Antú Romero Nunes gibt mit Brechts „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ einen farbenfrohen Kommentar zum Kapitalismus ab

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Geschrieben im finnischen Exil, verwendete Bertolt Brecht in seiner bitterbösen Komödie „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ auch die literarische Vorarbeit seiner Gastgeberin Hella Wuolijoki. Movens sind die beiden Aggregatzustände des reichen Gutsherrn Puntila: Ist er, wie er selbst sagt „sternhagelnüchtern“, gibt er den kapitalistischen Paradeunternehmer, der seine Arbeiter ausbeutet, wo er nur kann. Betrunken – in diesem Stück sein Normalzustand – liebt er seine Mitmenschen und gesteht auch seiner Tochter Eva alle Freiheiten zu. Mittendrin sein Chauffeur Matti, der seinen Herrn nur allzu zu gut durchschaut.

Im Burgtheater macht Antú Romero Nunes daraus ein sehr kulinarisches Sittenbild unserer Gesellschaft. Pablo Chemor komponierte für ein Live-Streichquartett die Musik von Paul Dessau weiter, Matthias Koch schuf expressionistisch-bunte Bühnenbilder und das Ensemble wirkte maximal gutgelaunt. Als Puntila bringt Bruno Cathomas mühelos die Naturgewalt seiner Rolle auf, Marie-Luise Stockinger zeigt als seine Tochter auch artistisch, was sie kann, und Julia Windischbauer versteht es, den Matti als nicht allzu besserwisserisch, sondern menschlich darzustellen. Felix Rech gibt den Eva zugedachten Ehemann, dessen Schulden ihn zur Selbstverleugnung zwingen. Viele Nebenrollen und eine große Komparserie machen den Abend zu einem Breitleinwand-Spektakel. Ob es freilich nötig war, die Unterprivilegierten mit einem slawischen Akzent auszustatten darf bezweifelt werden. Doch dieser Brecht ist mitsamt seiner Klassenkritik von Beginn an ein veritabler Spaß, den man nicht versäumen sollte.

Infos & Karten: burgtheater.at

Die Netflix-Serie „Adolescence“ wird jetzt viel diskutiert, die ältere Serie „Unbelieveable“ ist aber nicht minder wichtig

Bild: ©Netflix

Ein 13-Jähriger, der eine Mitschülerin absticht, weil er glaubt, dass 80 Prozent der Frauen auf nur 20 Prozent der Männer stehen – dieser Fall von Frauenhass geboren aus der Hoffnungslosigkeit, niemals eine Frau abzubekommen, ist zweifelsohne ein bedeutendes Themenfeld, das durch die Grausamkeit der schnellen Kommentare in den sozialen Plattformen noch verstärkt wird. Nebenbei ist die vierteilige englische Serie „Adolescence“ auch filmisch sehr gut umgesetzt.

Schon lange auf Netflix und unbedingt auch sehenswert ist die US-Serie „Unbelievable“, in der es um ein ähnliches Thema, nämlich um brutale Vergewaltigungen geht. Und hier liegt der Fokus klar auf den Opfern bzw. den Ermittlerinnen. In der ersten Folge erleben wir gleich was passiert, wenn eine durch ihre Kindheit – zahlreiche Foster-Eltern – labile sehr junge Frau vergewaltigt wird und die Befragung durch Polizisten nicht durchsteht. Regisseurin und Serienentwicklerin Susannah Grant geht es freilich nicht um eine schwarz-weiß-Darstellung, die Polizisten in Washington handeln so, wie sie es gelernt haben und das Opfer Marie schafft es nicht, sich konzentriert zu erinnern. Noch dazu haben wir es hier mit einem sehr raffinierten Gewalttäter zu tun, der absolut keine Spuren hinterlässt. Erst als einer Ermittlerin in einem anderen Fall durch Zufall der Gedanke kommt, dass sie es mit einem Serienvergewaltiger zu tun haben, wird die Geschichte zu einem Krimi. Tini Collette als abgebrühte Detektivin, Meritt Wever als ihre hartnäckige, gläubige Kollegin und Karlyn Denver als Marie sind auch großartige Schauspielerinnen. Hintergrund der Geschichte ist übrigens ein echter Kriminalfall. Was die Serie schafft, ist es, zu vermitteln, welch multiple Schäden eine Vergewaltigung anrichtet. Marie ist nicht nur in ihrem sowieso schon schwachen Vertrauen in ihre Mitmenschen erschüttert, sondern verliert als mutmaßliche Lügnerin auch Job und Freunde. Das ist als Zuschauer teilweise schwer zu ertragen zumal Gewalt gegen Frauen gerade in Österreich ein schweres Problem darstellt.

