Würgeschlangen & andere Katastrophen – T. Coraghessan Boyles Endzeitroman „Blue Skies“.

In Florida endet die Hurrikansaison überhaupt nicht mehr, in Kalifornien gibt es dafür nur noch Sonne und dazu Waldbrände. Eine durchschnittliche amerikanische Familie muss im neuen Roman des US-Autors mit diesen und anderen Katastrophen umzugehen lernen. Nicht alle sind unvermeidlich. Dass sich etwa die studienabbrechende Tochter Cat in Florida eine Python zulegt, weil sie die Zeichnung der Schlangenhaut so toll findet, und sie mit der Schlange um den Hals als Influencerin durchstarten will, scheint nicht erst gefährlich, als sie Zwillingsmädchen bekommt. Und wenn ausgerechnet der mit einer Zeckenforscherin liierte Sohn Cooper zu spät seinen Zeckenbiss nach Studien im kalifornischen Valley behandeln lässt – obwohl sein Vater noch dazu Mediziner ist – schüttelt man wohl den Kopf als er dann eine Hand verliert. Aber Boyle kennt eben die Psyche seiner Figuren und damit unser aller Schwächen nur zu gut. Oft sind es ja gerade die kleinen Fehler und Unachtsamkeiten, die uns in den Abgrund blicken lassen. Am normalsten scheint noch Mutter Ottilie, die sich an der Küste auf einen geruhsamen Lebensabend mit ihrem Mann einrichtet. Cooper zuliebe steigt sie von Fleisch auf Insekten um, damit die Ökobilanz wieder stimmt. Auch Wasser setzt sie sparsam ein, obwohl sowieso längst alles vergeblich erscheint wenn ringsum Häuser durch Feuer zerstört werden.

Dem in Santa Barbara, CA, wohnenden Bestsellerautor T. C. Boyle kann man sicher nicht vorwerfen, jetzt erst auf die Ökowelle aufgesprungen zu sein. In seinen Romanen hat er die Umweltproblematik genauso oft behandelt wie seine anderen großen Themen Gewalt, Drogen, Sex oder überhaupt den American Way of Life. „Blue Skies“ ist auch keine Dystopie – denn leider sind einige der vom Autor beschriebenen Szenarien bereits eingetroffen. Warum der Roman unbedingt lesenswert ist: Boyle kann einfach verdammt gut erzählen und er hat ein wunderbares Gespür für Spannung. Wir erleben gerne die Kämpfe von „Normalos“ gegen die Auswirkungen der Klimakatastrophe und ertragen es, dass wohl manches bald auch unser Leben stark beeinträchtigen wird. Der Roman für Unerschrockene!

Am Montag, den 12. Juni, 20 Uhr, ist T. C. Boyle mit einer Lesung zu Gast im Theater im Park, im Schwarzenberggarten am Belvedere – Eingang Prinz-Eugen-Straße/Ecke Plößlgasse (Straßenbahnlinie D), Tickets: theaterimpark.at/programm-tickets


Würgeschlangen & andere Katastrophen – T. Coraghessan Boyles Endzeitroman „Blue Skies“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

T. C. Boyle: Blue Skies
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Hanser
400 Seiten
€ 28,80

Die Hölle ist eine Eliteschule in Wien – Tonio Schachingers Schulroman „Echtzeitalter“

Bei 600 Euro Schulgeld pro Semester bleibt man unter sich. Im Halbinternat Marianum bereiten sich die Kinder des gehobenen Wiener Bürgertums darauf vor, in die Elite einzutreten. Manche sind ja so reich, dass sie eigentlich ihr Leben lang keinem Brotberuf nötig haben. Tonio Schachinger lässt in seinem Roman den Schüler Till im Marianum, das allein aufgrund der topografischen Verortung als Theresianum leicht zu entschlüsseln ist, allerdings die Hölle autoritärer Erziehung erleben. Denn wer dort das Pech hat, den Dolinar als Klassenvorstand zu bekommen, lebt sozusagen in einer Enklave innerhalb der Schule. Beim Dolinar werden auch leichte Vergehen mit großer Härte bestraft und selbst außerhalb der Schule kann man als Schüler nie sicher sein, von ihm nicht beobachtet zu werden. Ist man bei ihm person non grata, wird man etwa gnadenlos ignoriert – nicht einmal die Mitschüler dürfen mit diesen Ausgestoßenen sprechen. Eine Isolationshaft ohne Ketten und Mauern.

