Die dunkle Seite des Villenviertels – Monika Fagerholms Roman „Wer hat Bambi getötet?“ über eine Gruppenvergewaltigung

Die finnisch-schwedische Autorin Monika Fagerholm ist in Skandinavien ein Literaturstar, hierzulande ist sie noch zu entdecken. Ihr preisgekrönter Roman „Wer hat Bambi getötet?“ wäre dazu die beste Gelegenheit. Denn Fagerholm schafft es, ein brutal-ernstes Thema fast spielerisch und ohne erhobenen Zeigefinger schockierend nah zu gestalten. Es geht um zwei Jungs aus dem Villenviertel von Helsinki. Gusten, dessen Mutter Opernsängerin ist und viel auf Tour gehen muss, wächst praktisch in der reichen Familie seines Freundes Nathan auf, wo er „wie ein Sohn“ behandelt wird. Doch als Nathan seine Freundin Sascha – nachdem sie ihn verlassen hatte – im schalldichten Keller des großen Hauses einsperrt und vergewaltigt, ist es Gusten, der sogar gegen den Wunsch des Opfers zur Polizei geht. Obwohl er ebenso wie zwei weitere Freunde Sascha auch vergewaltigt hatte. Der Prozess bringt die geschönte Welt des Villenviertels ins Wanken. Dabei werden die „schrecklichen Vier“, oder „Boys“, wie die Zeitungen sie nennen, freigesprochen, nur Nathan bekommt eine bedingte Verurteilung. Zusätzlich sozialen Sprengstoff bringt die Tatsache, dass Sascha im berüchtigten Mädchenheim Grawellska aufgewachsen ist, also ganz unten in der gesellschaftlichen Hackordnung steht und Nathans Familie viel zahlt, um Saschas Familie ruhigzustellen. Wenige Jahre später stirbt Sascha, die eine Karriere als Schwimmerin vor sich hatte, an einer Überdosis.

Gusten wird hingegen erfolgreicher Immobilienmakler, sein Verhältnis zu Frauen ist freilich gestört. Seine Liebe Emmy stalkt er auch nach dem Ende der Beziehung und er tröstet sich ausgerechnet mit Emmys weitaus klügeren Freundin Saga-Lill. Alles verkorkst irgendwie. Die Karriere von Nathans Mutter als Chefin eines neoliberalen Thinktanks ist nach dem Skandal in der Familie ebenfalls dahin – sie stirbt wenig später an einer Krebserkrankung.

Das schreckliche Geschehen packt Fagerholm allerdings in eine scheinbar ironisch-harmlose Sprache mit vielen Wiederholungen der Schlüsselsätze – auch in Versalien oder in kursiv. Sie breitet einen wahren Sprachklangteppich über die Katastrophe aus. Der Titel des Romans geht auf den Titel des Filmes zurück, den ein jüngerer Schulkollege über die Ereignisse zu drehen plant. Und der bezieht sich wiederum auf den Song der Sex Pistols „Who Killed Bambi“ Ende der 70er-Jahre.

Der Roman hat auch eine prominente Übersetzerin, nämlich Antje Rávik Strubel. Ihr Roman „Blaue Frau“ wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2021 ausgezeichnet. 


Die finnisch-schwedische Autorin Monika Fagerholm ist in Skandinavien ein Literaturstar, hierzulande ist sie noch zu entdecken.

Monika Fagerholm: Wer hat Bambi getötet?
Übersetzt aus dem Finnischen von Antje Rávik Strubel
Residenz Verlag
256 Seiten
€ 25,–

Johan Simons bringt Dostojewskis Roman „Die Dämonen“ ans Burgtheater

Die Stärke der vorrevolutionären russischen Literatur besteht darin, dass sie uns ein gnadenlos vielschichtiges Bild einer erstarrten Klassengesellschaft präsentiert. Die Mittellosen leben im Elend, die Reichen langweilen sich und die wenigen, die eine Veränderung wollen agieren brutal und kompromisslos. Sozialer Aufstieg findet nicht statt, denn durch Arbeit lässt sich nicht einmal der bescheidenste Wohlstand schaffen – die Besitzenden geben ihren Reichtum an Ihresgleichen weiter. Das ist auch für uns heute wieder spannend und relevant, weil wir uns offensichtlich unaufhaltsam wieder zu einer derartigen Gesellschaft hinbewegen.

Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821–1881) kannte seine Zeitgenossen allzu gut, bekanntlich landete er ja auch für Jahre im Straflager. In seinem fast 1000 Seiten starken Roman „Die Dämonen“ (zuletzt von Swetlana Geier in „Böse Geister“ übersetzt) lässt er von einem Erzähler zig Figuren auftreten, die die Brüchigkeit der russischen Gesellschaft offenlegen. Wie sich jetzt im Burgtheater wieder herausstellt, ist eine Adaption für die Bühne nur schwer machbar. Die Theaterfassung von Sebastian Huber (auf der Basis von Swetlana Geiers Übersetzung) bringt 11 Personen, die sich auf einem Gutshof in der Nähe von St. Petersburg versammeln, um ausgiebig zu schwadronieren. Man wartet auf den verlorenen Sohn Nikolaj Stawrogin (Nicholas Ofczarek), der einige Jahre mit Reisen durch Europa verbrachte. So nebenbei berichtet er zurückgekehrt, dass er in der Hauptstadt eine arme Minderjährige vergewaltigte, die sich danach das Leben nahm. Ein allzu schmerzhafter Hinweis darauf, wie wenig ein Menschenleben damals zählte. Quasi aus Sühne heiratete er die mittellose, hinkende Marja Lebjadkina (Sarah Viktoria Frick) – was den Heiratsplänen seiner Mutter natürlich im Wege steht. Die furchtlose, Reitgerbe-schwingende, reiche Lisa Tuschina (Birgit Minichmayr) wäre für ihn vorgesehen. In gut 4 Stunden (mit Pause) erleben wir viele Monologe und kaum Dialoge. Die mit Sessel– und Tischgruppen bestückte Bühne mit goldenem Hintergrund (Bühne: Nadja Sofie Eller) bildet dazu den Resonanzraum. Die merkwürdigen, weiten, bunten Hosen (Kostümbild von Greta Goiris) kontrastiert dazu. Am Ende zeigt sich Pjotr Werchowenski (Jan Bülow) im gelben Nazimantel als mordender Bote der grausamen Zukunft. Das exquisite und bemühte Ensemble kann freilich niemals vergessen lassen, dass uns hier Prosa für Drama verkauft wird.


Infos: burgtheater.at

Thomas Bernhards „Ritter, Dene, Voss“ in der Josefstadt

Dass Thomas Bernhard seine Wunschbesetzung 1986 zum Titel seines Stücks machte war zwar ein gelungener Marketinggag – die Peymann-Inszenierung mit Gert Voss, Kirsten Dene und Ilse Ritter war jahrelang am Burgtheater erfolgreich – doch nicht eben eine Ermunterung, das Drama mit anderen Schauspielern aufzuführen. Dabei ist „Ritter, Dene, Voss“ ein typischer Bernhard mit wenig Handlung und viel sprachlicher Bosheit. Es geht um drei Geschwister – der Bruder Ludwig, der sich für einen bedeutenden Philosophen hält, wurde gerade von seiner ältere Schwester aus Steinhof in die Villa in Döbling zurückgeholt. Jetzt bereitet sie mit viel Aufwand ein Abendessen vor, was die jüngere Schwester spöttisch kommentiert. Beide sind Schauspielerinnen im Theater in der Josefstadt, wo sie sich ihre Rollen aussuchen können, da ihnen der verstorbene Vater und Industrielle eine 51 Prozent Mehrheit sichern konnte. Das erzeugt natürlich Gelächter bei der Premiere in der Josefstadt, wo Peter Wittenberg eine Neuinterpretation  von „Ritter, Dene, Voss“ wagt.

Gespielt wird sozusagen im Museum – am Ende bittet eine Ansage über Lautsprecher alle Besucher das Haus zu verlassen. An den Wänden hängen große Gemälde von Gert Voss, Kirsten Dene und Ilse Ritter, die an diesem Abend allerdings für die Eltern der Geschwister stehen. Wittenberg setzt sonst allerdings keineswegs auf schnelle Gags – seine Inszenierung lässt sich Zeit, gerade im ersten Teil schaffen Sandra Cervik als ältere und Maria Köstinger als jüngere Schwester sozusagen einen meditativen Rahmen, in dem sich ihre unterschiedlichen Charaktere aneinander reiben können. Das mag für manche langweilig wirken, genauen Beobachtern wird der in ihnen steckende Irrsinn allerdings nicht verborgen bleiben. In Ludwig hat Bernhard viel aus der Biografie Ludwig Wittgensteins verpackt, wenngleich er seine Figur naturgemäß scheitern lässt. Bernhards Ludwig schreibt und schreibt und kann nichts veröffentlichen, während Wittgenstein bekanntlich schon in jungen Jahren mit seinem „Tractatus“ berühmt wurde.

