Zeitenwenden – „Ingolstadt“ im Burgtheater & „Ein Kind unserer Zeit“ in der Josefstadt

Die Josefstadt und das Burgtheater eröffnen ihre Saisonen mit Stoffen aus der Zwischenkriegszeit, die den folgenden nahen Umbruch schon vorausahnten. Ödön von Horváths Roman „Ein Kind unserer Zeit“ erschien erst postum. Der 1938 tragisch verunglückte Autor schildert darin die Wandlung eines Soldaten zum Denkenden. Stephanie Mohr hat den Text für die Bühne bearbeitet und lässt den Soldaten von vier Frauen – Therese Affolter, Katharina Klar, Susa Meyer und Martina Stilp – spielen. Das bringt zumindest Abwechslung, zumal ihre Stimmen sehr verschieden sind.

Dass die chauvinistischen Männersprüche dadurch gebrochen würden, lässt sich aber nicht feststellen. Wir erleben einen jungen Menschen ohne Talente, der zum Heer geht, weil er dort zumindest eine tägliche Mahlzeit erhält. Außerdem lernt er Ordnung und braucht nicht viel zu denken. Seinen hart als Kellner arbeitenden Vater verachtet er nur. Interessant ist, dass Horváth den Krieg als Überfall auf ein kleineres Land beschreibt. Man nennt es Säuberung und schreckt auch nicht vor Massakern an Kindern und Frauen zurück. Ausgerechnet der von allen bewunderte Hauptmann kann da nicht mehr mit – er rennt in eine Maschinengewehrsalve.

Desillusioniert und verwundet kehrt der Soldat zurück und versucht seine ehemals Angehimmelte zu finden. Am Schluss stellt er fest, dass er nicht in die Zeit passt.
Gerade dadurch ist er allerdings ein Kind seiner Zeit. Die Produktion funktioniert recht flüssig, bleibt allerding Dramatik schuldig. Es hilft nichts, der Text ist ein Roman mit allen seinen Beschreibungen und scharfen Kommentaren. Wir erleben sozusagen ein tolles Hörspiel auf der Bühne. Vielleicht sollte man es auch so vermarkten.

Marieluise Fleißers „Ingolstadt“ hatte schon in Salzburg Premiere. Ivo van Hove lässt ihre beiden Stücke „Fegefeuer in Ingolstadt“ und „Pioniere in Ingolstadt“ ineinander verschränkt spielen. Das eine die Geschichte einer ungewollten Schwangerschaft und eines Außenseiters, das andere eine Abrechnung mit der Brutalität des Militärs in der eigenen Zivilgesellschaft. Wir sehen einen sehr dichten Abend in dem die existenzielle Leere der Zeit sozusagen aus allen Poren der Figuren quillt. Niemand wirkt gefestigt, nicht einmal die Soldaten können sich in ihrer Befehlskette einrichten. Sie taumeln durch das Bühnenbild, das fast vollständig unter Wasser gesetzt wurde – wir sind ja an der Donau und es soll eine Brücke gebaut werden. Marie-Luise Stockinger gibt die richtungslose Schwangere, Jan Bülow den wasserscheuen Outlaw.

Van Hove setzt auf starke Bilder mit spiegelnden Transparenten und viel Dunkelheit – es scheint immer Nacht zu sein in Ingolstadt. Als junge Mädchen, die sich von den Soldaten Geld und Liebe erhoffen, agieren Lilith Häßle und Dagna Litzenberger Vinet. Eine auch von den Zuschauern sehr viel fordernde Produktion, die den Umbruch erlebbar machen will.


„Ingolstadt“ im Burgtheater
(Bild: ©Matthias Horn)

Bis 18. 10.

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„Ein Kind unserer Zeit“ im Theater in der Josefstadt
(Bild: ©Moritz Schell)

Bis 8. 2. 2023

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Identität und „Rasse“ entkommen wir nicht – Anna Kim: Geschichte eines Kindes

Eigentlich sind es 2 Kinder, um die es in diesem Roman geht und nicht – wie der Titel ankündigt – um eines. Denn die Erzählerin, eine Autorin aus Wien, berichtet nicht nur von einem Adoptionsfall in Wisconsin Anfang der 50er-Jahre, sondern in der Folge auch von der eigenen Kindheit als Tochter einer koreanischen Mutter und eines deutschen Vaters. In beiden Fällen geht es um Identität und tatsächlich auch um „Rasse“.