Till hat freilich als Ausgleich ein großes Talent für ein bestimmtes Computerspiel und schafft es sogar international in die Top-Liga. Das ist sozusagen seine zweite Welt, in die er zeitweilig flüchtet. Er erreicht sogar eine Einladung zu einer Gameshow nach Shanghai. Aber natürlich muss er sich dieselben Fragen wie alle Pubertierenden stellen: Bin ich auch cool genug? Habe ich die richtigen Freunde? Wie komme ich bei Mädchen an? Liebt sie mich, oder doch nicht? Zwischendurch bekommen wir einen interessanten Einblick in die Welt der Wiener Reichen und Schönen. Die Schüler wissen ja nur zu gut, dass sie einmal ein Vielfaches von Dolinars Gehalt zur Verfügung haben werden. Auch Till erbt von seinem Vater reichlich.

Schachinger ist dabei ohne Zweifel ein Erzähltalent. Es gelingen ihm durchaus witzige Passagen. Die Beschreibungen von Computerspielszenen kann man ja auch überblättern, sie haben für die Dramatik des Romans keine Bedeutung. Und das ist auch die Schwäche dieses in den Feuilletons vielgelobten Romans. Man spürt als Leser nicht, worauf der Autor hinauswill. Die oft unterhaltsamen Beschreibungen ergeben kein Gesamtbild. Eine gut erzählte Lebensepisode ergibt noch keinen Roman. Warum erzählt er etwa seitenlang von einem peinlichen Schülerstreich oder dem Besuch des KZ Mauthausen? Das Lehrerekel Dolinar, der selbst immer zu spät kommt und dem die Kollegenschaft und die Schule viel zu lasch sind, wäre durchaus eine interessante Romanfigur – seine Lebensumstände werden freilich nur angedeutet. So bleibt am Ende des Menüs nur ein guter Geschmack, aber kein wohliges Sättigungsgefühl zurück.


Tonio Schachinger: Echtzeitalter
Rowohlt
368 Seiten
€ 24,70

Ein intellektueller Spaß mit einer berühmten Familie – Joshua Cohens Roman „Die Netanjahus“

Schreibt ein bekannter amerikanischer Autor ein Buch mit dem Titel „Die Netanjahus“ tendiert die Erwartungshaltung in Richtung Schlüsselroman (wobei bei einem solchen natürlich keine echten Namen verwendet würden). Noch dazu, wenn der Untertitel „Oder vielmehr der Bericht über ein nebensächliches und letztlich sogar unbedeutendes Ereignis in der Geschichte einer sehr berühmten Familie“ lautet. Der in Brooklyn lebende Joshua Cohen – Liebling der Intellektuellenmedien wie Village Voice und NYT – spielt natürlich mit unserer Gier nach Klatsch und Skandalen. Das heißt aber nicht, dass er am Ende doch noch Pikantes berichten würde. Doch bevor die „Netanjahus“ tatsächlich ins Geschehen kommen, ist das halbe Buch um.

Seine Hauptperson und Erzähler ist ein Historiker namens Ruben Blum, der das Pech hat in den 50er-Jahren, der einzige Jude in Corbindale – einer völlig unbedeutenden Universität am Rande des Staates New York – zu sein. Er ist noch dazu – eines der vielen Klischees, die Cohen genüsslich auftischt – auf Steuern spezialisiert („Eine Geschichte Amerikas in zehn Steuern“ ist eines seiner Bücher) und muss nicht nur wegen seines eindrucksvollen Barts jedes Jahr den Weihnachtsmann für das College spielen, sondern wird noch dazu bei allen Fragen betreffs Judentums um Rat gefragt, obwohl er sich längst als Amerikaner fühlt. Und da beginnt die Misere für ihn. Er soll auf Geheiß seines Rektors einen jüdischen Professor beurteilen, der sich am College beworben hat, und ihn sozusagen der Kollegenschaft präsentieren. Blum ist gar nicht begeistert, ist doch dieser Ben-Zion Netanjahu, wie er schnell herausfindet, bereits in ganz Israel verhasst. Er bekommt sogar regelrechte Warnungen vor diesem obskuren Historiker zugespielt.