Johannes Krisch spielt den Ludwig maximal unbeherrscht – bei der durch Voss berühmt gewordenen Branndteigkrapfenszene übergibt er sich fast. Ansonsten ist aber auch er durch den Regisseur zur Genauigkeit angehalten. Dabei geht viel Geschirr zu Bruch und die Gemälde werden oft umgehängt. Man glaubt ihm schließlich, dass er in Steinhof glücklicher wäre. Und die Schwestern? Sie sind zwar nicht geisteskrank, aber in ihren Routinen nicht weniger gefangen als Ludwig. Ein nachdenklicher Abend in der Josefstadt.


Infos: josefstadt.org

Cormac McCarthy mit gleich 2 neuen Romanen

Der 89-jährige Cormac McCarthy ist einer der letzten lebenden ganz Großen der US-amerikanischen Literatur. Mit „No Country for Old Men“, das von den Coen Brothers verfilmt wurde, gelang ihm ein Bestseller. Auch „Die Straße“ war ein Riesenerfolg und wurde verfilmt. 16 Jahre erschien nun nichts Neues von ihm, aber jetzt legt der öffentlichkeitsscheue Autor, der nördlich von Santa Fe lebt und am dortigen Institut für Physik mitarbeitet, gleich zwei Romane vor, die freilich zusammengehören.

In „Der Passagier“ geht es um Bobby Western, der sich nach einer spektakulären Rennfahrerkarriere, die ihm fast das Leben kostete, in den 80er-Jahren als Bergungstaucher in New Orleans arbeitet. Im Vorspann findet ein Jäger im Wald eine erhängte junge Frau – es ist Bobbys Schwester Alicia mit der ihm eine möglicherweise inzestuöse Liebe verband. Im Roman wechseln Kapitel über Bobby und Alicia ab, wobei jene über die Schwester insofern phantastisch anmuten, als Alicia von Zwergen heimgesucht wird, die ihr Stücke vorspielen und die mit ihr reden. Anführer ist ein Contergan-geschädigter Zwerg, der Flossen statt Hände besitzt. Beide Geschwister sind hochbegabt, besonders Alicia, die schon als Studentin mit der Weltspitze der Mathematiker diskutierte und die ihr Geigenstudium nur deshalb nicht zur Vollendung brachte, weil sie keine Zeit zum Üben hatte.

Bobby Western bekommt Probleme mit Unbekannten, nachdem er bei einem Tauchgang ein unversehrtes Flugzeug am Grund des Meeres entdeckt – laut Passagierliste fehlt aber ein Toter und die Blackbox ist ebenfalls nicht auffindbar. Nach und nach verschwinden seine Besitzungen wie ein Kater und sein Bankkonto wird gesperrt. Anscheinend glaubt man – das FBI? – dass er nicht alles sagt, was er beim Tauchgang gesehen hat. Dazu steht kein Wort über einen Flugzeugabsturz in den Zeitungen und sein Kollege verunglückt kurz darauf tödlich.

Aus diesem Kriminalfall werden Leser aber bis zum Schluss genauso wenig schlau wie Bobby, der sich nach und nach zu verstecken beginnt. Am Ende lebt er in einer Mühle auf einer Nachbarinsel von Ibiza. Was den Roman ausmacht sind aber weniger die losen Handlungsstränge als die Spiegelungen von Bobbys Gedanken und Empfindungen. Er hat den Selbstmord seiner Schwester nie verwunden, echte Freunde hat er keine, wohl aber einige seltsame Bekannte wie einen Dieb und einen Transvestiten. „Der Passagier“ erinnert stark an die frühen Romane von Thomas Pynchon wie „V.“ oder „Die Enden der Parabel“, in denen die Handlung verschlungen und nicht so wichtig ist.

