Buchtipp – Raffaela Romagnolo, Das Flirren der Dinge

Der Fluch der Vorsehung

Helmut Schneiders Buchtipp: Raffaella Romagnolos Nachfolgeroman nach dem Welterfolg „Bella Ciao“.

Die Italienerin Raffaella Romagnolo wurde vor zwei Jahren mit ihrem transatlantischen Familienroman „Bella Ciao“ auch bei uns bekannt. Die im Piemont lebende Autorin kann zweifelsohne packend persönlichen Geschichten erzählen, die innigst mit der Geschichte Italiens verwoben sind. Ganz nebenbei lernt man bei ihr immer auch jede Menge Historie. Das gilt auch für ihren neuen Roman „Das Flirren der Dinge“, in dem Romagnolo das Schicksal eines Waisenkindes in Genua mit der italienischen Freiheitsbewegung unter und nach Garibaldi und Mazzini verknüpft. Antonio wird wie durch ein Wunder vom Fotografen Alessandro Pavia zum Lehrling auserkoren, obwohl er auf einem Auge fast blind ist. Fotografieren in der Mitte des 19. Jahrhunderts war ein kompliziertes Handwerk, man musste mit Platten und Substanzen umgehen können und die Porträtierten durften sich minutenlang nicht bewegen. Pavia, ein überzeugter Republikaner, hat es sich zur Aufgabe gemacht, alle Mitstreiter Garibaldis beim berühmten Zug der Tausend zu fotografieren und die Abzüge dann zu verkaufen. Ein Unternehmen, bei dem er allerdings grandios scheitert und vor seinen Gläubigern in die USA fliehen muss.

Doch sein Lehrling Antonio macht indessen Karriere – auch weil er sich nicht scheut, für die geschäftstüchtige Puffmutter Madame Carmen Abzüge ihrer Modelle anzufertigen. Allerdings lastet auf Antonio der Fluch der Vorsehung. Wenn er mit seinem kranken Auge durch das Objektiv blickt, sieht er den zukünftigen Tod seiner Porträtierten in allen Details. Und das will er bei manchen – vor allem bei Menschen, die ihm lieb sind – sicher nicht sehen…

„Das Flirren der Dinge“ ist ein wunderbar lesbarer Roman, der sich für historisch Interessierte sogar als Strandlektüre eignet – ich brauchte dafür 3 Nachmittage im Bad… Romagnolo kann wirklich sehr gekonnt historische Ereignisse wie den Hungeraufstand in Mailand von 1898, der von König und Armee blutigst niedergeschlagen wurde, in die Handlung integrieren. Und sie schafft es, Personen zu zeichnen, die so lebendig wirken, dass man sich schon nach wenigen Seiten um ihr Schicksal bangt.


Raffaella Romagnolo: Das Flirren der Dinge
Aus dem Italienischen von Maja Pflug
Diogenes Verlag
ISBN: 978-3-257-07196-2
368 Seiten
€ 24,70

Buchtipp – Dirk Kurbjuweit, Der Ausflug

Menschenjagd im Flussdelta

Vier Berliner Freunde seit Jugendtagen wollen sich mit Paddeln und gemütlichen Picknicks ein nettes Wochenende an einem Flussdelta gönnen.

Alle vier sind gut drauf und halbwegs mit ihren Leben zufrieden. Doch als sie am Abend vor dem Paddelausflug im örtlichen Gasthof zu Abend essen, schlägt ihnen Feindlichkeit entgegen – speziell Josef, der zwar in Deutschland aufgewachsen und als Apotheker in Berlin hochangesehen ist, dessen Hautfarbe aber schwarz ist. Man verwehrt ihm den Gang aufs Klo, was alle vier natürlich empört. Sollen sie den Ausflug abbrechen?

