Buchtipp – James Scudamore, English Monsters

Die Schatten einer Erziehung


James Scudamores Internatsroman „English Monsters“ – ein Buchtipp von Helmut Schneider.


Das unbeschwerte Leben des zehnjährige Max wird jäh beendet, als er auf ein englisches Internat kommt. Bisher waren die Sommer vom herben Charme seines Großvaters bestimmt gewesen und den Rest des Jahres verbrachte er mit seiner Familie, die in hohen Wirtschaftsfunktionen überall auf der Welt zu Hause war, in Mexiko – dem aktuellen Betätigungsfeld seines Vaters. Wir sind in den 80er-Jahren, auf englischen Schulen sind körperliche Strafen endlich verboten – nicht aber in den sogenannten Elite-Internaten. Und auf ein solche muss Max jetzt, wenngleich dieses seine besten Jahre längst hinter sich hat. Es kommt, wie es in solche Institutionen fast immer kommt – auf Züchtigung folgt Missbrauch.

James Scudamores Roman „English Monsters“ (erschienen bei Hanserblau) ist die Geschichte einer nicht unproblematischen Freundschaft zwischen den Zöglingen und einer späten Rache. Aber nicht der sadistische Geschichtslehrer, der später sogar wegen Missbrauchs verurteilt wird, ist das eigentliche Problem der Freunde, sondern der sanfte Englischlehrer, der mit der Klasse Theaterstücke aufführt und das Vertrauen vieler gewinnt. Denn auch er pflegt zu seinen minderjährigen Lieblingen sexuelle Beziehungen, die oft auch noch später anhalten. Max – der Erzähler – ist nur Beobachter, das wahre Ausmaß des Missbrauchs erfährt er erst später von seinen Freunden.  „English Monsters“ ist abwechslungsreich und spannend erzählt, wir erleben wie die Schüler erwachsen werden und in ihre Jobs finden. Doch manche scheinen gebrochen – und der Neoliberalismus der Marke Magaret Thatcher tut sein übriges, um die Träume von Freiheit und Selbstverwirklichung zu zerstören. James Scudamore ist ein kluges Buch um ein zentrales Thema der britischen Klassengesellschaft gelungen, das auch literarisch überzeugt. Manchmal muss man sich vor den freundlichen Lehrern eben noch mehr fürchten als vor den sadistischen.


„English Monsters“ von James Scudamore
464 Seiten, € 22,00
ISBN: 978-3-446-26946-0

Buchtipp – Marilyn und Irvin Yalom, Unzertrennlich/Die Unschuld der Opfer

Über den Tod und das Leben


Marilyn und Irvin Yalom waren 65 Jahre lang „Unzertrennlich“. Kurz vor Marilyns Tod schrieben sie gemeinsam ein Buch über ihr gemeinsames Leben.
Text: Helmut Schneider


Als sie wusste, dass sie nicht mehr lange leben würde, wollte Marilyn Yalom mit ihrem Mann Irvin noch gemeinsam ein Buch schreiben, in dem sie ihrer beider gemeinsam verbrachtes Leben noch einmal reflektieren wollten. Ein Kapitel schrieb sie, das nächste Irvin. Leider waren die Schmerzen dann bald schon so groß, dass sie das in Kalifornien geltende Recht auf ärztlich begleiteten Suizid beanspruchen musste. Das letzte Kapitel musste der bekannteste lebende Psychiater und Romanautor alleine schreiben. Und er erkennt, dass Marilyn das Projekt vor allem als Hilfe für ihn nach ihrem Ableben unbedingt durchziehen wollte.

Dass die erfolgreiche Kulturpublizistin – unter anderem schrieb sie als erste Feministin ein Buch über die weibliche Brust und die Dame im Schachspiel – und der Pionier der existenziellen Psychotherapie – beide lange Zeit Professoren in Stanford – ein innig verbundenes Paar waren, konnten auch Außenstehende leicht beobachten. 2009 waren die beiden zu Gast in Wien, Irvin Yaloms Roman „Und Nietzsche weinte“ wurde bei der Gratisbuchaktion „EineStadt.EinBuch.“ verteilt, zuvor durften wir das Ehepaar in ihrem Haus in Palo Alto besuchen. Marilyn Yalom war in Wien bei allen Veranstaltungen dabei und hatte kein Problem unterstützend im Hintergrund zu bleiben.