„Stella Maris“ erschien kurz nach „Der Passagier“, spielt aber vorher, im Herbst 1972. Transkribiert lesen sich darin die Gespräche zwischen Alicia und ihrem Psychiater in der Heil- und Pflegeanstalt „Stella Maris“ in Wisconsin. Alicia hatte sich selbst eingewiesen. In den Dialogen wirkt sie freilich keineswegs verrückt, sondern eher übergenau in ihren Antworten. Der Psychiater will natürlich herausfinden, warum Alicia von Zwergen besucht wird, und fragt immer wieder nach ihrer Familiengeschichte. Ihr Vater war ein berühmter Physiker und Mitarbeiter Oppenheimers am Manhattan Project, also der Entwicklung der ersten Atombombe in Los Alamos. Alicia spricht ihn freilich von jeder Schuld frei, wenngleich sie die Atombombe als wichtigste Ereignis der Menschheit ansieht. Am liebsten berichtet Alicia freilich von mathematischen Problemstellungen – Gödel, Hilbert, Neumann aber auch Wittgenstein, Kant und Plato werden eifrig rezipiert. Wer damit nichts anfangen kann oder verzweifelt nach einer Handlung sucht, wird mit diesem Roman nicht glücklich werden. Die Dialoge sind aber bei einiger Sachkenntnis recht witzig und lesen sich auch flüssig. Ein Doppeldecker-Werk für Menschen, die formale Experimente nicht scheuen.


Der 89jährige Cormac McCarthy ist einer der letzten lebenden ganz Großen der amerikanischen Literatur. Seine zwei neuen Romane.

Cormac McCarthy: „Stella Maris“
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Rowohlt Verlag
240 Seiten
24,70 Euro

Der 89jährige Cormac McCarthy ist einer der letzten lebenden ganz Großen der amerikanischen Literatur. Seine zwei neuen Romane.

Cormac McCarthy: „Der Passagier“
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Rowohlt Verlag
526 Seiten
28,80 Euro

„Engel in Amerika“ am Akademietheater

„Angels in America“ von Tony Kushner war ein riesiger Broadway-Erfolg der 90er-Jahre, 2003 machte Mike Nichols daraus auch eine grandiose TV-Show mit Meryl Streep, Al Pacino und Emma Thompson – hier in Wien ist die Hans-Gratzer-Inszenierung mit Erich Schleyer in bester Erinnerung. Es geht um den Todeshauch von Aids in der Schwulenszene New Yorks in den 80er-Jahren, aber eigentlich um die politischen Umbrüche der Reagan-Ära sowie die Etablierung von sexuellen Minderheiten in der Mehrheitsgesellschaft. Ein neues Zeitalter – „Millennium Approaches“ heißt auch der erste Teil – bricht an. Aber natürlich geht es auch um Liebe angesichts einer schweren Krankheit.

Im Akademietheater inszenierte jetzt US-Regisseur Daniel Kramer, der im Programmheft von seinem Leben als schwuler Junge im Mittleren Westen erzählt, das Stück, das eben weit mehr als nur ein Schwulen-Kultstück ist. Die Bühne (Anette Murschetz) wird von schwarzen Särgen dominiert, die sich bald als multifunktional erweisen – sie sind Bett, Bar, Pissoir, Sitzbank. Eine wunderbar praktikable und stimmige Lösung. Dazu kontrastieren die verspielt-bombastischen Kostüme (Shalva Nikvashvili) – eine Dragqueen erscheint im Schwanenlook und die tablettensüchtige Frau des schwulen Mormonen als Bärin, ihr imaginierter Reiseleiter als Pille. Im zweiten Teil wächst ein riesiger rosa Ballon, der wie ein Virus aussieht, zu Bühnengröße an, ehe er platzt.

Das Burg-Ensemble (Markus Scheumann, Felix Rech, Nils Strunk, Annamária Láng, Bless Amada, Patrick Güldenberg, Barbara Petritsch, Safira Robens) agiert sehr spielfreudig – viele Szenen sind in der nötigen Dringlichkeit gespielt. Köstlich etwa Markus Scheumann als einflussreicher rechter Lobbyist und Anwalt Roy M. Cohn – eine historische Figur – der seine Homosexualität schlicht leugnet, denn „Homos“ haben keine politische Macht, also kann er keiner sein. Die Story selbst scheint Kramer weniger zu interessieren als die zugegeben gelungenen Einzelszenen, denn der Abend endet ohne Auflösung. Warum etwa die Mormonenmutter aus Salt Lake City anreisen muss, muss für Menschen, die nie das gesamte Stück gesehen haben, schleierhaft bleiben. Das an diesem Premierenabend durchaus jüngere Publikum schien es aber nicht zu stören – die Aufführung hatte durchaus Eventcharakter.