Das amerikanische Problem stellt sich folgendermaßen dar: Eine aus Österreich stammende Sozialarbeiterin setzt alle Hebel in Bewegung um den Vater eines gleich bei der Geburt von der Mutter zur Adoption freigegebenen Kindes zu finden. Denn der Bub hat „negroide Züge“ und eine dunkle Hautfarbe. Nun gab es in Wisconsin – das ist der US-Bundesstaat nördlich von Chicago – aber fast keine Schwarzen. Und die Mutter kann oder will nicht sagen, wer der Vater gewesen kein könnte. Man müsste annehmen, dass das auch völlig egal ist, zumal sich schnell eine – weiße – Familie findet, die das Neugeborene aufnehmen will. Doch die Sozialarbeiterin geht mit geradezu biblischem Eifer an die Sache heran und verfolgt die Kindesmutter so aufdringlich, dass sie bald schon Job und Untermietzimmer verliert. Ihr Argument: Das dunkelhäutige Kind würde in der weißen Gesellschaft von Wisconsin Schaden nehmen, es solle unbedingt beim mutmaßlich schwarzen Vater aufwachsen. Anna Kim zitiert seitenweise Berichte des Sozialamtes, die in ihrer Diktion an die Rassengesetze der Nazis erinnern. Schließlich wird die Sozialarbeiterin von ihren Vorgesetzten eingebremst und entlassen.

Dieser Fall auf den die Erzählerin während ihres Stipendiums in Wisconsin durch Zufall über ihre Zimmerwirtin – die Frau des damals adoptierten Buben – stößt, erinnert diese aber auch an die Probleme ihrer eigenen Kindheit, an das Aufwachsen als – asiatisch ausschauendes aber vollkommen deutsch/österreichisch sozialisiertes Kind. Auch in den USA wird sie natürlich immer über ihre Herkunft befragt. Und ihre Zimmerwirtin erklärt ihr immer wieder, wie wichtig die Herkunft sei. Ihr Mann – der einzige Afroamerikaner im Städtchen – habe sehr darunter gelitten, als einziges schwarzes Kind im Kindergarten sitzen zu müssen. Dazu kommt, dass die Eltern der Erzählerin eine schwierige Beziehung hatten und sie sich gegen die Mutter gewandt hatte, die dann wieder nach Südkorea gezogen ist.

Kim verknüpft geschickt die beiden Fälle. Die Erzählerin findet nämlich noch heraus, dass die Tochter jener Krankenschwester in Wisconsin in Wien Hietzing wohnt und auch noch gerne über ihre Mutter Auskunft gibt. Am Ende rätselt man als Leser freilich unweigerlich über den Anteil von Realität in diesem Roman, denn Anna Kim ist eben auch Tochter einer südkoreanischen Mutter und eines deutschen Vaters und ist in Österreich aufgewachsen. Der wunderbar sachlich-reflektierte Stil der Autorin lädt auf jeden Fall zum Nachdenken über Identität und das Aufwachsen als Vertreter einer Minderheit in einer Mehrheitsgesellschaft ein.


Eine junge Pastorin in Köln – Tamar Noort: Die Ewigkeit ist ein guter Ort

Eine junge Pastorin, der Gott abhanden kommt (da muss ich unwillkürlich an Erich Kästners Gedicht „Sachliche Romanze“ denken: „Als sie einander acht Jahre kannten/ (und man darf sagen: sie kannten sich gut), / kam ihre Liebe plötzlich abhanden. / Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.“) – das wäre eigentlich ein Thema, das mich als nicht religiösen Menschen überhaupt nicht interessiert. Aber das ist eben die Kunst eines guten Autors und in diesem Fall einer guten Autorin, etwas Uninteressantes so zu erzählen, dass es von der ersten Zeile an packt.

Die frisch ausgebildete Pastorin Elke passiert ihr Gottesverlust auch just im Kölner Karneval (den sie nicht versteht und hasst), als sie einer sehr alten Sterbenden das letzte Gebet sprechen muss und nicht kann. Sie fährt daraufhin zu ihrem Vater in die Provinz, wo sie aufgewachsen ist und wo ihr Vater nicht nur schon lange Pastor ist, sondern auch hofft, dass seine Tochter in seine Fußstapfen tritt – in der kleinen Gemeinde, die sie gut kennt. Mit dem Ort verbindet sie aber nicht nur gute Erinnerungen. Ihr Bruder ist dort als Jugendlicher ertrunken – sie war bei der angeheiterten Bootspartie dabei und hegt bis heute Schuldgefühle.