Dirk Kurbjuweit – im Hauptberuf Spiegel-Journalist – hat schon einige spannende Romane vorgelegt. In „Der Ausflug“ geht es um Fremdenfeindlichkeit, und dabei natürlich nicht nur unter der Landbevölkerung, denn Kurbjuweit stellt auch die liberale Gesinnung der vier Freunde auf die Probe. Als sich die vier – die Geschwister Bodo und Amalia sowie Gero und Josef – verirren, werden sie nach einer Reihe von unangenehmen Zwischenfällen mit den Landbewohnern mittels eines mit einer Drohne transportierten Pakets vor eine schwere Entscheidung gestellt. Im Paket befindet sich nämlich nebst einem Revolver mit einem Schuss Munition ein Zettel, der ihnen den sicheren Tod in Aussicht stellt, wenn sie Josef nicht umbringen. Niemand zweifelt daran, dass das bitterernst gemeint ist. Die letzten Seiten des Romans lesen sich dann naturgemäß wie ein Thriller, das Ende soll hier auch nicht verraten werden. Kompliziert ist die Story auch, weil Josef einmal mit Amalia zusammen war und sie ihr gemeinsames Kind abtreiben ließ, ohne ihm davon zu erzählen. Sie begründet das mit der ungünstigen Zeit noch vor dem Studium, er sieht darin ein Ressentiment gegenüber seiner Hautfarbe. Interessanterweise weigert sich der Autor das N-Wort auszuschreiben, obwohl natürlich klar ist, dass es zumindest die Landbevölkerung verwendet. Wozu das gut sein soll, ist fraglich, denn wie soll man über etwas schreiben ohne es zu benennen?

„Der Ausflug“ ist ein spannendes Buch zu einem wichtigen Thema, das sich problemlos an einem Wochenende lesen lässt. Eine differenziertere Personenzeichnung hätte der Geschichte allerdings gutgetan, die Einheimischen sind bloß wandelnde Klischees. Mitten im Roman verweist Kurbjuweit auch noch auf eine berühmte Szene in Joseph Conrads „Herz der Finsternis“, ohne dass er mit dem eingeführten Personal – einem Guru samt weiblicher Gemeinde – viel anfangen kann.


Dirk Kurbjuweit: Der Ausflug
Penguin Verlag
ISBN: 978-3-328-60171-5
188 Seiten
€ 20,60

Theaterkritik – Theater an der Gumpendorfer Straße, „Wannst net sterbst sehn ma uns im nächsten Herbst“

Wennst net sterbst sehn ma uns im nächsten Herbst


Zwei Frauen, die eine Live-Radiosendung mit Texten von und über Elfriede Gerstl machen. Ein Elfriede Gerstl-Abend im TAG.
Foto: Katsey


Elfriede Gerstl (1932 – 2009) war ein Solitär in der Wiener Literaturszene. Als jüdisches Kind überlebte sie die Nazi-Herrschaft in verschiedenen Verstecken, ab 1955 begann sie mit dem Publizieren von Texten. Eine große Leserschaft blieb ihr zwar verwehrt, in der Wiener Szene wurde sie aber bald zu einer vielbeachteten Literatin, die sich vor allem mit trocken pointierten Gedichten und kurzen Szenen und Sprüchen eine Fan-Gemeinde aufbaute. Man konnte die Rastlose vor allem in der Innenstadt in den Cafés und Bars treffen, beliebt war auch ihr Kleider-Flohmarkt, denn Gerstl sammelte mit Leidenschaft Klamotten.

Johanna Orsini und Martina Spitzer haben nun im TAG die oft auch humorvollen Texte von Elfriede Gerstl in einen Theaterabend verwandelt bei dem sie auch selbst gemeinsam auf der Bühne stehen. Sie spielen Radiomoderatorinnen, die im Rahmen einer Sendung an Elfriede Gerstl erinnern. Dabei schöpfen sie die Möglichkeiten des Theaters voll aus, wir erleben komische Pannen und viel Slapstick, wobei die beiden aber niemals auf Kosten der Autorin agieren. Wer dabei ist, kann die vielen Facetten Elfriede Gerstls kennenlernen, wie überhaupt der komplette Abend als gelungene Einführung in das Schaffen der Autorin gelten darf. Zwischendurch werden Songs von Ella Fitzgerald und den Beatles gespielt, die beide von Gerstl gerne gehört wurden – oder die beiden Darstellerinnen greifen schwungvoll zu Ukulele und Geige. 80 Minuten mit guter Unterhaltung bei außergewöhnlichen Texten.


„wannst net sterbst sehn ma uns im nächsten herbst“
Pistoletta Productions in Kooperation mit dem TAG

Buchtipp – Tash Aw, Wir, die Überlebenden

Moderne Sklaven


In Tash Aws Roman „Wir, die Überlebenden“ erzählt ein zum Mörder Gewordener vom Arbeitsalltag in Malaysia. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.