In „Unzertrennlich – Über den Tod und das Leben“ können Leser vor allem Irvin Yaloms Leiden am Schicksal seiner Frau nachspüren. Dem Motto des Buches „Trauern ist der Preis, den wir zahlen, wenn wir den Mut aufbringen, andere zu lieben.“ stimmt er natürlich zu, in der Praxis fällt er nach ihrem Tod allerdings in das berühmte schwarze Loch. An das Begräbnis kann er sich kaum erinnern. Immer wieder ertappt er sich dabei, dass er ihr etwas erzählen will – ja ohne dieses Ritual scheint es für ihn gar nicht stattgefunden zu haben.

Dabei hatte Irvin Yalom wahrlich Erfahrungen mit dem Thema Tod. Als allererster Psychiater der Welt initiierte und begleitete Yalom sterbenskranke Menschen auf ihrem letzten Weg und beschrieb das auch in seinen Werken. Damals waren Psychiologen ja der Ansicht, dass es keinen Sinn hätte Patienten aufzunehmen, die in ein paar Wochen nicht mehr kommen würden. Und Yalom fand auch heraus, was Menschen den Tod leichter macht, nämlich ein Leben ohne Reue. Einfach gesagt: Wer das Gefühl hat, im Leben seine Ziele nach Maßgabe seiner Möglichkeiten erreicht zu haben, stirbt leichter. Zitat: „Je geringer die Zufriedenheit im Leben, desto größer die Angst vor dem Tod.“

Marilyn Yalom war das beste Beispiel dafür. Sie fand trocken, dass es keine Tragödie wäre mit 87 zu sterben – vor allem wenn man ein glückliches Leben mit vier Kindern und vielen Enkelkindern hatte. Beiden waren gerne und viel gereist, hatten viele Freunde und lebten immer in einer großen Gemeinschaft, in der sie sich geistig austauschten.

Marilyn Yalom war nicht nur eine sehr kluge frühe Feministin, sondern auch jemand, der Menschen zusammenbrachte. In ihrem letzten Buch hat sie die Erlebnisse von Menschen aufgeschrieben, die den Zweiten Weltkrieg als Kinder erleben mussten. In die „Unschuld der Opfer“ berichten sechs Zeitzeugen aus verschiedenen Nationen vom Trauma des Krieges. – allesamt Beispiele von erstaunlicher Resilienz. Und auch Merilyn selbst erzählt, wie sie die Kriegsjahre im sicheren Amerika erlebt hat. Trotzdem die erzählten Geschichten natürlich alle gut ausgehen, sind sie eine eindringliche Warnung nicht zu vergessen, was Traumata wie Krieg, Flucht und Gewalt gerade Kindern antun können.      


Marilyn Yalom
Die Unschuld der Opfer
Übersetzt von Holfelder von der Tann, btb
280 Seiten, € 12,40

Irvin D. Yalom/ Marilyn Yalom
Unzertrennlich
Übersetzt von Regina Kammerer, btb
313 Seiten, € 22,70

Theaterkritik – Pelléas und Mélisande

Symbolistisch direkt


„Pelléas und Mélisande“ im Akademietheater. Eine Theaterbesprechung von Helmut Schneider.
Fotos: Susanne Hassler-Smith