Infos: burgtheater.at

Von Teheran nach Neukölln – Der Gangsterroman „Hund Wolf Schakal“ von Behzad Karim Khani

Der Berliner Bezirk Neukölln war in den 90er-Jahren das migrantische Problemkiez der Stadt – Revierkämpfe im Drogenmilieu, Überfälle und Gewalt standen auf der Tagesordnung. Und gerade hierher verschlägt es eine persische Rumpffamilie mit Vater Jamshid und den beiden Söhnen Saam und Nima. Die Mutter war in Teheran im Gefängnis umgebracht worden – ein Schicksal, das dem Kommunisten Jamshid ebenfalls drohte. Von Deutschland erwartet er nicht viel – ein bescheidenes Leben als Taxifahrer genügt ihm, sein Herz blieb ja sowieso in der Heimat zurück. Anders natürlich Saam und Nima, die zunächst einmal das Mobbing in der Schule überleben müssen. Da gewinnt der ältere Saam quasi als Beschützer einen libanesischen Mitschüler als Freund – Heydar wird sein Mentor. Denn in dessen Familie werden Dinge ganz anders gelöst – was man nicht hat, wird einfach organisiert, die deutschen Gesetzte scheinen für sie nicht zu gelten. Und mit der Zeit wird Saam ein echter Player im Einflussbereich dieser Sippe.

„Hund Wolf Schakal“ ist der Debütroman von Behzad Karim Khani, der in Berlin als Betreiber der Lugosi-Bar eine fixe Größe im Nachleben ist. Der Roman ist quasi auch die Aufarbeitung des eigenen Lebens, denn auch Khani war als 9jähriger nach Deutschland gekommen und hatte anfangs zwischen zwei Kulturen gelebt. Im Roman hat der jüngere Bruder Nima, der aufs Gymnasium geht, zwischenzeitlich eine Freundin aus reichem Haus. Er wird dort freundlich aufgenommen, der Vater sieht ihn als Exoten von dem er lernen und an dem er seine Liberalität unter Beweis stellen kann. Letztlich scheitert die Beziehung aber an den verschiedenen Lebensentwürfen – und weil man sich nicht wirklich füreinander interessiert. Saam aber landet nach einem gescheiterten Einbruch in einer Apotheke, wo er angeschossen wird, im Gefängnis. Er findet keinen Ausweg mehr aus der Gewaltspirale.

Behzad Karim Khanis „Hund, Wolf, Schakal“ ist ein rasanter Gangsterroman aus dem Berlin der Nullerjahre in dessen Zentrum ein Mann steht, der nirgendwo richtig hinzupassen scheint. Die Geschichte von Nima wird nur nebenbei erzählt, obwohl sie ebenso interessant wäre. Denn nach einer Ausbildung als Koch – wo er nur ausgenützt wird – dealt der klügere Bruder, und verdient natürlich ungleich mehr Geld. Aber Khani soll ja schon an einem zweiten Roman schreiben.


Der Berliner Bezirk Neukölln war in den 90er-Jahren das migrantische Problemkiez der Stadt – Revierkämpfe im Drogenmilieu, Überfälle und Gewalt standen auf der Tagesordnung.

Behzad Karim Khani: Hund, Wolf, Schakal
Hanser Berlin
288 Seiten
€ 24,70

Andrés Barba: Die leuchtende Republik – Ein verstörender Roman über Halbwüchsige aus dem Dschungel Argentiniens

Da tauchen plötzlich 32 Kinder in der Provinzstadt San Cristóbal im argentinischen Regenwald auf und bringen die Gesellschaft in Verlegenheit. Niemand weiß, woher sie gekommen sind, wo sie schlafen, wer ihre Eltern sind oder wie sich ihre vielen kleinen Gruppen organisieren. Sie betteln, aber sie scheinen nicht einmal die Sprache der Einheimischen zu sprechen. Als dann auch noch Kinder ganz normaler Bürger mit den fremden Kindern kommunizieren und einzelne verschwinden, startet eine Jagd auf sie und das Ende ist – wie schon von Beginn an vom Erzähler, einem im Sozialbereich arbeitenden Beamten der Stadtverwaltung, angedeutet – ein schreckliches. „Ich bin zwei Dinge, die niemals lächerlich sind: ein Wilder und ein Kind“, zitiert Andrés Barba für seinen Roman „Die leuchtende Republik“ als Motto Paul Gaugin. Am Anderssein der Kinder und der Fremden hat sich noch jede Generation abgearbeitet. Der in Madrid geborene und in Argentinien lebende Autor wirft uns mit seinem neuen Text gewaltig große Brocken zum Daran-Kauen zu.