Liest man heimische Zeitungen könnte man meinen, alle Abgehängten dieser Welt würden nach Europa kommen und unseren Arbeitsmarkt überschwemmen. Tatsächlich finden die wirklich großen Migrationsbewegungen anderswo statt. Etwa in Asien, wo es klare Abstufungen des Elends in Ländern wie China, Indien, Bangladesch, Indonesien, Thailand und Malaysia gibt. Zwischen diesen Staaten findet ein meist illegaler Austausch von Arbeitskräften statt, die oft für nicht viel mehr als ein bisschen Essen und ein Wellblechdach über dem Kopf in der sengenden Sonne schuften. In Malaysia, wo Tash Aws Roman „Wir, die Überlebenden“ spielt, gibt es zusätzlich noch den Stadtstaat Singapur, der mit seinem unglaublichen Wohlstand sozusagen das Maß aller Dinge ist und für viele aus Malaysia das unerreichbare Ziel ihrer Wünsche darstellt.

Die Hauptperson des Romans – Ah Hock – ist chinesischer Abstammung und wächst an einer kleinen Küstenstadt auf, die vom Fischfang und immer mehr von der Palmölindustrie lebt. Er ist ein Außenseiter, lebt bei seiner Mutter und beide haben nicht viel zum Leben. Wie der Leibhaftige kommt aber plötzlich ein älterer Mitschüler in sein Leben – Keong ist der typische kleine Gangster, der schon in der Hauptstadt Kuala Lumpur auf dem Weg zur kriminellen Karriere eingeschlagen hatte, ehe seine Mutter ihn jäh in eine Kleinstadt verfrachtete um ihn vor dem endgültigen Abrutschen in die Kriminalität der Millionenmetropole zu bewahren. Gemeinsam leben sie dann aber nach der Schule wieder in KL wie Kuala Lumpur im Buch genannt wird, Ah Hock verdingt sich als Kellner, Keong verfolgt weiterhin eher erfolglos halbseidene Geschäfte.

Als Ah Hock in seiner kleinen Heimatstadt eine gute Anstellung als Aufseher und Mädchen für alles in einer Fischzucht findet, ist er froh, Keong nicht mehr sehen zu müssen. Er heiratet sogar und kann sich ein kleines Häuschen leisten. Doch als alle Arbeiter plötzlich während der Abwesenheit des chinesischen Chefs erkranken und die Fischzucht zu verrotten droht, trifft sich Ah Hock wieder mit Keong und das Unheil nimmt seinen Verlauf. Keong verspricht, Arbeiter aufzutreiben, bei einem Treffen mit einem weiteren Vermittler kommt es aber zu einem Streit und Ah Hock erschlägt den Mann aus Bangladesch um Keong zu retten mit einem Stock.  Der Roman setzt ein, als Ah Hock bereits seine Gefängnisstrafe abgesessen hat und höchst bescheiden wieder in seiner Heimatstadt lebt, wo er der aus New York nach Malaysia zurückgekehrten Dissertantin Su-Min sein Leben erzählt. Geschickt deutet Tash Aw auch Su-Mins Schicksal in einer besseren Familie an. Sie kann studieren, erträgt aber die Korruption und die Ungerechtigkeiten in ihrer Heimat nur schwer, während sie Ah Hock als völlig normal empfindet.

Tash Aw selbst konnte als Sohn malaysischer Eltern in Großbritannien studieren und lebt inzwischen in der Provence, wo er neben seiner schriftstellerischen Arbeit auch für die NYT und die BBC schreibt. Seine Sprache wirkt nüchtern, aber immer treffsicher. So kann er die Welt, in der Menschen nur im Stück gezählt werden und es keine soziale Absicherung für Arbeitskräfte gibt, in ihrer Brutalität schonungslos abbilden. Ein wichtiger Roman, der uns erlaubt, über den Tellerrand zu blicken.


Tash Aw: Wir, die Überlebenden
Aus dem Englischen von Pociao und Roberto de Hollanda
Luchterhand
ISBN: 978-3-630-87623-8
416 Seiten
€ 24,70

Buchtipp – Michael Schottenberg, Schotti to go: Wien für Entdecker

Reif für die Insel


Am Samstag wird Michael Schottenberg bei „Rund um die Burg“ sein neues Buch mit Wiener Entdeckungen vorstellen. Wir bringen einen gekürzten Ausschnitt daraus als Vorgeschmack.


Heute noch bekommen Millionen Zuhörer auf der ganzen Welt Gänsehaut, wenn am Neujahrstag die Primgeige des weltbesten Orchesters den Evergreen ‚Drauß’t in Hietzing gibt’s a Remasuri, dulli dulli dulli …‘ intoniert. Die Donau gilt als die mit Abstand smoothigste Botschafterin Wiens, keine andere Stadt hat sich das (trübe) Gewässer derart eingemeindet wie sie. Ob ‚Donaumonarchie‘, ‚Donauwelle‘, die heutige ‚Donau-City‘ oder der flächenmäßig größte Wiener Gemeindebezirk
‚Donaustadt‘: In Wien, scheint’s, ist die Donau zu Hause – und die Donauinsel mit ihr.