Maurice Maeterlincks Drama „Pelléas und Mélisande“ kennt man eigentlich nur in der Opernfassung von Claude Debussy. Das symbolistische Stück über einen Mann, der auf seiner Insel eine junge Frau findet, heiratet und dann zusehen muss, wie sie sich in seinen Bruder verliebt, scheint auch nur in Vermutungen und Andeutungen zu leben. Der US-amerikanische Regisseur Daniel Kramer brachte es jetzt in einer neuen Fassung und in einer Übersetzung von Alexander Kerlin im Wiener Akademietheater zur Premiere. Er arbeitete dabei vor allem mit drastischen Bildern. Die zarte, blonde, verängstigte Mélisande (Sophie von Kessel) steht dabei dem grobschlächtigen Golaud (Rainer Galke) gegenüber, der sie mit seinen riesigen Händen zu fassen versucht. Später sieht man auch noch seinen keulenartigen großen Penis, mit dem er die Puppe seiner Frau schändet. Sind wir da schon in einem Traum ohne Verdrängung? Schwager Pelléas (Felix Rech) passt da schon größenmäßig besser zu Mélisande. Die Schwiegereltern (Barbara Petritsch und Branko Samarovski) sehen dem Spiel ebenso traurig wie fassungslos zu. Und Stiefsohn Yniold, der sich als Mädchen fühlt (erfrischend: Maresi Riegner) und gezwungen ist, sein Leid als zum Jungen verdammter Thronfolger in einer Nebenhandlung darzustellen.

Eingerahmt wird das Ganze von einer Art Gameshow samt Showgirl. Hat es wirklich noch mehr Hinweise auf unsere sexistische Gegenwart bedurft? Dabei sind die Darsteller redlich bemüht, den Text glaubhaft wirken zu lassen. Allein, können sie damit in der aufgeladenen Stimmung auch durchkommen? Dem Premierenpublikum schien die zweistündige deftige Traumdeutung jedenfalls gefallen zu haben.


Buchtipp – Lena Gorelik, Wer wir sind

Als Fremde in Deutschland aufwachsen


Lena Gorelik erzählt in „Wer wir sind“ (rowohlt berlin) ihre Geschichte als hochbegabtes Kind.
Text: Helmut Schneider / Bild: rowohlt berlin


Es geht um Familie. Die Eltern könnten ihr Leben in St. Petersburg, das damals noch Leningrad hieß, durchaus ertragen – auch wenn sie als Juden immer wieder angefeindet werden. Doch das Kind, das soll es einmal besser haben. Und so wechseln sie nach Deutschland, wo der Akademiker und die Fabriksleiterin plötzlich im Flüchtlingsheim wohnen müssen und froh sind, einen Job als Putze zu bekommen. Das 11-jährige Kind ist auch in Deutschland bald die Klassenbeste, die neue Sprache lernt sie mühelos. Und bald schon kann sie eine Klasse überspringen – was sich als Fluch herausstellt. Jetzt wird sie nicht nur als Ausländerin, sondern auch als Streberin gemobbt, während die Familie alles, was deutsch ist, als besser wahrnehmen will. Zwischendurch gibt das Kind weiße Zettel als Klassenarbeit ab, um nicht immer als Beste dazustehen.

Lena Gorelik, die inzwischen in München lebt und auch Theaterstücke schreibt, hat schon mit 23 ihren ersten Roman veröffentlicht – „Meine weißen Nächte“ –, ihr neues Buch ist aber anders, man könnte auch sagen gereifter. Die Ich-Erzählerin ist eine genaue Beobachterin, die nicht nur überall Fremdenfeindlichkeit sieht und die immer wieder gezogenen Vergleiche mit dem Leben in Russland peinlich findet. Vor allem ihre Eltern, die mit Engelsgeduld und Unterwürfigkeit die Schikanen in ihrer neuen Heimat erdulden, kann sie lange nicht verstehen. Aber es gibt eben auch Glückserlebnisse. Etwa als eine gar nicht wohlhabende Deutsche ein paar Flüchtlingskinder übers Wochenende zu sich aufs Land nimmt, damit sie einmal in die Natur kommen.

„Wer wir sind“ ist ein kluges Buch über Heimat und Identität, das auch manches auslässt, was nicht zu benennen ist. Zitat:

„Zwischen den Zeilen lasse ich Platz. Für alles, was wir beschweigen, für den Respekt. Für alles, was uns zusammenhält.“


„Wer wir sind“ von Lena Gorelik
EAN: 9783644008786
320 Seiten, € 22,90

Theaterkritik – Alles, was der Fall ist

Wittgenstein auf der Bühne


Wittgenstein auf der Bühne: „Alles, was der Fall ist“ im Akademietheater.
Text: Helmut Schneider / Fotos: Marcella Ruiz Cruz


Heuer jährte sich im April der Todestag des einzigen österreichischen Philosophen von Weltrang. Wobei Ludwig Wittgensteins Einfluss wahrscheinlich noch immer überall sonst mehr anerkannt wird als bei uns. Besonders im englischsprachigen Raum bedeutete der „Tractatus logico-philosophicus“ eine Zäsur im philosophischen Denken.