Der taucht dann auch leibhaftig bei Blum auf – und zwar mitsamt seiner Mischpoche – also seiner rechthaberischen Frau und seinen drei ungezogenen Söhnen Jonathan, Benjamin und Iddo. Das bringt Chaos in das beschauliche Leben von Ruben Blum, der sehr zurückgezogen mit seiner Frau und pubertierenden Tochter in der Vorstadt lebt. Im Folgenden geht nicht nur der teure Farbfernseher zu Bruch als die Netanjahus um Geld für das Hotel zu sparen bei den Blums einziehen. Das ist zweifelsohne sehr lustig und wunderbar elegant erzählt. Schenkelklopferischen Klamauk darf man sich von diesem Roman allerdings nicht erwarten, Cohen handelt seitenweise die haarsträubenden Thesen von Ben-Zion Netanjahu über die Judenverfolgung und den Holocaust ab. „Die Netanjahus“ bleiben ein intellektueller Spaß, für

Joshua Cohen 2022 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde.

Die Figur des Ruben Blum erinnert laut Experten an den Literaturwissenschaftler Harold Bloom, der Cohen kurz vor seinem Tod vom Campusbesuch „eines obskuren israelischen Historikers Ben-Zion Netanjahu“ in New Haven erzählt hatte. Das letzte Kapitel des Romans stellt die geschilderten Geschehnisse dann noch einmal auf eine andere Ebene.


Otto Nicolais „Die lustigen Weiber von Windsor“ an der Wiener Volksoper

Foto: ©Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Der deutsche Komponist Otto Nicolai – nebenbei Begründer der Wiener Philharmoniker – vertonte Shakespeares Komödie „The Merry Wives of Windsor“ schon 44 Jahre vor Giuseppe Verdis berühmter „Falstaff“-Fassung. Seine Oper hatte 1849 Premiere und in der Musik hört man das natürlich auch. Längst nicht mehr klassisch, vielleicht noch eine Spur tomantisch, noch lange nicht Operette und sicher nicht Wagner-like – dafür aber mit einem großen Schuss italienischer Melodik. Die Arien machen Freude, schon die Ouvertüre hat Esprit.

In der Wiener Volksoper verlegte die junge niederländische Regisseurin Nina Spijkers gemeinsam mit Bühnenbildnerin Rae Smith die Handlung ins Wien des Jahres 1918 – als Frauen bald wählen und studieren durften. Im Finale entfaltet die aufmüpfige Tochter Anna (Lauren Urquhart) ein rotes Transparent mit der Forderung nach dem Frauenwahlrecht.

Aber auch sonst hat die Regisseurin die Handlung klug gestrafft und auf knapp 3 Stunden inklusive Pause gekürzt. Nicht beschnitten wurde freilich der Humor und die Komik. Da blicken und singen die beiden Strippenzieherinnen Frau Reich (Stephanie Maitland) und Frau Fluth (Anett Fritsch) aus einem riesigen Gemälde mit einer nackten Schönen heraus, während die stummen Männer – eher belämmert wirkend – ihrem Künstlertum frönen. Sie beschließen, dem alten Saufkopf und Wüstling Falstaff, der beiden verheirateten Frauen Liebesbriefe schreibt, eine Lektion zu erteilen. Für zusätzliche Dramatik sorgen ein krankhaft eifersüchtiger Ehemann und ein Gatte, der seiner Tochter Anna heiratswillige Verehrer aufdrängt.

Durch die große Spielfreude aller Mitwirkenden kommt niemals Langeweile auf, die Sängerinnen und Sänger sind stimmlich auf hohem Niveau und der Dirigent Ben Glassberg hat das fabelhafte Orchester bestens im Griff. Martin Winkler gibt den Rüpel Falstaff Charakter und JunHo You setzt seinen strahlenden Tenor als Liebhaber Annas ein. Eine sehenswerte Aufführung, die bei der Premiere gebührend bejubelt wurde.


Infos und Karten: volksoper.at

Das Patriarchat in Reinkultur – Anna Herzigs Roman „12 Grad unter Null“

Am Samstag, 20. Mai, wird Anna Herzig um 11.30 Uhr „12 Grad unter Null“ beim Literaturfestival Rund um die Burg präsentieren.