Der ‚Wasserrechtliche Bescheid‘ erfolgte am 7. Juli 1970, zehn Monate nachdem der Gemeinderat die Pläne für den Bau der Insel endgültig absegnete. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie in den Rathausschubladen bereits eine dicke Staubschicht angesetzt, denn schon im Jahre 1957 präsentierte der Ziviltechniker August Zottl seine Idee eines dauerhaften Hochwasserschutzes, um den regelmäßig wiederkehrenden Fluten Einhalt zu gebieten. Zottls Vision hatte es in sich, und die Rathausmänner schüttelten so lange ihre Köpfe, bis sie ergrauten. Ein ganzes Jahrzehnt lang wieherte der Amtsschimmel, bis gegen Ende der Neunzehnsechziger eine neue Generation von Rathausbeamten den Lurch von Zottels Plänen pusteten. Grund: Immer öfter gerieten Teile der Brigittenau, der Leopoldstadt, der Donaustadt und Floridsdorfs ‚Land unter‘.

Im Jahre 1972 griffen PolitikerInnen beherzt zum Spaten, sie zerschnitten rot-weiße Bänder, Sektflaschen knallten gegen mannshohe Baggerräder und vom Rathauskeller wurden verwelkte Eibrötchen angekarrt. Man feierte den Beginn des größten Bauvorhabens in der Geschichte Wiens: Die Zottel-Insel sollte die Stadt nicht nur vor unberechenbaren Donauwellen schützen, auch das allzu lang brachliegende ‚Inundationsgebiet‘ mag durch das neugewonnene Land Sinn bekommen. Wofür die Insel sonst noch herhalten sollte war zu Baubeginn noch keineswegs geklärt, also erfand man den Begriff ‚Naherholungsgebiet‘. Er wurde zum Zauberwort der Stunde. Man grub, schaufelte, ebnete und man pflanzte an – immer unter dem kritischen Blick kleinformatiger Auguren. Im Jahre 1988 war die Bauphase beendet. Der Visionär August Zottl sollte sein Lebenswerk nicht mehr erleben, er starb vier Jahre vor der Eröffnung ‚seiner‘ Insel.

Wien wäre nicht Wien, wenn nicht auch die Donauinsel mit ihrem Traummaß von mehr als zwanzig Kilometer Länge und einer Wespentaille
von knapp dreihundert Meter, immerwährender Kritik ausgesetzt gewesen wäre. Von ‚Fadennudel‘, ‚Spagetti-Insel‘ bis zu ‚Pissrinne‘ war die Rede. Die fesche, junge Dame aber überstand alle Schmähungen. Heute gilt die Insel als eine der Topattraktionen der Stadt, mehr noch, man berühmt sich großzügig angelegter Erholungsflächen und mannigfaltigster ökologischer Lebensräume für selten gewordene Tier- und Pflanzenarten. Baumbestände blieben durch intelligente Dammführung bestehen, Donau-Altarme wurden in neu geschaffene Landschaftsgestaltung integriert. Knapp zwei Millionen Bäume und Sträucher ergaben einhundertsiebzig Hektar Wald und, dem nicht genug, wurden sage und schreibe zweiundvierzig Kilometer Stadtstrand geschaffen. Vergleichbares bietet wohl keine andere Großstadt der Welt.

Auch ich nehme kommunales Angebot dankbar an und radle an Hundstagen, oder aus Recherchegründen, ins Grüne, verlasse die Untergrundlinie Nr. 1 an der Station ‚Donauinsel‘ und halte die Nase in Richtung Instinkt und Idylle. Von weitem schon grüßen die Hubkräne des Container Terminals in der Hafenstraße. Hier liegen meine bevorzugten Wege. Ich stapfe in Richtung Hüttenteich, lausche andächtig dem mannigfaltigen Geunke, Getschilpe, Getrapple und treibe mich am Donauufer entlang. Die vielfältigsten Vogelstimmen sind hier zu hören. Die Insel beherbergt nicht nur eine außergewöhnliche Kleintierwelt, auch Rehe und Hirsche lugen zwischen den Büschen hervor – Wasserfrosch und Ringelnatter ebenso wie Bergunken und Erdkröten. Man braucht bloß seine Sinne zu schärfen, andernfalls man blind und taub durch eine Welt voller Wunder spazierte. Nichts aber erfüllt so sehr mit Glück wie die Ruhe, die das Naturparadies dem Erholungssuchenden schenkt.