Wienlive – Podcast SCHNEIDER & BRUSATTI ab heute mit neuer Folge: Johann Strauss und die Operette

Monatlich neu plaudern Wienlive-Chefredakteur Helmut Schneider und der Musikexperte und Wienlive-Kolumnist Otto Brusatti in einem Podcast über Johann Strauss, dessen 200. Geburtstag sich heuer bekanntlich jährt. Otto Brusatti, der 1999 die große Johann-Strauss-Ausstellung „Unter Donner und Blitz“ im Wien Museum kuratiert hat, findet zu Strauss durchaus ungewöhnliche Zugänge.

Johann Strauss hatte ursprünglich keine Ambitionen als Bühnenkomponist. Angeblich soll er von seinem Kollege Jaques Offenbach dazu angeregt worden sein, eine erhebliche Rolle spielte allerdings auch seine Frau Jetty, die spätestens nach dem Tod der Mutter Anna zu seiner Managerin aufstieg. Viele Operettenlieder sind daher quasi Songfassungen bekannter Walzer des Komponisten. Seine letzte Operette „Wiener Blut“ ist gänzlich aus älteren Kompositionen zusammengestellt. Johann Strauss „Die Fledermaus“ wiederum ist die bekannteste und vielleicht sogar beste Operette überhaupt.

Gleich reinhören: 2.FOLGE: Wie Johann Strauss zur Operette kam

Das Nachfühlen einer Beziehung – Jaqueline Scheiber: dreimeterdreißig bei RUND UM DIE BURG am 10. Mai

Dreimeterdreißig ist die Höhe der Wiener Altbauwohnung, in der Klara eines Tages neben ihrem toten Freund Balázs aufwacht. Ein Schock zweifelsohne, doch Klara will das Offensichtliche nicht wahrhaben.

Die österreichische Autorin Jaqueline Scheiber, Jahrgang 1993, war einige Jahre als Influencerin unter dem Namen Minusgold sehr erfolgreich und arbeitete auch als Sozialarbeiterin. „dreimeterdreißig“ ist ihr erster Roman und er ist sehr poetisch geworden. Scheiber reflektiert dabei aber nicht nur die Gefühlswelt von Klara, sondern auch das Umfeld des anscheinend bestens integrierten Ungarn Balázs, der in einem Theater hinter der Bühne arbeitete. Daneben ist es auch ein Bild der Generation der jungen Menschen nach dem Zerfall des Ostblocks, das Aufwachsen in instabilen Verhältnissen. Freiheit kann bekanntlich auch überfordern. Die Erfahrung, einen nahen Menschen zu verlieren, musste die junge Autorin auch selbst machen. Trotzdem ist „dreimeterdreißig“ kein Buch über Trauer, sondern ein intensiver Roman über eine Beziehung.

Am 10. Mai wird Jaqueline Scheiber ihr Buch bei RUND UM DIE BURG (12.30 Uhr, Restaurant Vestibül im Burgtheater) vorstellen.


Jaqueline Scheiber: dreimeterdreißig
Leykam, 240 Seiten, € 25,50

Jaqueline Scheiber: dreimeterdreißig
Leykam, 240 Seiten, € 25,50

Kurt Palm eröffnet mit seinem Buch „Trockenes Feld“ RUND UM DIE BURG am 9. Mai

Kurt Palm kennt man als umtriebigen Regisseur – er machte mit Phettberg etwa die „Nette Leit Show“, Sachbuchautor und erfolgreichen Krimiautor – „Bad Fucking“ wurde auch verfilmt und für seinen ungewöhnlichen Krimi „Der Hai im System“ erhielt er den Leo-Perutz-Preis. Schon lange in Wien Neubau lebend, stammt er aus dem oberösterreichischen Neukirchen an der Vöckla. Seine Eltern waren da aber als Vertriebene lange Zeit staatenlos, sie gehörten einer Minderheit im heutigen Kroatien an und lebten im heute verfallenen Ort Kapan, was damals Slawonien genannt wurde, der größere Ort daneben Suhopolje heißt übersetzt „Trockenes Feld“ – das ist der Titel von Palms Familienbuch. Als die Deutschen Ende des Weltkrieges vor den Partisanen zurückwichen, mussten Pals Verwandte „Heim ins Reich“, kamen aber nur bis Oberösterreich, wo sich Palms Vater als Hilfsarbeiter durchschlagen musste. Der Roman ist jetzt eine Art Spurensuche, denn die meisten Angehörigen und Zeitzeugen sind bereits gestorben. Und nach dem Krieg waren bekanntlich alle daran interessiert, die Jahre der Katastrophen zu vergessen – das Thema war für Nachkommen tabu.