Im Akademietheater nahm sich erfreulicherweise das Regie-Duo „Dead Centre“ (Ben Kidd & Bush Moukarzel) Wittgensteins an. Allerdings erschienen den beiden die zentralen Thesen des Philosophen aus der Erkenntnisphilosophie nicht so interessant. Sie machten aus dem Denken darüber, was überhaupt gedacht und beschrieben werden kann, ein Problem der Ethik.

ALLES, WAS DER FALL IST Dead Centre nach Ludwig Wittgenstein Akademietheater Uraufführung am 08.06.2021 Regie: Ben Kidd & Bush Moukarzel Bühne & Kostüme: Nina Wetzel Videodesign: Sophie Lux Sounddesign & Musik: Kevin Gleeson Licht: Marcus Loran Dramaturgie: Andreas Karlaganis Mit: Philipp Hauß, Alexandra Henkel, Andrea Wenzl, Tim Werths, Johannes Zirner Live-Kamera: Mariano Margarit

Konkret zeichneten sie mithilfe einer Green Box sowie Videotechnik den realen Fall der Amokfahrt eines Jugendlichen in Graz 2015 nach – immer betonend, dass man aus den Tatsachen nicht die Ursachen der Wahnsinnstat ablesen könne. Von der Steiermark geht es da etwa in den Grenzwald von Bosnien, wo sich die Familie des Attentäters 1993 zur Flucht aufmachte. Dazwischen werden Szenen aus Macbeth eingestreut, in denen es ebenfalls um gut oder böse geht. Aber natürlich kann auch Shakespeare sich im Sinne der Logik nicht exakter ausdrücken als die Flüchtlingsfamilie.

Philipp Hauß gibt dabei den Erzähler und Arrangeur, der im Puppentheater die Szenen aufbaut. Andrea Henke, Andrea Wenzl, Tim Werths und Johannes Zirner spielen wechselnde Rollen, zwischendurch auch Shakespeares Hexen. Das ist streckenweise sehr unterhaltsam, die einfachen optischen Effekte entfalten durchaus Wirkung. So wirklich schlau wird man aus den Ideen aber nicht. Am Ende heißt es dann aber sowieso erwartungsgemäß „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.“


Satire

Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung


wienschraeg. Ein Beitrag von Walter Posch.


„Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung“ lautet der Titel des Klassikers von Jakob Michael Reinhold Lenz, in dem der Stürmer und Dränger die Schulmisere des 18. Jahrhunderts sehr drastisch thematisiert und in dem die Protagonisten kopulieren, geschwängert werden, sich duellieren, sich zu ersäufen versuchen, sogar sich kastrieren.

Erfreulicherweise hat sich das Prekariat der Lehrpersonen seither stark verändert, wenngleich die Versuche, die Berufsgruppe zu reglementieren und das eigene Scheitern an ihr abzureagieren, immer wieder fröhliche Urständ feiert.

So wird es verständlich, dass die solcherart sich gedemütigt und übergangen fühlende zuständige Gewerkschaft seit einiger Zeit den ministeriellen Entwurf für neue Lehrpläne für die Pflichtschulen „mit Nachdruck“ ablehnt. Aus ähnlicher Frustration hat auch der Autor das „ß“ seinerzeit aus seiner Tastatur verbannt.

Insbesonders stösst sich die Gewerkschaft an der Umbenennung der Fächer „Musikerziehung“ zu „Musik“, „Bildnerische Erziehung“ zu „Kunst und Gestaltung“ et cetera, weil sie im neuen Fächernamen den Begriff „Erziehung“ vermisst.

Auf ORF.at vom 18. Mai kommt die gewerkschaftliche Kritik so daher:

„Bei der Änderung von Fach- und Gegenstandsbezeichnungen, welche unabdingbar mit der Modernisierung der Lehrpläne in Bezug gebracht wird, ist auf den wichtigen Begriff ‚Erziehung‘ (…) zur Gänze verzichtet worden (exemplarisch: Bildnerische Erziehung wird zu Kunst und Gestaltung)“, monieren die Lehrervertreterinnen und -vertreter in ihrer Stellungnahme.