Obwohl das Buch nur knapp mehr als 200 Seiten aufweist, gelingt es dem Autor mit diesem bereits mehrfach prämierten Text nämlich, viele Aspekte unseres Umgangs mit den „Anderen“ zu beleuchten. Dabei widersetzt sich das finale Schicksal der 32 Kinder
dem Beschreibbaren. Erst zwei Jahrzehnte später schafft es der Erzähler, die Ereignisse so zu berichten, wie er sie erlebt hat – und er ist sich dabei seines Unvermögens bewusst. Zumal auch seine Familie an den Folgen zerbricht. Manches lässt sich nicht einmal verdrängen. Und natürlich muss man als Leser einem Erzähler misstrauen, der zum Misstrauen aufruft. Auch seine eigene Schuld am Unglück bestreitet er nicht. Jegliche Gewissheit wird anscheinend vom schlammig-breiten Eré-Fluss, der die Provinzstadt begrenzt, mitgerissen.

 „Alles widersetzt sich dem Tod, dachte ich, von der Larve bis zum Mammutbaum, vom Eré bis zur Termite. Ich werde nicht sterben, werde nicht sterben, werde nicht sterben, das scheint der einzige wirkliche Schrei dieses Planeten zu sein, die einzig wirkliche gewisse Kraft“, heißt es an einer zentralen Stelle. Barba lässt uns mit seinem Chronisten nachdenken, die Übersetzerin Susanne Lange hat seine poetisch klare und direkte Sprache sauber aus dem Spanischen übertragen. Ein Text, der noch lange in Erinnerung bleibt.


Andrés Barba: Die leuchtende Republik
Aus dem Spanischen von Susanne Lange
Luchterhand
222 Seiten
€ 22,70

„Der Würgeengel“ von Luis Buñuel im Volkstheater

„Der Würgeengel“ ist ein Film aus dem Jahr 1962 von Luis Buñuel und galt schon damals als schwer zugänglich. Es muss also einen Grund geben, warum das Volkstheater gerade jetzt in einer Zeit, in der die Theater über mangelnde Auslastung klagen, diesen Stoff für sein Publikum anbietet. Ist es die auf die zwei Jahre Pandemie erinnernde Handlung? Da können nämlich ein paar Reiche nach einer Party ihr Haus nicht mehr verlassen ohne dass klar wird, warum. Schließlich türmen doch die Bediensteten der Reihe nach ohne Probleme. Eine soziale Anklage? Wer schließt hier wen aus?

Nun, nach dem Abend im Volkstheater ist man nicht wirklich klüger. Ein gut abgestimmtes Ensemble  spielt brav auf Effekte, allein die Figuren geben nicht viel her – ihr Agieren bleibt bedeutungslos. Am besten ist noch das surreale Bühnenbild, das der deutsche Bildhauer Tobias Rehberg für diese freie Film-Adaption kreiert hat. Regisseur Sebastian Baumgarten kann leider in keiner Phase des Abends vermitteln, wofür diese Party der Reichen, die sich plötzlich eingeschlossen wähnen, steht. Zusätzlich verwirrt sein Einfall, ein Theaterstück  Buñuels, nämlich die Shakespeare-Persiflage „Hamlet“, vor dem Vorhang quasi als Draufgabe zu spielen. Zu viel Meta, zu wenig Dramatik. Würde mich sehr wundern, wenn dieser Abend ein Hit würde.


