in den Jahren eine hochwertige LINN-Anlage mit B&W-Boxen angeschafft habe. Wahrscheinlich werde ich nie wieder CDs kaufen, denn die Streaming-Qualität ist wirklich beachtlich. Bei Schallplatten sieht die Sache allerdings anders aus. Da schätze ich nach wie vor den „wärmeren“ Sound von Pressungen – vor allem von jenen vor dem Beginn der Digitalisierungswelle – ich kaufe daher fast ausschließlich gebrauchte Platten. 

Was sich am meisten geändert hat, sind allerdings meine Hörgewohnheiten. Ich mag beispielsweise Filmmusik. Der amerikanische Komponist Bernard Herrmann (1911-1975) ist für mich in diesem Bereich der Maßstab, kaum jemand kommt an ihn, der die großen Hitchcock-Erfolge oder Scorseses „Taxi Driver“ komponierte, heran. Ein Genre, das wohl nicht so viele Menschen schätzen, denn nicht alles ist auf CD lieferbar oder kostet viel Geld. Auf Tidal steht nun wirklich viel von ihm auf Abruf bereit. Zum Vergleich schaue man sich auch an, wie wenig vom zurzeit wohl besten Filmkomponisten Thomas Newman auf CD oder Vinyl bei Amazon oder jpc.de angeboten wird. Mein Lieblingsscore „Angels in America“ ist überhaupt nicht verfügbar, auf Tidal aber sehr wohl.

Das „auf Abruf“ ist für mich übrigens auch nicht unwichtig, denn wer viele CDs besitzt (und nicht sehr ordentlich ist), findet das Gesuchte nicht immer gleich. Aber natürlich: kein Vorteil, wo nicht auch ein kleiner Nachteil wäre. Dadurch, dass man mit einem Antippen sofort zum nächsten Titel springen kann, muss man sich zur Geduld, die nötig ist, um ein größeres Werk zu genießen, verpflichten. Deshalb habe ich mit ein paar Ausnahmen auch weniger Klassik als sonst gehört. Natürlich nahm ich mir vor, die verschiedenen Interpretationen eines Lieblingsstück wie etwa Monteverdis Marienvesper zu vergleichen – was jetzt problemlos möglich wäre – aber irgendwie kam es bislang nicht dazu. Dafür lief etwa das neue Album von Igor Levit (On DSCH) in Dauerschleife. Auch das Jazzrepertoire ist wirklich beachtlich, da werden sich wohl nur echte Nerds beschweren können.

Wie alle Streamingdienste arbeitet natürlich auch Tidal mit Algorithmen, das heißt die wissen genau, was ich wie lange höre und schlagen mir Ähnliches vor. Was mir aber oft wirkliche Entdeckungen beschert. Gut sind auch die Funktionen wie Liedtexte zum Mitlesen oder diverse Kurzbios der Künstler. Jetzt weiß ich etwa, dass der Filmkomponist Jonny Greenwood (grad auf Netflix zu sehen ist „The Power of the Dog“) Multiinstrumentalist bei „Radiohead“ ist. Herrlich ist es aber auch im Frühwerk späterer Berühmtheiten zu stöbern, wo vieles noch wunderbar direkt oder verspielt ist. Und gut ist auch die Funktion Download von Alben, denn so lässt sich – ohne eine große Telefonrechnung zu produzieren – im Schwimmbad auf dem iphone Musik hören.

Mein Fazit: Wer wirklich viel Musik hört, für den zahlt sich das teure Abo aus, wer aber nicht so eine hohe Qualität braucht, kommt auch mit günstigeren Diensten aus.