„Trockenes Feld“ ist bestimmt keine Autobiografie, Kurt Palms Werdegang kommt zwar vor, steht aber nicht im Mittelpunkt. Vielmehr fragt sich der Autor, wie seine Eltern die schweren Schicksalsschläge meistern und dabei ihren Kindern eine beste Ausbildung ermöglichen konnten. Vieles aus der Kriegszeit muss dabei im Dunklen bleiben. Palms Vater wurde für die SS-Polizei zwangsrekrutiert, hatte aber das Glück, nicht an der Ostfront kämpfen zu müssen. Eine relativ leichte Verwundung rettete ihm wahrscheinlich das Leben. In Kapan wäre er hingegen von den Partisanen ermordet worden. In Österreich tut die Familie alles, um möglichst schnell als Einheimische zu gelten. Bis zum Speiseplan orientiert man sich an den Nachbarn. Das Buch ist auch die Geschichte einer Assimilation von Staatenlosen in Österreich und erzählt viel über die politische Stimmung nach dem verlorenen Krieg.

Eine zentrale Rolle spielt auch die Tragödie von Kurt Palms Bruder Reinhard. Der erfolgreiche Dramaturg und Übersetzer nahm sich 2014 im Alter von 56 Jahren im Wald von Neuwaldegg das Leben – der Selbstmord schien sorgfältig vorbereitet.

„Trockenes Feld“ ist der Versuch, Herkunft aufzuarbeiten. Besonders spannend ist etwa der Besuch des Autors mit seiner Schwester in Kapan, das heute kaum mehr existiert. Sie treffen da auf einen Einheimischen, der ihnen Gräueltaten der Wehrmacht erzählt. Ein wichtiges und interessantes Buch für alle, die an der verdrängten Geschichte Österreichs und Jugoslawiens interessiert sind.

Am Freitag, 9. Mai, wird Kurt Palm um 16 Uhr im Café Landtmann RUND UM DIE BURG eröffnen. Der Eintritt ist wie immer frei!


Kurt Palm: Trockenes Feld
Leykam, 304 Seiten
€ 26,50

„Das Vermächtnis“ von Matthew López in der Josefstadt

Bild: ©Philine Hofmann

Es ist schon ungewohnt, sich an einem Samstagnachmittag um 15 Uhr zu einem Abend im Theater einzufinden. „Das Vermächtnis“ von Matthew López wird im Theater in der Josefstadt am Wochenende mit 3 Pausen in einem Stück und unter der Woche an zwei Abenden aufgeführt. Und es zahlt sich aus, sich darauf einzulassen.

Keine Frage: Das Drama um homosexuelle Freunde in New York ist in seiner Dramatik sehr amerikanisch. Matthew López weiß, wie man das Publikum unterhält, in Häppchen leicht schockiert, Spannung aufbaut und auch länger halten kann. Das Ende erinnert dann sowieso gleich an eine der berühmtesten Schlussszenen der TV-Serien, nämlich die Fahrt der jungen Claire Fischer zum Flughafen, in der wir gleich die zukünftigen Todesstunden aller Figuren miterleben.

Der größte Teil der Geschichte spielt in den letzten Tagen mit Obama als Präsident, als alle auf den Sieg von Hilary Clinton warten und es nicht fassen können, dass Trump als neuer Chef im Oval Office einziehen wird. In Rückblicken wird aber die Entwicklung der Schwulen-Bewegung seit Aids erzählt. Durch die aktuellen Entwicklungen in den USA wirkt das alles andere als antiquiert.

Im Kern geht es um die Liebe zwischen den sehr ungleichen Männern Eric und Toby – sehr einfühlsam gespielt von Martin Niedermair und Raphael von Bargen. Eric ist der stabilere, gefasstere, während Toby die Traumata seiner Kindheit in sich trägt und als Bühnenautor nach einem Erfolg giert. In diese langjährige Beziehung platzt der blutjunge Adam – Sohn aus reichem Haus, der Schauspieler werden will. Nils Arztmann löst die knifflige Aufgabe, sowohl diesen Adam als auch einen jungen Stricher, der Adam gleicht, zu spielen, den sich Toby nach seiner Trennung mit Eric bestellt, weil er sich eigentlich nach Adam sehnt, bravourös.