Auf einem Holzsteg mache ich es mir bequem. Es ist früh am Morgen und ich schließe die Augen. Die Tiere sind gerade dabei, ihr Tagewerk zu beginnen. Kleine, geschäftige Lebewesen folgen ihrer Bestimmung, alles profitiert vom Tun des Nächsten und setzt sich zu einem unentwirrbaren, Sinn machenden Ganzen zusammen. Dieser über jeden Interpretationsversuch erhabene Mikrokosmos ist sich selbst genug und belässt es beim Wunder alltäglichen Seins. Ich bekomme nicht genug davon, die Vielfalt an Leben ringsum zu betrachten und empfinde mich als Mittelpunkt einer Welt, die lebt und da ist und nie, nie vergehen wird.

Michael Schottenberg liest am 21. Mai bei Rund um die Burg, Infos unter rundumdieburg.at  

Michael Schottenberg: Schotti to go – Wien für Entdecker
ISBN: 978-3-99050-221-1
224 Seiten
Amalthea Verlag
€ 25,–

Buchtipp – Guillermo Arriaga, Das Feuer retten

Eine unmögliche Liebe in Mexiko


Guillermo Arriaga gehört zu den bekanntesten und erfolgreichsten Drehbuchautoren („Amores Perros“, „21 Gramm“ oder „Babel“) und Schriftsteller Mexikos. Der nun in deutscher Übersetzung erschienene 800-Seiten-Roman „Das Feuer retten“ erhielt 2020 den prestigeträchtigen „Premio Alfaguara de Novela“ und rangierte ein Jahr lang auf dem ersten Platz der mexikanischen Buch-Charts. Es ist die Geschichte einer Liebe zwischen verschiedenen Klassen, die es eigentlich nicht geben kann – so aussichtslos ist sie.


Die aus besten Kreisen stammende, wohlhabende Tänzerin Marina Longines – verheiratet mit einem braven, erfolgreichen, aber faden Mann und Mutter dreier Kinder – lernt bei einem Auftritt mit ihrer Tanzgruppe im Gefängnis den wegen mehrfachen Mordes verurteilten Indio José Cuauhtémoc kennen. Der ist aufgrund einer traumatisierten Kindheit mit einem Kämpfer für Indio-Rechte als Vater allerdings hochgebildet und kennt sich bestens in der Welt der Kultur und Bildung aus. Lange Zeit kann Marina ihrer Liebe frönen, inklusive Sex im Gefängnis – wenn man die richtigen Menschen schmiert, geht in Mexiko fast alles. Nur die engsten Freunde wissen Bescheid, nicht aber ihr Mann. Wobei die Geschichte von Tag zu Tag komplizierter wird, denn JC – wie José Cuauhtémoc genannt wird – hat eben eine kriminelle Vergangenheit, die ihn einholt. Er ist nämlich schon zum zweiten Mal wegen Mordes verurteilt. Das erste Mal hat er seinen dementen Vater, der ihn bis zum letzten Atemzug zu quälen versuchte, angezündet. Und wieder in Freiheit geriet er trotz redlichen Bemühens über einen Freund mitten in einen Narcos-Bandenkrieg. Leider vergnügt er sich auch mit der Freundin des Freundes als dieser in die Berge flüchten muss. Als dieser dahinterkommt, verfolgt er JC mit blankem Hass. „Das Feuer retten“ ist auch ein veritabler Rache-Thriller wie man den Roman überhaupt auch als eine etwas kolportagehafte Narcos-Räuberpistole lesen könnte. Arriaga erzählt im Original in einem mexikanischen Unterschichts-Slang an dem sich die deutsche Übersetzung von Matthias Strobel mittels deftigem Vokabular und vielen englischen lautmalerischen Phrasen herantastet. Politisch korrekt kann das natürlich niemals sein, bei einigen Beschreibungen von Frauen zuckt man richtig zusammen und auch die Sexszenen sind in ihrer Ausführlichkeit deutlicher als man das als Leser wünscht.