INFO
volkstheater.at

Frau, Therapeuten, Maschine – ein verstörender Roman von Sophie Reyer

Andrea ist jung, steht kurz vor der Hochzeit mit ihrem sie liebenden Freund Sascha und arbeitet sehr gerne und erfolgreich als Architektin. Alles paletti, könnte man meinen – doch Andrea fühlt sich irgendwie fremd in ihrem Körper, ihrem Kopf. Ihre Therapeutin Linda bestärkt sie nach vielen Gesprächen dabei, ihren Stiefvater, der sie als Kind im Rahmen einer obskuren Sekte vergewaltigt hat, vor Gericht zu bringen. Dessen Verurteilung bringt ihr freilich keine Genugtuung, im Gegenteil – ihr Zustand wird immer schlimmer. Schließlich ist sie davon überzeugt, eine Maschine zu sein – eine zweite Andrea, nur dazu da, die schlechten Gedanken und Eigenschaften der echten Andrea aufzufangen. Therapeutin Linda hat ihrerseits eine lieblose Kindheit zu verdauen, mit einer stets wütenden und schlagenden Mutter.

„Ein Schrei. Meiner“ von Sophie Reyer ist ein Roman über gebrochene Frauen. Die Wienerin erzählt abwechselnd von Andrea und Linda, manchmal hat man das Gefühl, die zwei Figuren wären die zwei Seiten einer Medaille. Es geht um Seelenstände, Verletzungen und natürlich psychische Krankheiten – Andrea landet in einer Klinik. Oft weiß man als Leser freilich nicht mehr, wo der Wahn beginnt und die Realität endet – zwischendurch glaubt man sich in einem Horrorroman. Bis auf Linda und Andrea sind alle anderen Figuren mehr angedeutet als gezeichnet – Sascha ist in seiner Gutmütigkeit geradezu irreal. Der Tragisches berichtende Epilog liest sich dann wie eine Zeitungsmeldung.

„Ein Schrei. Meiner“ von Sophie Reyer ist sicher interessant für Menschen, die sich psychische Probleme nicht vorstellen können. Die Autorin unternimmt den Versuch, Verständnis für andere Lebenswahrnehmungen zu erzeugen.


R.E.M. Automatic for the People – als Pop-Alben noch wichtig waren

Oktober 1992: R.E.M., das Quartett aus Athens/Georgia, bestehend aus Bill Berry, Peter Buck, Mike Mills und Michael Stipe veröffentlichten ihr Album „Automatic for the People“ – und alle sprachen davon. Ja, das gab es damals noch – und natürlich sprachen nicht alle davon, sondern nur die, auf die es ankam in den Redaktionen, auf den Universitäten und in den Cafés. Die Sowjetunion war am Zerfallen, aber aus der anfänglichen Euphorie war ein ambivalentes Gefühl geworden: Alles wird besser, wir haben ewigen Frieden? Mitnichten – die Wölfe der Wall Street waren noch hungriger geworden und der Platz des himmlischen Friedens war bewachter denn je. Das Ende der Geschichte werden wir wohl nicht mehr erleben.

Michael Stipe, Texter und Sänger von R.E.M. will in „Everybody Hurts“ Mut machen und singt vom Durchhalten (When your day is night alone (hold on, hold on)/ If you feel like letting go (hold on)/ If you think you’ve had too much/ Of this life, well hang on) – aber die herrzerreißenden Gitarrenklänge konterkarieren den Text. Der Song ist wohl einer der tränendrückendsten der Pop-Geschichte.

Schon der erste Song „Drive“ wurde zu einem Hit und definierte die melancholische Stimmung des Albums (Hey, kids, where are you?/ Nobody tells you what to do, baby), es folgen Hymnen wie das kryptische „The Sidewinder Sleeps Tonight“ oder das nach Verlust klingende „Nightswimming“ (The photograph reflects, every streetlight a reminder/ Nightswimming deserves a quiet night, deserves a quiet night).

Der Albumtitel soll das Motto eines Restaurants in Georgia sein, der Stern am Cover, der wie der Schmuck für ein brutalistisches Bauwerk aussieht, soll einem Hotel in Miami entstammen – die Band war damals eben viel auf Tournee. Und dass sich der Bandname R.E.M. von Rapid Eye Movement, also dem schnellen Bewegen der Augen im Schlaf, das die Traumphasen anzeigt, herrührt ist vielleicht auch nicht mehr so bekannt.

Aber während sich viele Alben aus dieser Zeit ziemlich verstaubt anhören, klingt „Automatic for the People“ – so man in der richtigen Stimmung dafür ist (Der Herbst ist wohl kein schlechter Zeitpunkt dafür) – noch immer ziemlich frisch.