Aber statt in Diskussionen mit dem immer schwächer werdende Vater doch noch Gott zu finden, stürzt sich Elke sozusagen voll ins Leben – sie, die in Köln eigentlich einen Freund hat, trifft sich mit einem Jahrmarktsakrobaten – einen Motorradfahrer, besucht eine Freundin von früher und kümmert sich um den Papagei ihrer verstorbenen Tante. Es ist viel los in diesem Buch und es ist eindeutig diesseitig. Aber natürlich wird auch viel über das Leben und die verschiedenen Lebensentwürfe nachgedacht. Wer tatsächlich Gott sucht, wird freilich hier keine Antworten finden. Denn wie schrieb schon Ludwig Feuerbach: „Gott ist eine leere Tafel, auf der nichts weiter steht, als was du selbst darauf geschrieben.“


Spaß muss sein, auch in der Geschichte

Kleo auf Netflix – Spaß muss sein, auch in der Geschichte. Serientipp von Helmut Schneider.

Umbruchszeiten sind etwas ganz Besonderes in der Geschichte und der Zusammenbruch des Ostblocks war zweifelsohne die größte der letzten Jahrzehnte. An den Folgen, den vielen Fehlern (etwa den Oligarchenwahnsinn, um nur einen zu nennen), leiden wir leider noch immer. Und sogar dort, wo der Umbruch im Vergleich noch relativ gesittet stattfand wie bei der deutschen Wiedervereinigung sind die Wunden längst noch nicht verheilt.

Die neue Netflix-Serie KLEO spielt sozusagen im Auge des Orkans der deutschen Umbruchszeit, nämlich in Berlin als nach dem Fall der Mauer alles möglich schien. Während die deutschen Industriebonzen großspurig erklärten, sie würden die DDR in ein paar Monaten auf Vordermann bringen können, glaubten einige Ost-Bürger noch, sie könnten aus der alten DDR einen linken, liberalere Vorzeigestaat machen. In diesem Gemenge spielt die neue Serie.

Die ziemlich harmlos ausschauende Titelfigur Kleo (herrlich gespielt von Jella Haase) ist eine ehemalige Killerin des DDR-Apparats in einer Einheit, die es offiziell natürlich gar nicht gibt. Denn ihr Operationsfeld war der Westen. Dort räumte sie feindliche Spione und Überläufer aus dem Weg – in der ersten Szene gleich mit präpariertem Koks. Ihre Karriere nimmt allerdings noch vor dem Mauerfall ein jähes Ende als sie ohne zu wissen warum verhaftet und zu lebenslanger Haft verurteilt wird. Dabei ist sie doch das Enkelkind eines Stasi-Obersten. Als dann die DDR den Geist aufgibt, kommt sie aus dem Gefängnis und beginnt einen Rachefeldzug gegen alle, die für ihren jähen Absturz – im Gefängnis verliert sie auch noch ihr Kind – verantwortlich sind. Wobei das Problem besteht, dass sie bis zum Schluss im Dunkeln tappt. Damit aber nicht genug kommt ihr ein eher tollpatschiger westdeutscher Polizist auf die Spur. Ein Kampf jeder gegen jeden beginnt. Doch bei Kleo handelt es sich eben nicht um eine Action-Serie wie es sie zuhauf gibt, sondern um eine Komödie, bei der man auch auf historische Fakten wenig Rücksicht nimmt. So killt Kleo etwa den Stasi-Minister Erich Mielke obwohl der in Wahrheit viel später im Altenheim gestorben ist.  Im Vorspann wird freilich eingeblendet: „Dies ist eine wahre Geschichte, nichts davon ist wirklich passiert.“

Den Machern der deutschen Serie (Hanno Hackfort, Richard Kropf und Bob Konrad) ging es einfach um den Spaß. Und den hat man schon deshalb, weil man sich an dem nachgebauten 80er/90er-Jahre-Ambiente nicht satt schauen kann und weil dauernd neue – oft absurde – Wendungen in der Story auftauchen. Am lustigsten ist Thilo (Julius Feldmeier), ein verstrahlter, verkiffter Raver mit Topfschnitt, der in Kleos Abwesenheit in ihre alte Wohnung zieht. Hausbesetzung war ja das Ding der Stunde. Und Vincent Redetzki spielt einen schwer an Quentin Tarantino erinnernden Ex-Kollegen und Psychopathen, der mit schief sitzender Brille die Kränkung des kapitalistischen Siegs mit Laibach-Songs verwinden will.