Quasi als älteres Spiegelbild von Eric und Toby dient das soignierte Paar Walter und Henry, das bereits 36 gemeinsame Jahre hinter sich hat – souverän gespielt von Ulrich Reinthaller und Joseph Lorenz. Als Walter stirbt, entwickeln Henry und Eric eine tiefere Freundschaft, die dann in einer Ehe münden soll. Aber auch gesellschaftspolitisch dreht sich alles weiter. Das Haus von Walter, in dem dieser verzweifelte obdachlose Aids-Kranke aufgenommen hatte, wird zur Metapher der Menschlichkeit als Eric dann den verwahrlosten Stricher Leo dort aufnimmt. Ja, auch Kitsch bekommt man in diesem Drama nicht zu knapp – aber immer noch in gerade ertragbaren Dosen. Zweifelsohne muss man sich auf „Das Vermächtnis“, das zurecht zahlreiche Preise eingeheimst hat, einlassen. Die Belohnung für den Zeitaufwand (auch wenn es zugegebenermaßen im 2. Teil ein paar Längen gibt) ist ein wirklich packendes Theatererlebnis.


Karten und Infos: josefstadt.org

Ein junger Iraner in den USA stellt sich diversen Traumata – Kaveh Akbar: Märtyrer!

Ein Roman, der viel will, einiges auch bringt, sich aber auch leicht verzettelt. Kaveh Akbars „Märtyrer!“ wurde von der New York Times und anderen Zeitungen viel gelobt und stand auch auf der Longlist des National Book Awards. Erzählt wird die Geschichte des jungen Iraners Cyrus, der als Baby mit seinem Vater in die USA gekommen war, nachdem seine Mutter in einem Flugzeug, das die US-Army irrtümlich abgeschossen hatte, ums Leben gekommen war. Cyrus ist ein begabter Student, will Dichter werden, verfällt aber dem Alkohol und der Drogensucht. Sein Vater, ein hart arbeitender Migrant, stirbt, als er aufs College kommt. Mithilfe der Anonymen Alkoholiker wird Cyrus trocken, was ihm aber weiterhin fehlt, ist ein Ziel im Leben. Als Verwandtschaft bleibt ihm ja nur noch sein Onkel im Iran, der als Veteran des brutalen iranisch-irakischen Krieges nur noch so dahinvegetiert. Immerhin schreibt Cyrus Gedichte und zunehmend interessiert ihn die Idee des Märtyrertums. Nicht die sinnlosen muslimischen Terroristen – Cyrus ist nicht sonderlich gläubig – sondern Menschen wie Jeanne d’Arc oder die Menschen, die sich in Peking und Prag den Panzern gestellt haben. Er will sterben, aber sein Tod soll einen Sinn haben. Sein Freund Zee – Cyrus ist irgendwie bisexuell – erzählt ihm von einer Künstlerin, die als schwer Krebsleidende im Brooklyn-Museum sich tagtäglich den Fragen des Publikums stellt. Cyrus muss sie sprechen…

„Märtyrer!“ ist kein linear erzählter Roman, Kaveh Akbar bringt immer wieder Träume und die Geschichten anderer ein – etwa Cyrus Onkel, Mutter und Vater. Das ist an sich interessant, denn seine Hauptfigur ist irgendwann auserzählt. So soll sein Onkel im Krieg als schwarzer Engel über die Schlachtfelder geritten sein, um den Sterbenden den Trost des Jenseits vorzugaukeln. Am Ende bringt Akbar dann noch einen Knüller um die Mutter von Cyrus – sie ist nämlich jene berühmte sterbende Künstlerin mit der Cyrus die langen Gespräche führen kann. Das scheint ein wenig zu dick aufgetragen, die Story einer bettelnden und stehlenden Migrantin, die zum Kunststar wird, wirkt wenig glaubhaft. Trotzdem: Kaveh Akbar schafft einen Einblick in das Gefühlsleben eines jungen Iraners in den USA und macht deutlich, wie verschieden Menschen sein können, die nebeneinander leben.