In dem fiktiven Land Sandburg wird ein Gesetz erlassen, das Männern für die Zeit, die sie mit Frauen verbracht haben, eine finanzielle Entschädigung zugesteht. Schließlich ist das ja Arbeit und die Frauen sollen endlich lernen, auf eigenen Beinen zu stehen. Die Vorsitzende des Hohen Gerichts in Sandburg hat damit kein Problem, denn sie hat sich ihr Leben lang von Männern ferngehalten. Das Ergebnis ist erwartbar brutal: Alleingelassene Frauen mit Kind werden noch zusätzlich von den Forderungen ihrer Ex-Partner belastet, das Kinderkriegen wird ihnen als Manipulation vorgeworfen. Frauen sind schlicht und ergreifend wertlos. Mehr noch: sie haben jetzt Frauenschulden bei den Männern.

Die 1987 als Tochter eines Ägypters und einer Kanadierin in Wien geborene Autorin und Künstlerin Anna Herzig stellt unsere Männergesellschaft auf die Spitze und entwirft mit Sandburg einen Staat, der die sonst eher versteckte Bevorzugung von Männern wenigstens offen bekennt. Das ist witzig und schrecklich zugleich, zumal Herzig ihren Roman gar nicht wehleidig oder gar anklagend anlegt. Es ist eben so wie es ist: Ihre Protagonistin Greta wird zuerst vom Vater und dann vom Partner unterdrückt. Das Gesetz gibt ihnen recht. Greta sucht – nicht wirklich erfolgreich – in ihrer Schwester Elise eine Verbündete, zumal ihr Kind wieder ein Mädchen ist.

Herzigs Roman „12 Grad unter Null“ ist dann am stärksten, wenn Familienszenen wie das gemeinsame Mahl in ihrer Absurdität Leserinnen und Leser verstören können. Die klare und einfache Sprache macht die Geschichte noch wirksamer.


Am Samstag, 20. Mai, wird Anna Herzig um 11.30 Uhr „12 Grad unter Null“ beim Literaturfestival Rund um die Burg präsentieren.

Anna Herzig: 12 Grad unter Null
Haymon Verlag
144 Seiten
€ 20,-

Eisbären – Dramolette im Schauspielhaus

Bild: ©Matthias Heschl

Am besten wäre es gar nicht mehr aufzustehen, nicht aus dem Haus zu gehen oder – Gott behüte! – andere Menschen zu treffen. Eigentlich ist es zu Hause doch eh ganz nett – und das Alleinsein vielleicht sogar die einzige Art von Freiheit, die einem heute noch bleibt… Im Wiener Schauspielhaus wurden jetzt vier „Dramolette zum Alleinsein“ uraufgeführt, die das Theaterkollektiv FUX in Auftrag gegeben hat. Eines der Stücke heißt „Oblomows Plan“ – nach dem berühmten russischen Verweigerer jeglicher Produktivität.

Wir sehen eine Bühne mit einem Podest und einem Minifoyer, einem Schaukelpferd und einem Passbuldautomaten – rechts mündet sie in eine Höhle und oben erinnert sie an einen Supermarkt. Zwischen den Geschoßen kann man mit einem Lift wechseln, der an und ab auch von einem Eisbären benutzt wird. Mit wechselnden Plakaten wird zum Einkauf für sich allein bei Billo geworben, eine Schnapswerbung verspricht glückliche Stunden und ein „Big Nothing Burger“ soll einfach gut schmecken. Mit „Don`t do it“ wird eine Sportschuhmarke parodiert. Immer wieder gibt es auch elektronische Musik zu hören und Menschen stellen sich an der Kassa an. Supermärkte und Einkaufszentren sind ja die Wärmestuben der Einsamen.

Die von Falk Rößler inszenierten Stücke kreisen um das Thema Isolation, wobei der Rückzug ins absolut Private durchaus – ironisch – als etwas Positives dargestellt wird. Wenn alle auf sich schauen, geht es doch allen gut, oder?

Der zweieinhalbstündige Abend ist trotzdem sehr vergnüglich und oft sogar witzig. Ein Performer, der nichts zu performen hat, eine Frau denkt über den armen Pluto nach, der grausam aus der Familie der Planeten ausgestoßen wurde. Viel zu schauen und vieles, das nachwirkt.