Der Mann, der den perfekten Roman schrieb – Charles J. Shields, „Der Mann, der den perfekten Roman schrieb“

Der Mann, der den perfekten Roman schrieb – zum 100. Geburtstag von John Williams am 29. August

Als der US-Amerikaner John Williams 1994 mit 71 Jahren starb, gab es nur wenige Nachrufe und seine Romane waren kaum erhältlich. Heute gilt er als Musterbeispiel dafür, dass sich literarische Qualität doch durchsetzt. Nur leider nicht immer zu Lebzeiten der Verfasser. John Williams Leben bestand aus vielen kleinen Erfolgen und ebenso vielen Niederlagen. Als bitterarmer Texasjunge aus bäuerlichem Umfeld wurde er immerhin – nach Jahren als Radioreporter und dem Kriegsdienst als Funker auf Militärtransportflugzeugen am Himalaja – Professor für englische Literatur und mit seinem Briefroman „Augustus“ (halber) Gewinner des National Book Awards. Gekauft haben seine wenigen Romane nicht viele Zeitgenossen. Erst über eine Neuauflage seines College-Romans „Stoner“ in der Classic-Reihe der „New York Review of Books“ wurde er nach 2000 wieder bekannter. Allerdings stellte sich der große Erfolg auch wieder erst über Europa ein. Die französische Schriftstellerin Anna Gavalda war von „Stoner“ so begeistert, dass sie ihn übersetzte. Es folgten Ausgaben in Niederländisch, Spanisch, Italienisch und Deutsch. John Williams, der nur 4 Romane veröffentlicht hat – neben den beiden erwähnten auch den Roman „Butcher’s Crossing“ über eine Büffeljagd im 19. Jahrhundert und einen schwer lesbaren Erstling – wurde zum Kultautor.

Charles J. Shields hat Williams Biografie den Titel „Der Mann, der den perfekten Roman schrieb“ gegeben, denn „Stoner“ wurde 2007 in der „New York Times“ tatsächlich als „perfekter Roman“ beschrieben. Dabei ist „Stoner“ in der Nacherzählung wahrscheinlich einer der langweiligsten Romane überhaupt, denn es passiert nichts Spektakuläres. Aber es ist die hohe Kunst Williams, die aus einem durchschnittlichen Leben als Englischprofessor an einer unbedeutenden Universität eine Parabel für den Wert und die Würde eines Menschenlebens gemacht zu haben. In dem Roman – aber auch im Briefroman „Augustus“ – sind Sätze zu lesen, die so gut sind, dass man weinen könnte. In der klugen und ausführlichen Bio, die trotzdem nicht allzu akademisch daherkommt, wird Williams Leben mit dem seiner Romane gegengerechnet. Außerdem erfährt man viel über das Leben von Schriftstellern in den USA nach dem 2. Weltkrieg. Man war viel unter sich, traf sich etwa bei Sommerschreibkursen, wo man gut verdiente, die Alkoholikerquote war geradezu selbstzerstörerisch hoch, viele schwankten zwischen einem sichereren Leben als Lehrer und dem Druck als freier Autor mit der Sorge ständig Kurzgeschichten für Zeitschriften liefern zu müssen.  

Williams hatte sich schon früh damit abgefunden, seinen Lebensunterhalt als Hochschullehrer und Herausgeber einer Universitätszeitschrift zu verdienen, während es sein Schwager, der ebenfalls schrieb, es mit dem billigen Leben in Mexiko – dort kam man mit 100 Dollar im Monat gut über die Runden – versuchte. Alkoholiker und Kettenraucher waren sie natürlich beide. Wichtig bei Williams auch sein Provinzstatus, denn die sogenannte Ostküste sah hochmütig über alles hinweg, was nicht in New York oder Boston geschah – und Williams, geboren in Texas, war die meiste Zeit seines Lebens Professor in Denver, Colorado. Gesundheitlich angeschlagen kaufte er sich ein Haus in Key West in Florida als dort noch nicht gar so viele Touristen waren – allerdings hat ihm das schwüle Klima im Sommer dann doch nicht ganz behagt.