Kaveh Akbar: Märtyrer!
Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs
Rowohlt, 400 Seiten, € 25,50

Freudloses Studentenleben mit Mord – Michael Köhlmeier: Die Verdorbenen

Eine Geschichte, die nachdenklich macht: Der Ich-Erzähler Johann berichtet von seiner Studentenzeit in Marburg in den 70er-Jahren, als er plötzlich von einer Kollegin – Christiane –, die er kaum kennt und die ihn auch nicht interessiert, offenbart bekommt, dass sie ihn liebt.

Das hätte schnell geklärt sein können, doch Johann ist ein Unentschlossener. Als er sie später wiedersieht, werden sie doch in irgendeiner Weise ein Paar, allerdings ein höchst ungewöhnliches. Denn Christiane ist seit Kindergartenzeit gleichzeitig mit Tommie zusammen, der Christianes Entscheidung gegen ihn aber zu akzeptiere scheint. Bloß zieht Tommie dann doch bei ihnen ein. Sowohl Christiane als auch Tommie scheinen emotional gestört und eines nachts flieht Johann ohne Ziel als er die beiden auffordert, miteinander zu schlafen und sie das auch tun. In Belgien schläft er in einem Strandkorb, wo er von einem Mann überfallen wird. Johann kann sich wehren und tötet den bereits Wehrlosen. Damit schließt sich ein Kreis, denn Johann hatte seinem Vater auf die Frage, was denn sein Wunsch an das Leben wäre, antworten wollen: Ich möchte einmal einen Menschen töten… Die Pointe will ich aber natürlich nicht verraten. 

Michael Köhlmeier ist meiner Meinung nach am besten bei kürzeren Erzählungen. „Die Verdorbenen“ könnte gut auch als Novelle bezeichnet werden. Eine Novelle ist, nach Goethe, „eine sich ereignete unerhörte Begebenheit“. Das passt hier ganz gut, aber Roman verkauft sich wohl besser. In dieser Geschichte scheint kein Satz zu viel und keiner zu wenig. Und natürlich geht es um die ganz großen Themen: Was ist das Böse, was ist ein Leben ohne Liebe wert und was braucht es, um böse zu werden? Das alles entwickelt eine Zwanghaftigkeit wie eine antike Tragödie.


Michael Köhlmeier: Die Verdorbenen
Hanser Literaturverlage, 160 Seiten, € 24,50

Joachim Meyerhoff wieder an der Burg – er spielt in „Der Fall McNeal“ von Ayad Akhtar einen narzisstischen Autor

Bild: ©Tommy Hetzel

Überraschung schon bevor es überhaupt losgeht: Das Publikum sieht sich selbst gespiegelt, aufgenommen von einer Kamera und auf die Riesenleinwand im Hintergrund der Bühne projiziert. Und der Held des Dramas, der erfolgreiche Schriftsteller Jacob McNeal, macht dann auch gleich Selfies – wie übrigens ein großer Teil des Publikums vor Beginn auch. Willkommen in der schönen neuen Multimediawelt.

Doch dann wird es ernst, teilt ihm doch seine Ärztin mit, dass seine Leber seinen Alkoholkonsum nicht mehr lange mitmachen wird. Noch auf der Untersuchungsliege erreicht ihn ein Anruf aus Stockholm – er erhält den Literaturnobelpreis.

Nun ist McNeal freilich ein sehr spezieller Autor. Er ist überheblich, saugt die Erlebnisse seiner Mitmenschen literarisch aus wie ein Vampir und er benützt sogar KI – und das, obwohl er in seiner Nobelpreisrede, die wir miterleben können, von den Schwächen der KI und der Überlegenheit der Dichter schwafelt. Anscheinend ist er auch noch faul. Als größter Akt der Aneignung wird die Verwendung eines Manuskripts seiner verstorbenen Frau – sie hat Selbstmord begangen – für sein aktuelles Buch. Nachdem sie ja alles miteinander besprochen hätten, wäre es schließlich auch sein Buch… Damit mussten Frauen wohl die letzten Jahrhunderte immer rechnen. Und dieser Autor kennt die Literaturgeschichte bestens – alle Großen haben schließlich abgeschrieben, Stücke umgeschrieben, sich Zitate ausgeborgt wird er nicht müde zu referieren.