Nun mag man das Ministerium ob seiner Begutachtungsentwürfe kritisieren, nicht immer sind diese „Literatur“, aber im gegenständlichen Fall scheint da mit Verweis auf Lenz und dessen Erziehung ein Rollentausch zwischen Obrigkeit und Rechtsunterworfenen stattgefunden zu haben, abgesehen von Verbesserungen, den Spracherwerb betreffend, der nicht nur Schüler*innen mit mangelnden Deutschkenntnissen zugutekommen würde, sondern auch zukünftigen Pflichtschulgewerkschafter*innen offensteht.


Buchtipp – Keith Gessen, Ein schreckliches Land

Ein Idiot in Moskau


Keith Gessen lässt im Roman „Ein schreckliches Land“ einen russischstämmigen Amerikaner Russan im Krisenjahr 2008 erleben.
Text: Helmut Schneider


Die Karriere des Ich-Erzählers Andrew Kaplan will nicht so recht starten, er kann keine Professorenstelle in New York ergattern und muss sich mit öden Anfängerkursen begnügen. Da wird er von seinem Bruder nach Moskau gebeten, um ihrer betagten Großmutter zur Seite zu stehen – er soll also dort zurück, wo er geboren ist. Doch schon bald erkennt er, dass er auch als muttersprachiger Russe mit russischen Eltern in einen völlig anderen Kulturkreis zurechtkommen muss. Er kommt sich sehr oft wie ein Idiot vor. Im ersten Drittel des Romans gelingt es dem passionierten Eishockeyspieler etwa nicht, in einer russischen Hobbymannschaft mitspielen zu dürfen. Zudem erkennt er bald, dass es eine Kunst darstellt mit den wenigen eigenen Mitteln im teuren Moskau über die Runden zu kommen. „Es ist ein schreckliches Land“ erzählt ihm seine Oma bei jeder Gelegenheit – die alte Dame lebt mitten im Zentrum weil ihre Mutter dereinst bei einem Film mitwirkte, der Stalin gefallen hat – worauf alle mit einer Wohnung belohnt wurden. Ab dann ging es mit der Familie allerdings bergab, nur mit Glück überlebten sie die Schreckenszeit.

Keith Gessen hat eine ähnliche Herkunft wie sein Protagonist Andrew. 1975 in Moskau geboren wuchs er in den USA auf und gründete die anerkannte literarische Zeitschrift n+1 und arbeitete für verschiedene Publikationen. 2009 erschien sein erster Roman „All die traurigen jungen Dichter“ auf Deutsch. In „Ein schreckliches Land“ ist natürlich nicht alles in Moskau schlecht. Vor allem findet Andrew nach langem Bemühen Anschluss an ein Hockey-Team und an eine politische Gruppe, die sich für die entrechteten Arbeiter einsetzt. Wir schreiben 2008 und Russland gerät in den Strudel der Finanzkrise, weil fossile Rohstoffe eine Zeit lang weniger nachgefragt sind. Andrew ist dabei selbst für einen Amerikaner zu naiv um zu verstehen, dass man in Moskau nicht so einfach gegen Putin demonstrieren kann. Am Ende steuert alles einer Katastrophe zu.

Gessen schildert auf fast 500 Seiten ziemlich genau das gesellschaftliche Leben in Russland wo zwar fast alle wissen, dass ihr Präsident ein Scharlatan ist, aber trotzdem alle an ihm festhalten – weil er zumindest einer von ihnen ist und sie sich eine nicht korrupte Regierung gar nicht vorstellen können. Der Roman liest sich sehr gut, obwohl Gessen noch den kleinsten Cafébesuch genau beschreibt. Selbst die Reparatur eines verstopften Abflussrohrs  beschreibt er vergnüglich. Wäre der Autor aber nicht ein solcher Kenner der Verhältnisse, würde man ihm allerdings die Verwendung von Klischees vorwerfen. Aber vielleicht ist Putins Russland ja längst ein zur Realität gewordenes Klischee.