Der 100. Geburtstag sollte zum Anlass genommen werden, die 3 Romane Williams – so noch nicht geschehen – zu lesen. Ich muss gestehen, dass ich alle neuen Leser um diese Premiere beneide.


Charles Shields: „Der Mann, der den perfekten Roman schrieb“
Stoner‘ und das Leben des John Williams
Biografie
Aus dem amerikanischen Englisch von Jochen Stremmel
dtv
384 Seiten
26 €

Der Erfinder des Wutbürgers – Heimito von Doderer, Die Merowinger oder die totale Familie

Als 1962 die „Merowinger“ erschienen, war Heimito von Doderer der bekannteste lebende österreichische Schriftsteller, 1957 sogar eines SPIEGEL-Covers für wichtig befunden. Dabei war der Dichter bis zu seinem 50. Lebensjahr finanziell von seiner Mutter abhängig und erst 1951 mit der Veröffentlichung der „Strudlhofstiege“ einem größeren Leserkreis bekannt geworden.

„Die Merowinger oder Die totale Familie“ ist wahrscheinlich sein ungewöhnlichster Roman, für Doderer-Anfänger eignet er sich sicher nicht. Denn allzu oft scheint es, als ob Doderers Leidenschaften – für Geschichte, für Grobiane und für merkwürdige Zweierbeziehungen – mit ihm durchgegangen wären. Am Ende bekennt „Doctor Döblinger“, der sich im Roman als Verfasser desselben offenbart, einem Bekannten, der meint, das alles sei ein „Mordsblödsinn“: „Ja freilich, freilich Blödsinn!…Wie denn anders?! Und was denn sonst als Blödsinn?! Alles Unsinn –“

Vielleicht liest man die „Merowinger“ also weniger als Roman, denn als Spaß, den sich der Dichter einmal gönnen wollte. Und einige Szenen sind auch wirklich witzig und köstlich zu lesen, während er an anderen Stellen seine Leserschaft mit schlecht gereimten Versen und seitenweise Beschreibungen von Schlachten, Scharmützeln und Erbstreitigkeiten auf die Probe stellt.

Im Zentrum steht Childerich von Bartenbruch, ein mittelfränkischer Baron, der durch eine konsequente Heiratspolitik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – er heiratet sowohl die Witwe seines Vaters als auch die seines Großvaters – sehr reich wird, wobei er sich als Ahnherr des berühmten Geschlechts der Merowinger sieht. Dabei ist der kleine Mann, von Doderer als hässlich wie ein „trauriges Beutelchen“ beschrieben, nur in einer Sache top, nämlich in seiner Zeugungskraft. Nach dem Erlangen des Erbes setzt Childerich alles daran, eine totale Familie zu gründen. Childerich schafft es mittels Heirat und Adoptionen, sein eigener Vater und Großvater zu werden, sondern er wird auch, nach Abschluß der vierten Ehe, sein eigener Schwiegervater und sein eigener Schwiegersohn, der Vater seiner Geschwister, der Großvater seiner Kinder und der Onkel seiner Enkel.

Aber der erfolgreiche Erbe leidet leider an geradezu chronischen Wutanfällen, die er bei dem Psychiater Dr. Horn gegen üppiges Honorar zu kurieren gedenkt. Die gleich am Beginn des Buches beschriebene Therapie bei dem eine Nasenzange, lederbezogene Holzhämmer und ein Wutmarsch eine Rolle spielen und die im Zerschlagen von Porzellan endet, gehört zu den gelungensten Szenen des Romans. Der geschäftstüchtige Psychiater erfindet später noch ein Wuthäuschen, das es ihm ermöglichen soll, ohne viel Aufwand gleich mehrere Patienten zu empfangen.

Wer so viele Verwandte vor den Kopf stößt wie Childerich bekommt natürlich auch viele Feinde, die ihn am Ende mithilfe eines ausgerechnet Pippin – die historischen Merowinger wurden ja von den Karolinger unter Pippin entmachtet – heißenden Majordomus am Ende seiner Manneskraft berauben. Das alles wird, wie beschrieben, sehr barock erzählt. Interessant, dass ja seit einigen Jahren der sogenannte Wutbürger zum Phänomen wurde. Nun solche hat Doderer – wie man sieht – schon Anfang der 60er-Jahre beschrieben, auch wenn Childerich eigentlich ein Wutadeliger ist. Doch das Geschäft mit der Wut betreiben im Roman nicht nur Psychiater, auch andere Hausbewohner von Dr. Horn kommen auf die Idee, Wutbehandlungen anzubieten und sogar ein hoher Beamter zieht eine lukrative Nebenbeschäftigung auf, indem er Wutleidende Lederbeutel stechen lässt. Wutbürger gab es also längst vor der Erfindung der sozialen Medien wie wir bei Doderer lernen.