Joachim Meyerhoff – inzwischen ja selbst Bestsellerautor – spielt diesen hemmungslosen, selbstverliebten Dichter wunderbar stringent. Es ist sein Abend, er ist zwei Stunden lang in allen Szenen im Einsatz. Und natürlich besitzt er auch die Portion Charme, ohne die ein solches Monstrum ja kaum denkbar wäre. Allzu peinliche Gefühlsausbrücke umschifft er aber gekonnt.

Nur 4 andere Darsteller braucht es, 2 spielen Doppelrollen. So ist der durch den Film „Im Westen nichts Neues“ berühmt gewordene Felix Kammerer nicht nur McNeals Sohn, sondern auch die etwas unbedarfte Assistentin von McNeals Agentin, die von Dorothee Hartinger gespielt wird. Zeynep Buyraç ist sowohl seine kühle Ärztin als auch die von ihm emotional ausgesaugte Geliebte in der Schlussszene. Schließlich die afroamerikanische Reporterin der „New York Times“ – Safira Robens –, der McNeal schon ziemlich betrunken erzählt, dass er Harvey Weinstein bewundert. 

Regisseur David Bösch setzt ziemlich flächendeckend Videotechnik ein, wohl aus dem oben genannten Grund (Bühnenbild Stephane Laimé, Komponist Arno Kraehahn). Das lenkt bisweilen mehr ab, als es erhellend wirken könnte, zumal „Der Fall McNeal“ ein klassisches Konversationsstück ist, was bestimmt auch zum großen internationalen Erfolg beigetragen hat. Die deutsche Übersetzung stammt von Daniel Kehlmann. Langer Applaus!

Infos & Karten: burgtheater.at

Laudatio für Peter Sengl zu seinem 80. Geburtstag

Von Michael Schottenberg, gesprochen in der Galerie Suppan zur Eröffnung der Ausstellung am 4. März. | Foto: Peter und Susi Sengl. ©Willi Denk

Ich kenne einen Jongleur, der wirft sich einen kleinen Löffel auf die Stirn, und er bleibt stehen. Was für eine Umkehrung der Natur. Das Löffelchen widerspricht jeder Schwerkraft. Ich weiß nicht, weshalb das Leben manchen schwer fällt und manchen leicht. Der heute zu belobende Künstler ist einer, der in Permanenz Löffelchen auf seine Stirn wirft, und alle bleiben sie stehen. Er kann etwas, was sonst kaum einer kann. Er schmiegt sich quer durch alle Stilrichtungen, trotzt seit Jahrzehnten höchst erfolgreich jenen, die alles wissen und alles können und doch nicht den Mumm haben, herauszutreten aus dem Schatten der engen Gassen, wo sie als Nager überleben, immer die nächste Wade im Visier, um darüber herzufallen, sich zu ihr zu verbeißen und ihr Opfer zu Fall zu bringen, um so ihr eigenes Überleben zu sichern.

Peter Sengl ist und bleibt nicht zu übersehen. Auf dem Weg in sein Atelier, bei Premieren, Vernissagen, auf Unauffälliges wird verzichtet: Perfekt geschnittene Anzüge, Hingucker, sind sein Markenzeichen. Mal in sattem purpurrot, als wäre der Leibhaftige im Hause Gaultier auf einen kleinen Stepp vorbeigekommen. Mal in wellensittich-gelb-schwarzem Karo, als wäre er extravaganter Schrittmacher einer Tanzformation im Sambadrom zu Rio. Peter Sengl ist wandelnde Haute Couture. Die Anzugfarben findet man übrigens auch in seinen Rückzugsorten wieder. Obwohl: Die Grundfarbe seiner Bilder ist zumeist Rot.

Kleiderbewusstsein besaß der Halbwüchsige schon in der Mittelschule in Graz. Oder sollte es heißen: Der Fetisch „besaß ihn“? Tatsächlich hat es etwas von Besessen-heit, die ihn von klein auf gefangen hält. Im Laufe der Jahre hat Sengl sich als eigene Kunstfigur erfunden. Nicht nur in vorzugsweise asiatischen Lokalen lümmelt er nachlässig hingegossen, mit übereinander geschlagenen Beinen herum.  Auch auf seinen Bildern tut er es. Er „besitzt“ sie, im wahrsten Sinne des Wortes. Zwischen nackten Frauen, dämonisierten Gestalten oder in nachgemalten Vorlagen berühmter Malerkollegen. Da hockt er dann und kennt kein Pardon. Wo Sengl rein will, kommt Sengl auch rein. Und ist er dann drin, werden die Sujets, garniert mit seiner ihm eigenen Skurrilität, nur noch surrealer – und die Aschenbecher voller. Er raucht die dünnsten Kippen der Welt. Sengls Begeisterung für filigrane Zigarettensorten ist legendär. So schmal sind sie, dass man sich erstens fragt, wo er sie um Himmels Willen herhat und zweitens, ob es sich überhaupt lohnt, sie anzustecken. Ohne Humor und hochkonsequent arbeitet er an ihrer Vernichtung. Voller Geringschätzigkeit schnippt er die Asche von sich, als gelte es sie zu demütigen. Wie einem Ritual folgend lässt er unmittelbar darauf sein schönes Ronson-Feuerzeug zwischen den Fingern erscheinen und zündet, nachdem die halb gerauchte Kippe in schönem Schwung im Aschenbecher landet, erneut eine der Superschlanken an, um das laszive Spiel genussvoll von Neuem zu beginnen.