Aufführungen bis 19. Mai – Infos & Karten: schauspielhaus.at

Myczieslaw Weinbergs Vertonung von Dostojewskis „Der Idiot“

Bild : ©Monika Ritterhaus

Das Theater an der Wien zeigt am Museumsquartier Myczieslaw Weinbergs Vertonung von Dostojewskis „Der Idiot“.

Ein Zugabteil groß wie die Welt, könnte man in Anspielung auf Johannes Mario Simmels Jugendbuchbestseller die Inszenierung von Weinbergs Oper „Der Idiot“ durch den exilrussischen Starregisseur Vasily Barkhatov nennen. Denn der sich drehende Eisenbahnwaggon in der Mitte der Bühne ist das Zentrum dieses Abends im Museumsquartier. Am Beginn fährt Fürst Myschkin vom Sanatorium in der Schweiz nach St. Petersburg und erfährt vom Mitreisenden reichen Kaufmannssohn Rogoschin von der schönen Nastassja, der alle Männer verfallen sind – am Ende liegt dort die von Rogoschin ermordete Nastassja und Myschkin scheint wieder in Apathie zu verfallen.

„Der Idiot“ ist die sechste und letzte Oper des polnisch-jüdisch-sowjetischen Komponisten Mieczyslaw Weinberg, 1987 komponiert und damals höchst unmodern. Weinberg, 1919 in Warschau geboren, und wie sein Förderer Schostakowitsch sowjetischen Repressalien ausgesetzt, hat eine eigene, tonale Opernsprache entwickelt, die im Westen erst nach seinem Tod auf Verständnis stieß. Sein Kollege Thomas Sanderling, Dirigent Weinbergprophet der ersten Stunde, hatte sich längst vehement dafür eingesetzt, dass das Stück dem Vergessen entrissen und in voller Länge uraufgeführt werde. Erst 2013 wurde „Der Idiot“ in München uraufgeführt. Auch dafür schien ihm jetzt das Wiener Publikum zu danken, denn Sanderling wurde nach der österreichischen Erstaufführung heftig bejubelt. Er dirigierte das wieder famos spielende ORF Radio-Symphonieorchester Wien. Auch an den Sängerinnen und Sängern gibt es nichts zu bemäkeln.

In dreieinhalb Stunden erleben wir die Geschichte des Gutmenschen Myschkin in einer vergnügungssüchtigen, dekadenten, von Geld regierten Welt, in der die Lebedame Nastassja (Ekaterina Sannikova) im Kontrast zur bürgerlich guten Aglaja (Ieva Prudnikovaitė) gewinnt, um dann alles zu verlieren. Auch Dmitri Golovin als Fürst Myschkin kann seinen Tenor bravourös einsetzen.

Zugegeben, es ist nicht immer einfach, der Geschichte des „Parzival“ Myschkin zu folgen, zumal manche Züge der St-Petersburger-Szene irrational scheinen, doch die Widersprüchlichkeiten der russischen Gesellschaft von damals sind den unseren wohl nicht ganz unähnlich. Weinbergs Musik ist zudem sehr reizvoll und bietet immer wieder Neues zu entdecken. Dem Theater an der Wien ist etwas Besonderes gelungen.

„Der Idiot“ wird noch heute am 5. Mai und am Sonntag, 7. Mai, gezeigt.


Infos & Karten: theater-wien.at

Die Klimaschützerin beim AMS – Nadja Buchers Roman „Rosa gegen die Verschwendung der Welt“

Die Wiener Schriftstellerin Nadja Bucher debütierte 2013 mit dem Roman „Rosa gegen den Dreck der Welt“, in dem die ökologisch gestimmte Putzfrau Rosa mit Verve gegen Stromfresser, SUV-Fahrer und andere Umweltsünder ankämpft. Jetzt erscheint eine Fortsetzung. In „Rosa gegen die Verschwendung der Welt“ hängt die Protagonistin frustriert ihren Job an den Nagel, weil sie nicht länger bei hoffnungslosen Energieverschwendern putzen will. Das Angebot ihres Freundes Bertram, in seinem stets wachsenden Bioladen zu arbeiten, schlägt sie aus. Denn der ist ihr doch zu sehr Bobo-Unternehmer und Verbündeter seiner gutverdienenden Kunden geworden. Während andere von ihrem ökologischen Fußabdruck reden, will Rosa am liebsten gar nicht auftreten, sondern schweben. Ihre Wohnung ist spartanisch eingerichtet, ihr Energieverbrauch tangiert gegen Null, Strom hat sie sowieso abgemeldet. Dabei versorgt sie selbstlos ihre alte Nachbarin. Wie sich nach deren Tod herausstellt, ist die Nachbarin die Besitzerin des Mietshauses und Rosa braucht keine Miete mehr zu bezahlen.