Am 21. September wird Chris Pichler im Café Landtmann beim D-Day für Doderer (19 Uhr) auch eine Szene aus den „Merowingern“ lesen.

Warten auf die Tochter – Kevin Barry, Nachtfähre nach Tanger

Die besten Verbrechergeschichten sind eigentlich Familiengeschichten. Man nehme etwa nur die legendäre TV-Serie „Die Sopranos“, in der wir eine typische italienischstämmige Durchschnittsfamilie in New Jersey erleben, die sich nur durch den speziellen Job Tonys von anderen Familien unterscheidet.

In „Nachtfähre nach Tanger“ erleben wir zwei alt gewordene irische Drogenschmuggler und Dealer Maurice und Charles in einem heruntergekommenen spanischen Küstenort, wo sie auf die Herumtreiberin Dilly warten – die Tochter einer der beiden Gauner. Warum das nicht so ganz sicher ist, wer der Vater ist, wird von Kevin Barry auf 200 Seiten dicht und poetisch erzählt. Die beiden erinnern sich an ihre Anfangszeit als Dealer, an die gemeinsame Kindheit, ihre Erfolge und Niederlage und ihre Liebe zu Cynthia. Maurice, der mit Cynthia verheiratet war, hatte seinen Freund ein Messer ins Knie gerammt als er erfuhr, dass Charles ihr Liebhaber war. Aber das ist längst verziehen und Cynthia einem Krebsleiden erlegen. Dazwischen liegen Jahre in Drogenabhängigkeit und in dem verzweifelten Versuch, sich eine bürgerliche Existenz als Hausvermieter aufzubauen. Ob sie die erhoffte Dilly tatsächlich treffen, sei hier nicht verraten – ein bisschen Spannung muss sein.

Der in Limerick geborene Kevin Barry beschreibt abwechselnd das Warten der alten Herren und ihre Lebensgeschichte. Seine Sprache ist dabei – wie die Übersetzung von Thomas Überhoff gut wiedergibt, hart und direkt. Der Autor macht da keine Gefangenen, schließlich stecken wir im Verbrechermilieu fest – Gefängnisaufenthalte inklusive. Ein exquisites, literarisches Lesevergnügen.


Warten auf die Tochter – Keviny Barry, Nachtfähre nach Tanger

Kevin Barry: Nachtfähre nach Tanger
Aus dem Englischen von Thomas Überhoff
Rowohlt Verlag
206 Seiten
€ 22,70

Wie in den 80er-Jahren alles begann – Jörg Fauser, Die Tournee

Wie in den 80er-Jahren alles begann – Jörg Fausers Romanfragment „Die Tournee“ aus dem Nachlass. Ein Buchtipp Von Helmut Schneider.

So richtig bekannt wurde Jörg Fauser leider erst nach seinem tragischen Tod 1987 mit 43 Jahren als Fußgänger nachts auf einer Münchner Autobahn. Ein großes Publikum erreichte er aber nie. Legendär wurde sein Auftritt beim Bachmann-Wettlesen in Klagenfurt 1984, wo die damals schon alten Großkritiker Marcel Reich-Ranicki und Walter Jens über ihn herzogen, während er – völlig stoisch bleibend die Kritik an sich abprallen ließ.

Dabei verfügte der 1944 geborene Schriftsteller und Journalist von Beginn an über einen literarischen Stil, der auch jetzt noch Bewunderung hervorruft. Mit scheinbar leichter Hand schaffte er Stimmungen und Personen, seine Dialoge lesen sich nie gekünstelt und in seinen Texten entsteht unmittelbar die Atmosphäre der geschilderten Zeit. Der Diogenes Verlag bringt seit einigen Jahren regelmäßig seine Werke wie die Romane „Rohstoff“, „Der Schneemann“ oder seine Reportagen – „Der Klub, in dem wir alle spielen“ – heraus.