Jubiläumsjahr

Thomas Bernhard im Jubiläumsjahr


Theaterkritik von Helmut Schneider: „Die Jagdgesellschaft“ im Akademietheater und „Der Theatermacher“ im Volkstheater.
Text: Helmut Schneider / Fotos: Nikolaus Ostermann,Volkstheater ; Susanne Hassler-Smith


Eine Etüde in rot liefern uns Regisseurin Lucia Bihler und Bühnenbildnerin Pia Maria Mackert in ihrer Interpretation von Thomas Bernhards gesellschaftlichen Endzeitdrama „Die Jagdgesellschaft“ im Akademietheater. Die Figuren stecken in Latexkostümen (Kostümbildnerin Laura Kirst), die an Renaissancemoden erinnern und bewegen sich auch mehr oder weniger gekünstelt. Holzknecht Asamer (Jan Bülow) schlurft mit gewaltigen Handschuhen und meterlangem Haar über die Bühne wie Riff Raff aus der Rocky Horror Picture Show. Und alles wird in rotes Licht getunkt.

Wie Riff Raff aus der Rocky Horror Picture Show – Jan Bülow in „Die Jagdgesellschaft“ im Akademietheater.

Der Alarmismus scheint auch angebracht, denn das riesige Gut steht vor dem Ende. Der Wald wird von Borkenkäfern gefressen und der Gutsbesitzer (Martin Schwab) ist nicht nur herzkrank, sondern auch vom Grauen Star befallen. Zumindest kann er sein Unglück nicht mehr sehen, hofft seine Frau, gespielt von Maria Happel, die ihre Leiden dem Schriftsteller (Markus Scheumann) klagt.

Das alles ist recht hübsch anzuschauen, mit der Zeit – der Abend dauert 2 Stunden – ermüdet das Untergangsschauspiel aber zusehends, zumal die Handlung wie meist bei Bernhard nur in den Dialogen vorangetrieben wird. Immerhin ein Statement, wie man sich eine Bernhard-Interpretation heute vorstellt. 

Im Volkstheater beginnt Kay Voges seine erste Saison nach dem Umbau mit Bernhards „Der Theatermacher“, konkret mit einer Neufassung seiner erfolgreichen Inszenierung 2018 in Dortmund. Das bietet zunächst einmal die Chance, seine neuen Schauspieler kennenzulernen. Nun, die Neuen – Nick Romeo Reimann, Anna Rieser, Uwe Rohbeck, Andreas Beck, Anke Zillich – schlagen sich ganz wacker. Es beginnt ganz traditionell mit den Klagen des Theatermachers über die Provinz und den Niedergang des Theaters und endet in einer Art Slapstick-Endlosschleife, denn Vogel lässt das Stück immer wieder neu anfangen – die Darsteller wechseln die Rollen, die Stimmungen wechseln fast minütlich – zum „Blutwursttag“ sind wir dann mitten in einem Horrorstreifen. Das ist anfangs noch witzig, wird aber durch die rasanten Wiederholungen der Dramenfetzen zusehend nervig, zumal sich keine echten neuen Perspektiven ergeben. Fast so als traute man dem Text von Bernhard die alte Sprengkraft nicht mehr zu. Und das obwohl gerade jetzt seine Österreich-Analysen treffender denn je erscheinen. Dem Publikum hat das Ganze bei der Premiere Spaß gemacht – man war ja wohl schon lange vom Theater entwöhnt.

Eine Art Slapstick in Endlosschleife. – „Die Theatermacher“ im Volkstheater.

Buchtipp – Sarah Moss, Geisterwand

In der englischen Sumpfwildnis


Der Roman „Geisterwand“ von Sarah Moss zeigt, wie dünn die Kruste der Menschenrechte im Alltag ist.
Text: Helmut Schneider / Fotos: Sophie Davidson,Piper Verlag


Silvie ist 17 und noch ziemlich kindlich, denn wir sind in den 90er-Jahren. Ihr in die englische Frühgeschichte verliebter Vater zwingt sie, die Ferien mit ein paar Studenten und einem Archäologie-Professor bei einer Art Seminar mitzumachen, bei dem alle versuchen, für ein paar Tage wie die ersten Bewohner der Insel zu leben. In Zelten und als Nahrung nur das, was gesammelt oder gejagt wird. Sehr schnell werden dabei die traditionellen Rollenmuster schlagend: die Männer gehen auf die Jagd, die Frauen suchen Kräuter und Muscheln und die Mutter kümmert sich um das Feuer und den Kochtopf.