Doch da Rosa arbeitslos gemeldet ist, bleibt ihr ein AMS–Fortbildungskurs nicht erspart. Bucher schildert genüsslich und detailreich die verschiedenen Kursteilnehmerinnen und -nehmer. Eine von ihnen macht dann Rosa – zunächst ohne ihr Einverständnis – zur Jeanne d’Arc der Umweltbewegung. Wie das Social-Media-Experiment entgleist, bestreitet dann einen Gutteil des wirklich sehr amüsant zu lesenden Romans, in dem man auch sehr viel über die gerade stattfindenden, das Klima ungünstig beeinflussenden Transformationen erfährt.

Nadja Bucher ist mit ihrem Roman eine Art moderner Bartleby gelungen, ihre Rosa will eben lieber nicht von den „Segnungen“ der modernen Welt profitieren. Am 19, Mai wird sie um 16.30 Uhr beim Literaturfestival „Rund um die Burg“ ihr Buch Roman „Rosa gegen die Verschwendung der Welt“ präsentieren.


Die Klimaschützerin beim AMS – Nadja Buchers Roman „Rosa gegen die Verschwendung der Welt“. Buchtipp von Helmut Schneider.

Nadja Bucher: Rosa gegen die Verschwendung der Welt
Edition Atelier
272 Seiten
€ 20,-

„Drei Winter“ – Schicksalsjahre in Kroatien im Burgtheater

Bild: ©Matthias Horn

Nach der Vertreibung der Nazis 1945, kurz vor dem Ausbruch des Balkankriegs 1990 und 2011, als Kroatien mit der EU über eine Mitgliedschaft verhandelt: wir sind jeweils mittendrin in einer kroatischen Familie in einem herrschaftlichen Haus, das ihnen die Kommunisten zugeteilt haben.

Die in England lebende kroatische Dramatikerin Tena Štivičić lässt in ihrem Stück „Drei Winter“ die Schicksalsjahre ihrer Heimat von einer Familie durcherleben. Es beginnt mit der Partisanin Ruža (Nina Siewert), die als Lohn für ihren Einsatz von den jetzt herrschenden Kommunisten eine Wohnung in einem Haus, in dem einst ihre Mutter als Dienstmädchen von den Besitzern rausgeschmissen worden war, einzieht und endet mit der Hochzeit der Enkelin Lucija (Andrea Wenzl), deren Zukünftiger das Haus im längst herrschenden Raubtierkapitalismus für sie erworben hat. Ihre Schwester Alisa lebt längst in London und kämpft schwer mit ihrem Erbe. Erst im Ausland ist sie sich ihrer kroatischen Herkunft bewusst geworden.

Die Autorin blickt auf die Ereignisse, die auch ihre eigene Familiengeschichte widerspiegeln, stets mit einer gehörigen Portion Ironie. Es soll immer besser werden, aber besser wird es letztendlich nur für die Mächtigen und die Besitzenden. Für die Zuseher ist es nicht immer einfach, sich in der Familiengeschichte zurechtzufinden, der Stoff, der fast 80 Jahre umfasst, wirkt episch, ja romanhaft. Aber zweifelsohne ist es gerade in Wien notwendig, sich endlich mit der wechselvollen Geschichte unserer südlichen Nachbarn zu beschäftigen. „Drei Winter“ von Tena Štivičić ist dafür eine gute Gelegenheit.