Jetzt erschien mit „Die Tournee“ das letzte Werk, an dem Fauser bis zu seinem Tod arbeitete. Fertig wurde nur der erste Teil von insgesamt drei Teilen des Romans, in dem es um eine alternde Diva, die aus Geldmangel in einem Boulevardstück durch die deutsche Provinz ziehen muss, einen geplatzten Drogendeal in der Münchner Kunst-Szene, einen zwielichtigen Gauner, der aus Asien nach Deutschland flüchten musste und einen alten SPD-Funktionär mit Osterfahrung, der das Ende seiner nie stattgefundenen Karriere erleben muss, geht. Warum man das lesen sollte, obwohl die Geschichte abbricht noch ehe sie richtig angefangen hat? Weil Fauser mit diesem Fragment sozusagen die Stimmung der 80er-Jahre – die Schikimicki-Tage in München und den nicht nur politischen Stillstand in Berlin vor der Wende eingefangen hat. Was sind das auch für Figuren, die Fauser da entwirft. Etwa den durch die Trennung zu seiner Frau zum Galeristen gewordenen Guido Franck, der für seine abgesandelte Kunsthandlung ausgerechnet mittels Heroinhandel Geld beschaffen will. Durch seine Jahre in Istanbul in der einschlägigen Szene glaubt Guido, ein Auskenner zu sein. Die Jahre in Istanbul verbinden Franck auch mit seinem Autor. Fauser lebte selbst einige Zeit am Bosporus und war jahrelang drogenabhängig bis er 1972 den Ausstieg schaffte.

Im Anhang des Buches finden sich interessante Details zur Entstehung des Romans. Fauser war Redakteur beim legendären, von Enzensberger gegründeten, Magazin „Transatlantik“ und schrieb dort etwa eine Reportage über eine Theatertournee als er schon wusste, dass er den Stoff für seinen Roman brauchen würde. Belegt ist auch, dass Fauser sehr gut recherchierte – was ihn von vielen seiner Kollegen auch heute noch unterscheidet. Um die Szene beim Kirchentag in Frankfurt zu beschreiben, wo der Gauner als Pfarrer untertauchen muss, stieg er im Hotel ab, das er dann im Buch beschrieb. Die im Band abgedruckte Reportage über die Theatertournee zeigt auch ganz deutlich seine journalistischen Vorbilder – nämlich Gay Telese, der etwa mit seiner berühmten Story „Frank Sinatra ist erkältet“ einen neuen subjektiven, erzählenden Journalismus begründete. Schön auch das Zitat von Heinrich Heine, das Fauser seinem Roman voranstellt:

„Das ist schön bei uns Deutschen;

keiner ist so verrückt, dass er nicht

Noch einen Verrückteren fände,

der ihn versteht.“ (Harzreise)


Wie in den 80er-Jahren alles begann – Jörg Fausers Romanfragment „Die Tournee“ aus dem Nachlass. Ein Buchtipp Von Helmut Schneider.

Jörg Fauser: Die Tournee
Roman aus dem Nachlass
Diogenes
290 Seiten
€ 24,70

Weg mit den Lügen – Serientipp

Weg mit den Lügen! – In der TV-Serie „The Sandman“ (Netflix) wird das zur Katastrophe
Foto: Netflix

Die Comic-Verfilmung von „The Sandman“ soll eine der teuersten Produktionen von Netflix sein. Nun, die 2000-Seiten-Vorlage von Neil Gaiman gilt ja auch als sehr komplex. In den ersten Folgen der Staffel stellt sich freilich nicht wirklich ein Aha-Moment ein. Sicher, die Schauspieler sind exzellent und die Tricks auf dem neuesten Stand, einiges – wie die Szene mit dem Brüderpaar Kain und Abel – auch recht witzig, aber doch denkt man bald: alles schon gesehen. Aber dann kommt eben doch eine Folge, die einen umhaut, obwohl gar keine special effects aufgefahren werden, sondern „bloß“ höchste Schauspielkunst, eine grandiose Kameraführung und beste Regie. Vierzig Minuten in einem Diner werden zur Hölle.