Peter Sengl, du „Maß-Schneider in eigener Sache“, wie du einmal liebevoll genannt wurdest, du Dandy-Raucher, du spitzbübischer Überlebenskünstler, du Gesamtkunstwerk, du achtzigjähriges, lass dich feiern heute – umgeben von deinen Werken, deinen Freunden und all denen, die dich beneiden. Denn davon sind einem Jeden jede Menge zu gönnen.

Wir beide kennen einander aus der Klingklang-Zeit zu Ende der grauen 1970er, als Hans Gratzer Wien mit einem neuen Kultort nachhaltig veränderte: das Schauspielhaus. Dort stand nächtelang, jahrelang ein Paar an der Bar – sie, eine prachtvoll erotische Frauensperson, schön und malenswert, er, ein aufsehen-erregender Mensch in grellbunten Anzügen, beide Gallonen von Weißwein vernichtend – ein Paar, wie von einem anderen Stern. Ich war damals ein gertenschlankes, unerfahrenes, halbhübsches Wesen, das seine ersten Schritte auf eben dieser Bühne tat, die Sengls waren stadtbekannte glamouröse Künstler, die sich mir auf der Netzhaut einbrannten. Auch nur ein einziges Bild von ihnen zu besitzen war der unerreichbare Wunsch meiner frühen Jahre. Es sollten zwei werden. Sengl schenkte mir eines, und verkaufte mir ein anderes. Immer noch hüte ich sie wie einen Schatz, trotzdem noch weitere, in eben diesem Verhältnis dazugekommen sind. Peter Sengl ist gleichermaßen unerreicht großzügig, wie nachvollziehbar geschäftstüchtig.

Auch später, lange nach dieser Pionierzeit, haben sich unsere Wege immer wieder gekreuzt, ziemlich oft sogar. Umso mehr freue ich mich, dass ich hier im Rahmen dieser opulenten Ausstellung anlässlich deines unaussprechlichen Geburtstages zu dir und über dich sprechen darf. Eines haben wir beide gemeinsam: Ich bin auf der Bühne geboren. Und du nicht weit davon entfernt, im Zuschauerraum. Damals liebtest du das Theater mindestens so wie ich. Was uns trennte, war die Rampe. Aber auch nur imaginär.

Deine Bilder nämlich sind hochtheatralisch. Sie haben etwas von Weltwunder-maschinen. Menschen werden von scheinbar höherer Macht verschraubt, vernietet, verkettet, mittels Halseisen zu Posen gezwungen, von Pfeilen durchpflockt, von Fauna und Flora umwachsen. Dies alles aber macht sie offensichtlich nicht leiden, im Gegenteil. Durch den Schmerz in einen schwerelosen Schwebezustand befördert, bewohnen sie eine postmodern-farbenfrohe Fortschreibung einer Welt die von Kubin, Seurat, Redon inspiriert scheint, und die von Sengl in eine hochglänzende Schule neuer Sinnlichkeit überführt wird – eine Welt die der Künstler seinen Geschöpfen verordnet und zu deren Mittelpunkt er selbst wurde. In Kompanie übrigens mit seiner wunderbaren Frau, Susanne Lacomb, die immer schon weit mehr war als bloß Muse. Selbst eine hochsensible Künstlerin, ihre gemeinsame Tochter Deborah, die dritte im Künstlerbunde, hat sie nicht umsonst einmal als „Konzeptkünstlerin der ersten Stunde“ bezeichnet, hat sie sich und ihr Leben dem Herrn Sengl verschrieben. Oder sollte es besser heißen: Sie haben einander gesehen, sich aneinandergeschmiegt, ineinander verschlungen, bis sie sich in einem unentwirrbaren Kokon ihrer selbst wiedergefunden haben. Beseelt von praller Lebensfreude bauen sie unentwegt an einer Welt voller Wunder und bewohnen sie selbst auch. Man möchte mit eintauchen in dieses verrätselte, anziehend elegante Unbewusste. Man sehnt sich geradezu danach, Teil einer Welt zu sein, die so postkartengrell verführerisch ist wie die Geschöpfe, die sie bewohnen – voller Leben und Erotik.