Martin Kušejs Inszenierung von „Drei Winter“ will mit Zwang aktuell sein – so mischt er Videos vom Ukraine-Kriegs mit historischen Kriegsfilmen und zeigt sie vor den jeweiligen Theaterszenen. Überhaupt stellt sich bei ihm Geschichte als eine Abfolge von Kriegen dar. Wobei manche Kriege eben sich in Verteilungskriege verwandelten. Das arbeitende Volk ist dabei immer auf der Verliererseite, die Familie kann nur durch eine Heirat mit einem undurchsichtigen Geschäftsmann ihren bescheidenen Wohlstand absichern.

Das Schauspiel-Team (u.a. Regina Fritsch, Tilman Tuppy oder Zeynep Buyraç) macht seine Sache gut, es gibt mehrere dramatische Höhepunkte. Ein fordernder, aber sicher lohnender Abend.

Alle Infos: burgtheater.at

Rumpelstilzchen überall – A.L. Kennedys Abrechnung mit Großbritannien

Die Schottin A.L. Kennedy ist gewiss eine der interessantesten Stimmen der Literatur. Und so verwundert es schon einigermaßen, dass ihr neuer Roman „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“ zwar bereits auf Deutsch erschienen ist, die Verlage auf der britischen Insel aber noch kein Interesse an einer Veröffentlichung gezeigt haben. Es kann ja wohl nicht sein, dass die bisweilen auch als Stand-up-Comedian auftretende Autorin zu kritisch für die britische Öffentlichkeit ist. Andererseits: Wurde nicht gerade ein Klimaaktivist zu 3 Jahren Gefängnis verurteilt, weil er in London eine Brücke blockiert hat?

Ihr aktuelles Buch hat es zweifelsohne in sich: Die Grundschullehrerin Anna muss in London erleben, dass ausgerechnet im Covid-Lockdown ihre ehemaligen Kumpel einer alternativen Comedie-Gruppe Jahrzehnte nachdem Anna ausgeschieden war vor Gericht kommen. In das „Unrule OrKestrA“ wie die für Streikende in den Thatcher-Jahren spielende Spaß-Truppe genannt wurde, hatte sich ein Polizeispitzel eingeschlichen, mit dem Anna sogar eine Liebschaft angefangen hatte. Als sie den nach Buster Keaton Buster genannten V-Mann auf offener Straße wiedererkennt, läuft sie ihm nach. Das ist aber nur ein Handlungsstrang, der allerdings durch Busters Lebensbeichte, die er ihr vor die Haustüre legt, ausführlich zu Wort kommt. Kennedy hat da fast einen Agententhriller eingewoben, denn Buster wird zum bisweilen kaum steuerbaren Killer, der Mädchenhändler und auch politische Verbrecher kaltblütig präzise ermordet. Dabei passieren allerdings auch Kollateralschäden.

Anna erzählt ihren Kindern in der Schule gerne das Märchen von Rumpelstilzchen, das bekanntlich als Gegenleistung von der Müllerstochter Unmoralisches – das erste Kind – verlangt. Für Anna sind alle, die sich an der Menschheit vergehen, einfach nur Stilzchen. Und Buster ist gewiss einer von ihnen.

Doch den größten Teil des Romans machen die Gedanken und Zweifel von Anna aus. Ihrem Sohn, der sich gerade anschickt, die Universität zu besuchen, liebt sie innig – ihren Liebhaber und Gefährten findet sie auch okay. Richtig vermissen tut sie ihn allerdings nicht als er im Lockdown auf seiner schottischen Heimatinsel festsitzt.

Über ihren Job als Lehrerin macht sie sich keine Illusionen: „Das Lernen im 21. Jahrhundert soll funktionieren wie die Erzeugung von Gänsestopfleber – man zwingt den minderwertigen Mais hinein und hält sie in Käfigen und gefügig. Man erntet den entstandenen Schaden und wirft den Rest des Kadavers weg.“  

Hat man die ersten 50 Seiten von „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“ einmal gelesen, entwickelt dieser Roman eine richtigen Sog. Man lauscht gerne der inneren Stimme von Anna, versucht sie doch die uns alle beschäftigende Frage nach dem richtigen Leben in immer falscher werdenden Zeiten zu beantworten.


Rumpelstilzchen überall – A.L. Kennedys Abrechnung mit Großbritannien: „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“

A.L. Kennedy: Als lebten wir in einem barmherzigen Land
Aus dem Englischen von Ingo Herzke und Susanne Höbel
Hanser
462 Seiten
€ 28,80