Das große Plus des Romans sind aber die Schilderungen der sozialen Wirklichkeit des Landes. Die große Mehrheit der Mexikaner schuftet sich ab, ohne jemals auch nur in die Nähe eines sorgenfreien Lebens kommen zu können. Schlimmer noch – im Krieg zwischen den Drogenbanden und der Regierung stehen sie immer in der Schusslinie. Die Korruption zerfrisst jede staatliche Sicherheit – wer zahlt, schafft an, Gesetze sind Auslegungssache. Mexiko ist ein gespaltenes Land: „12 der 100 reichsten Menschen der Welt sind Mexikaner. Gleichzeitig sind 55 Prozent der mexikanischen Bevölkerung sehr arm. Diese Widersprüche haben nun ihren Siedepunkt erreicht“, erklärte Guillermo Arriaga kürzlich in einem Interview.

Warum man sich die 800 Seiten dann doch gerne antut? Arriaga kann spannend erzählen und bietet auch textlich viel Abwechslung. So lässt er den Bruder der Hauptperson die gemeinsame grausame Jugend erzählen und zwischendurch sind immer Texte von Gefangenen eingestreut, die beim Schreibseminar mitgemacht haben. So erfährt man wie die zu Verbrecher Gewordenen ticken (auch wenn die vermeintlichen Dokumente natürlich viel zu literarisch sind). Marina erzählt in der ersten Person und JC wird auktorial dargestellt.

Und natürlich will man wissen, wie die Geschichte ausgeht – und das verrät der Autor als geschickter Drehbuchschreiber natürlich erst am Schluss. Vielleicht wird der Wälzer ja auch noch ein Film…


Der nun übersetzte Roman „Das Feuer retten“ von Guillermo Arriaga ist die Geschichte einer Liebe zwischen verschiedenen Klassen.

Guillermo Arriaga: Das Feuer retten
Aus dem Spanischen von Matthias Strobel
Klett-Cotta Verlag
ISBN: 978-3-608-98440-8
800 Seiten
€ 28,80

Theaterkritik – „Die Troerinnen“ im Burgtheater

Im Krieg leiden die Frauen


Im Krieg leiden die Frauen – „Die Troerinnen“ im Burgtheater. Eine Theaterkritik von Helmut Schneider.
Foto: ©Susanne Hassler-Smith


Nicht die Sieger waren für die griechischen Dichter interessant, sondern die Verlierer. Aischylos‘ „Die Perser“ gilt als erstes Theaterstück überhaupt und dort wird die Vernichtung der riesigen persischen Armee durch das wesentlich kleinere Heer der Griechen abgehandelt. Unglück und die Hybris der Mächtigen sind interessanter als das Glück der Sieger. In Euripides‘ 415 v. Chr. uraufgeführtes Stück „Die Troerinnen“ stehen die Frauen der Geschlagenen im Zentrum. Frauen leiden ja in Vernichtungskriegen meist noch mehr als Männer, ein gnädiger schneller Tod bleibt ihnen oft versagt.

Die australische Regisseurin Adena Jacobs zeigt nun im Burgtheater ihre Fassung der „Troerinnen“ – stark gekürzt, aber mit Texten von Ovid, Seneca und der australischen Autorin Jane Montgomery Griffiths angereichert.

Hekabe (Sylvie Rohrer), deren Tochter Kassandra (Lilith Häßle), Andromache (Sabine Haupt) und Helena (Patrycia Ziółkowska) treten nacheinander auf, um von ihrem soeben erfahrenen Leid zu berichten. Das hat etwas von einer Nummernshow. Wobei die Bilder, die zwischendurch gezeigt werden (Bühne: Eugyeene Teh) fast mehr Eindruck machen als die Texte. Meistens bleibt es dunkel und nur wenige Spots erleuchten die Szenen, die Choreografie des Chores wird präzise eingesetzt um Stimmung zu erzeugen. Gespielt wird in hautfarbigen Ganzkörperanzügen – ein Nacktlook also. Jacobs Bild der Antike ist ein ästhetisches, allzu oft aber auch ein pathetisches. Mit der Wucht der Geschichte scheint sie dann aber doch ihr Publikum zu gewinnen.


„Die Troerinnen“ im Burgtheater
burgtheater.at

Buchtipp – Iris Blauensteiner, Atemhaut

Entfremdung zwischen Mensch und Maschine


Iris Blauensteiner ist sowohl Filmerin als auch Autorin. Mit „Atemhaut“ ist ihr ein Roman über die Entfremdung zwischen Mensch & Maschine gelungen. Am 20. Mai liest sie bei Rund um die Burg.
Foto: sandraphotoart.at


Iris Blauensteiner studierte ‚Kunst und digitale Medien‘ an der Akademie der bildenden Künste Wien sowie Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Ihre Filme, die sie seit 2004 vor allem in den Bereichen Drehbuch und Regie umsetzt, zuletzt „Die Welt ist an ihren Rändern blau“, „die_anderen_bilder“, „Rast“ und „Schwitzen“ waren auch auf internationalen Festivals zu sehen. Ihr Debütroman „Kopfzecke“ erschien 2016.