Sarah Moss erzählt in unspektakulärer Sprache vom Ungeheuerlichen.

Die 1975 in Glasgow geborene Schriftstellerin Sarah Moss erzählt ihre nicht sehr lange, aber umso eindrucksvollere Geschichte aus der Sicht von Silvie, der Tochter des autoritären Busfahrers und Hobbyforschers. Schon bald merken wir, dass dieses Mädchen anders ist als die nur wenig älteren Studentinnen und Studenten mit denen sie die Moorlandschaft durchstreift. Und wenig später wissen wir auch warum. Ihr Vater ist ein unberechenbarer Tyrann, der seine Frustrationen an der Familie auslässt – nur mühsam kann die Mutter ihre blauen Flecken verbergen und wir werden Zeuge, wie Silvie von ihm grausam verprügelt wird. Die nimmt das als gegeben hin, was soll sie denn auch tun, wo sie doch völlig von ihm abhängig ist. Erst als das Ritual einer Opferung nachgespielt werden soll – mit Silvie am Altar einer Opferwand –, zieht eine Studentin die Notbremse.

Sarah Moss ist mit ihrem Roman „Geisterwand“ (Berlin Verlag, € 20,60) die eindrucksvolle Darstellung der durch Abhängigkeiten gestützte Gewalt in der Familie gelungen. Das traditionelle Männerbild ist in den 90ern längst zerbröckelt, viele Jobs, in denen es männliche Kraft braucht wie etwa im Bergwerk, gibt es nicht mehr.  Um das deutlich zu machen, hat Moss eine unspektakuläre Sprache gefunden, die das Ungeheuerliche dieser Geschichte nur umso stärker spürbar macht. 


„Geisterwand“ von Sarah Moss
160 Seiten, € 20,90
ISBN: 978-3-8270-1413-9

Theaterkritik – Into the Woods

Aufregung im Märchenwald


Aufregung im Märchenwald: Die Volksoper spielt Sondheims Musical „Into the Woods“. Ein bunter Abend.
Text: Helmut Schneider / Fotos: Barbara Pálffy,Volksoper Wien


In dem 1987 uraufgeführten Musical „Into the Woods“ verbindet der Veteran der New Yorker Szene Stephen Sondheim, der 2020 seinen 90. Geburtstag feierte, Märchen der Gebrüder Grimm zu einer zusammenhängenden Handlung, die nach dem Schluss dieser Märchen im Buch noch weiter geht. Im Volkstheater spielt man dieses Musical trotz des beibehaltenen englischen Titels auf Deutsch, vielleicht weil man eine familiengerechte Fassung im Sinn hatte. Nun, die von Michael Kunze übertragenen Texte, sind auch nicht weiter so literarisch als dass man dies bemängeln müsste.

Souverän
Oliver Tambosi und Simon Eichenerger ist in dem charmant nostalgischen Bühnenbild (Frank Philipp Schlößmann) jedenfalls ein flotter und bunter Abend gelungen. Das gutgelaunte Ensemble bringt die melodisch ansprechende, doch ohne eigentlichen Hit auskommende Show souverän auf die Bühne. Nachdem im ersten Teil die diversen Märchen auserzählt werden und alles in Wohlgefallen endet, treten im zweiten Teil neue Konflikte auf. Die ärgste Bedrohung im Märchenreich stellt eine Riesin dar, die nur mit vereinten Kräften besiegt werden kann. Als Erzähler und „geheimnisvoller Mann“ kann auch Hausherr Robert Meyer im Märchenwald glänzen. Viel Applaus gab es für alle, besonders aber für die Hexe Bettina Mönch, die eine Verwandlung von einer hässlichen Alten zur Sexy Hexi hinlegen darf. 


„Into the Woods“ von Stephen Sondheim
Volksoper Wien