John Dee, der Sohn des Mannes, der den Sandmann Jahre gefangen hielt, ist gerade im Besitz jenes magischen Rubins, der zu den Tributen des Traumkönigs gehört. Und dieser kann Wünsche erfüllen. Dee, gespielt von David Dewlis, der schon in der dritten Folge von Fargo höchst eindrucksvoll den Widerling gab, hat einen – auf den ersten Blick – sehr simplen Wunsch, nämlich die Menschen sollten nur noch die Wahrheit sagen dürfen, also das, was sie wirklich denken. Und das hat dann im Diner, wo Dee das ausprobiert, ganz fürchterliche Folgen. Wir sehen zuerst wie sich die Figuren – die Kellnerin, die eigentlich Romane schreiben will, der Koch mit dem sie liiert ist, obwohl sie beide damit nur gegen ihre Einsamkeit ankämpfen, und der junge Mann, der sich bei der CEO, die gerade mit ihrem jungen Ehemann im Diner ist, bewerben will – sehr zivilisiert unterhalten. Durch die Macht des Rubins tun sich aber schnell menschliche Abgründe auf – die Szene endet in einem Massaker und Dee kann sich nur trösten, indem er aus einem riesigen Kübel Eis löffelt. Wer hätte gedacht, dass die Wahrheit eine so destruktive Kraft entfalten kann?

Nun, in der Literatur ist das natürlich ein altes und großes Thema. Nur ein Beispiel: Javier Marias‘ Meisterroman „Mein Herz so weiß“ beginnt mit dem Satz: „Ich wollte es nicht wissen, aber ich habe erfahren…“. Aber wer nicht lesen will, dem bietet die Diner-Szene in „The Sandman“ grandiose Anschauung.


INFO

netflix.at

Schubert Mengen – von Otto Brusatti

Schubert Mengen – Kolumne von Otto Brusatti
Illustration: Berenice Darrer

Die Frage hat man schon so oft gestellt und sie quasi verzeihend-lächelnd zurückgenommen. Allein – wie schafften das die Großmeister überhaupt? Jene Komponisten, die nun Riesenbüsten in Konzertsälen haben oder starre Steinabbilder in Parks, die Straßennamen oder Festspielzyklen gewidmet bekamen! Schubert ist einer davon. Aber Vorsicht. Ein Nachrechnen, vor allem bei ihm, ebenso wie beim Händel oder Telemann, beim Haydn, Mozart, Beethoven oder Schumann wird nicht nur verblüffen, sondern gar verstören.

Werkverzeichnisse, also die Großabstraktion, täuschen auch. So verbergen sich etwa im Bach- oder im Köchelverzeichnis viele tausend Minuten an oft vielstimmigster Musik in Hinweisen, zusammenfassend und faktentreu, auf Millionen von Takten oder Noten.

Rund herausgesagt. Es ist nicht nachvollziehbar, wie dieser Franz Schubert seine rund 1.000 Kompositionen in etwa 18 Jahren geschrieben hat, selbst wenn im Genialen konzipiert. Unter diesen sind zudem Sammlungen oder Zyklen, sind mehr als ein Dutzend an Opernarbeiten, manche (obwohl kaum zu prägenden Hauptwerken geworden) beinahe im Umfang wie beim frühen Wagner. Aber – über 600 Lieder, Kammermusik, Sonaten, Symphonien, Messen, Chöre …

Allein um heute sein Werk bloß zu kopieren (vom Skizzieren, das er sowieso vergleichsweise geringhielt, nicht zu reden), bräuchte ein Notenprofi Jahre. Und es gibt bei Schubert fast keinen einzigen Schreibfehler. Aber er formulierte die Vokalmusik neu und gültig bis heute, er war perfekt in den Formen. Tja, er schloss schon mit 31 Jahren das Komponieren todesbedingt ab. Beethoven war zu dieser Lebenszeit erst am Durchbruch, selbst Mozart hatte in dem Alter noch ein Drittel seines Hauptwerkes vor sich.

Ein Exemplum bloß für den Kompositionsfuror, welchen dieser gern als gemütliches Schwammerl Tradierte aus sich herausließ; in Wien, in Untermiete, mit wenigen sozialen Kontakten lebend; aus den letzten Monaten, nur aufgezählt in Hauptwerken, die zum Größten der Kunst auf dieser Welt überhaupt zählen. Letztes Schaffensjahr: mehrere Riesensonaten, die Symphonie in C, Winterreise, ein Dutzend an Klaviergroßmusiken, Geistliches, das Streichquintett … (allein aus solchen Werken zusammengezählt, die Weltkulturerbe wurden: beinahe 17.000 Takte). Verstörend beinahe.