Interview mit Iris Blauensteiner

Was war bei Ihnen zuerst da, das Bedürfnis zu schreiben oder zu filmen?

Iris Blauensteiner: Das Filmen, ich habe eigentlich mit 15 schon damit begonnen, nämlich im Medienzen-trum in der Zieglergasse, wo ich Animationsfilme gemacht habe. Mit dem Schreiben habe ich erst später, mit 24, angefangen – auch weil man als Filmerin ja immer auch schreiben muss, etwa Drehbücher oder Begleittexte für Filme. Filmen und Texten sind meine zwei ästhetischen Sprachen, mit denen ich arbeite. In beiden Genres kann ich Atmosphären, Zwischentöne und Zwischenmomente beschreiben und erzählen. Auch komplexere Dynamiken in mehreren Schichten und Ebenen lassen sich in beiden Medien darstellen.

Wie ist die Idee zu diesem Roman entstanden?

Mein Ausgangspunkt war eine WG und Edin war nur eine von mehreren Figuren. Letztlich hat mich dann seine Geschichte am meisten interessiert, weil sich in ihm die Problemfelder Leistungsgesellschaft oder Männlichkeit sowie die Ebene Computerspiele zeigen lassen. Er steht dann im Roman vor dem Dilemma, dass er von Maschinen ersetzt wird und er gleichzeitig Maschinen zur Bewältigung dieser Konflikte einsetzen will.

Ich habe den Roman vor allem als die Geschichte eines Arbeitslosen gelesen, ist das so angelegt?

Ja, Edin definiert sich ja über viele Werte wie Gender, seine Biografie und eben über seine Arbeit. Und wenn das auf einmal plötzlich weg ist, was bleibt dann noch? Als Künstlerin kenne ich solche prekären Verhältnisse natürlich auch persönlich, die künstlerische Arbeit ist ja hochprekär. Man muss permanent Rahmen schaffen und schauen, dass die auch eingehalten werden, dazu muss ich die Finanzierungen aufstellen. Ich mache das natürlich gerne und habe es mir auch ausgesucht, ich verfolge auch aufmerksam die Fair-Pay-Bewegung im Kulturbereich.

Romane in der 2. Person Singular sind extrem selten. Warum haben Sie die Du-Perspektive gewählt?

Für mich ist es eigentlich eine Ich-Perspektive, denn Edin spricht sein Ich sozusagen als Du an. Es ist ein bisschen so wie „Stell dir vor“ und so weiter. Dadurch bekommt das so eine entrückte Position und ist Ausdruck dafür, dass er sich selbst entfremdet ist und neben sich steht. Eigentlich ist es seine Aufgabe im Roman, zu einem Ich zu finden.

Welche Funktion hat das exzessive Computerspielen im Roman?

Die Fremd- und Selbstbestimmung ist ein großes Thema im Buch. Auch die verschiedenen Rollen, die er spielt. Am Computer steuert er einen Avatar, der er selbst ist und dann auch wieder nicht. Durch das Internet ist einfach eine neue Welt entstanden, die Menschen viel mehr Rollen ermöglicht und zu viel mehr Rollen drängt, als sie schon vorher hatten.

Edin baut am Schluss eine Maschine, ist das so etwas wie ein Android?

Eigentlich ist es eine ganz banale Maschine – mit Luftpumpen, aufblasbaren Kissen, ummantelt mit Latex. Ich habe ja eine Art Bedienungsanleitung dazu geliefert. Man kann sich das als etwas großes Warmes vorstellen, das atmet. Und das gibt Edin ein Gefühl von Sicherheit.

Iris Blauensteiner wird am 20. Mai um 17 Uhr bei „Rund um die Burg“ aus ihrem Roman lesen.    


Iris Blauensteiner, Atemhaut
Kremayr & Scheriau
ISBN: 978-3-218-01279-9
160 Seiten
€ 20,–

Buchtipp: Andrea Roedig, Man kann den Müttern nicht trauen

Zerplatzter Aufstiegstraum


Andrea Roedigs Mutterbuch „Man kann den Müttern nicht trauen“ handelt von einem zerplatzten Aufstiegstraum. Ein Buchtipp von Helmut Schneider
Foto: Markus Rössl


Die Geschichte von Andrea Roedigs Mutter Lilo aus Düsseldorf beginnt wie das Versprechen vom sozialen Aufstieg in der Wiederaufbauzeit. Die von der eigenen, kriegstraumatisierten  Mutter nicht geliebte und oft geschlagene Lilo heiratet in eine alte Dynastie aus Metzgern und wird Frau Chefin. Man kann sich vieles viel früher leisten als andere, macht teure Urlaube und der Vater fährt Porsche. Doch der Traum vom Wohlstand platzt jäh, beide Eltern sind längst Alkoholiker, Lilo nimmt zudem „Mother’s little helper“ und wird medikamentenabhängig. Die kleine Andrea und ihr kleinerer Bruder Christoph müssen nach dem Konkurs der Metzgerei, der auch durch das Aufkommen der Supermärkte verursacht wird, sogar bei Schulkameraden um Essen betteln. Am Ende wird die Familie getrennt, Andrea wächst bei der Großmutter und im Internat auf, sieht Lilo jahrelang nicht – ihr Verhältnis zueinander ist vergiftet.

Andrea Roedigs „Man kann den Müttern nicht trauen“ schont keine Beteiligten, auch die Erzählerin selbst nicht. Auch von Schuldzuweisungen ist das sehr flüssig und intelligent erzählte Buch frei. Im Grunde geht es in dieser Geschichte weniger um den sozialen Abstieg als vielmehr um soziale Kälte. Lilo liebt schöne Dinge und ist auch bereit, dafür viel zu arbeiten, ihre Tochter bleibt ihr aber ein Leben lang fremd. 2015 ist Lilo verstorben. Andrea Roedig wurde schließlich als Publizistin und Autorin erfolgreich, seit 2007 lebt sie in Wien, wo sie auch die Literaturzeitschrift „Wespennest“ herausgibt. Am 20. Mai wird sie um 20 Uhr beim Festival RUND UM DIE BURG im Landtmann Bel Etage aus „Man kann den Müttern nicht trauen“ lesen.

www.rundumdieburg.at


Andrea Roedig, Man kann den Müttern nicht trauen
dtv
ISBN: 978-3-423-29013-5
240 Seiten
€ 20,95

Theaterkritik: „Eurotrash“ im Akademietheater

Die Reise der alten Dame


„Eurotrash“ von Christian Kracht im Akademietheater. Eine Theateransicht von Helmut Schneider.
Foto: ©Susanne Hassler-Smith


Der Regisseur und Schauspieler Itay Tiran hat für das Akademietheater Christian Krachts („Faserland“, „1979“, „Imperium“ u.a.) autofiktionalen Roman „Eurotrash“ gemeinsam mit Jeroen Versteele dramatisiert. Barbara Petritsch und Johannes Zirner spielen Mutter und Sohn. Sie ist eine 80jährige reiche Schweizer Erbin und leider schon dement, was sie mit reichlichem Alkohol- und Tablettenkonsum zu kaschieren versucht. Er ist Autor und fühlt sich verpflichtet, alle paar Monate bei seiner Mutter vorbeizuschauen. Jetzt aber wird er zu ihr gebeten, Mutter ist anscheinend aus der Anstalt geflüchtet und will ihr aus unsauberen Quellen erworbenes Geld (Waffen) verschenken. Und so brechen sie zu einer Reise nach Afrika zu den Zebras auf, kommen allerdings mit dem Taxi nur ein bisschen in der Schweiz herum. Aber die wahren Abenteuer sind ja sowieso im Kopf.

Das Bühnenbild (Nina Wetzel) besteht nur aus einem allerdings multifunktionalen grünen Sitzrondeau, das aus einem Hotel stammen könnte, und aus einem Glitzervorhang als Hintergrund. Die Poltermöbel gehen auch als Taxi oder Seilbahngondel durch. Mutter sitzt ja sowieso oft im Rollstuhl. Der Witz entsteht durch die skurrilen „Wuchteln“ der Frau Mama (betont auf der zweiten Silbe). Die Intellektualität des Sohnes läuft gegen die anarchistische Energie der alten Dame ins Leere. Eine Paraderolle für Barbara Petritsch, die sich darin auch sichtlich wohl fühlt. Wir erleben wunderbar unterhaltsame 100 Minuten in einer zur Kenntlichkeit parodierten Schweiz.


Informationen & Karten: burgtheater.at