Sengls Werk und sein Lebensumgebungsstil lässt an Herzmanovsky-Orlando denken. Ihr habt eines gemeinsam: Die überbordende Anmutung verknüpft mit der Lust am Absurden. Dazu kommt noch das herrlich verkauzte Spiel mit Bildtitel, die in Ecken gekrakelt werden: „Sackaufbläser im Blumenkranz“, „Ein kleiner Anpumperer kann sich im Erdbeer-Nacht-Amphibien-Aufzuchtraum selbst an den Ohren in die Höhe ziehen“, „Tiermenschalpenwaldrebekasten“, oder „Schuhspitzenverlängerungs-tänzer“, wie du eines meiner Bilder benanntest. Oft allerdings ist die Gegenständlichkeit der Titel auf der Leinwand gar nicht mehr sichtbar. Der Künstler hat die Lust daran verloren – und hat sie übermalt.

Und dann noch die Unmenge an Bildern in deinem Atelier! In Regalen, Schubläden, an den Wänden, in allen Ecken, an allen Enden hängen, stehen, lehnen und lagern sie. Wie zum Leben erweckte Zeugen innerer Umtriebigkeit und nicht enden wollender Energie. Und immer griff- und servierbereit: Die gut gekühlte, frostbeschlagene, in Flaschen abgefüllte Lebensfreude. Weißburgunder, Rotgipfler, Welschriesling. Dazwischen überall und unübersehbar – die Menge überfüllter Aschenbecher.

Für mich bist du ein aus der Barockzeit herüber geretteter Mensch mit großer, unzerstörbarer Lust am Leben, immer auch im Bewusstsein deiner Endlichkeit. Du bannst den Tod, indem du ihn malst, festschraubst, fixierst. Und diesem Bild gibst du den Titel: „Der Tod ist schwarz, gelb, blau und rot, dennoch ist der Tod nicht tot.“ Das hat etwas trotzig-anarchisches, zugleich auch konservativ-religiöses an sich. Nicht von ungefähr. Sengls Vater war Pfarrer und Beichtbeauftragter seiner ursprünglichen Familie. Ein liebenswertes, Tartuffe’sches Wesen. Er hatte Peters Mutter in einem Cabrio das Chauffieren beigebracht. Die Lektion endete in gegenseitiger Annäherung. Das ansehnliche Ergebnis war Peters älteste Schwester. Für den neuen Herrn Papa bedeutete dies aber auch gleichzeitig das Ende der Soutane. Hinter vorgehaltener Hand wird erzählt, dass der kleine Peter in Unterbergla, in der Weststeiermark, in einer Gemischtwarenhandlung zur Welt kam – auf einem Mehlsack (nach abermaliger Cabrio-Lektion). Es könnte sein, dass dies in späteren Jahren zu einer Phobie geführt hat. Mails zu beantworten ist nicht seins. Auch WhatsApp lehnt er ab. Da bleibt er stur. Er bevorzugt das Gespräch. Bei einem wohl temperierten Glas Wein.

Peters Sengls Geheimnis um die Leichtigkeit des Löffelchens kann ich mir immer noch nicht erklären. Aber wie ein guter Zauberer seinen besten Trick nicht verrät, nimmt Sengl sein Geheimnis in sein verwunschenes Atelier mit und heißt die Welt einen Narren.

Als Senglerianer alter Schule darf ich mich im Namen aller im Klub Befindlichen bei der Direktion des Hauses bedanken. Peter, ich wünsche dir noch eine Menge Löffel auf die Stirn und Ihnen, verehrte Damen und Herren danke ich für die Aufmerksamkeit – wissend, dass ich weder Kunstexperte bin, noch mich dazu berufen fühle, Sengls Werk zu kommentieren. Nichts anderes hatte ich im Sinn, als ein wenig aus dem Nähkästchen zu plaudern, wenn auch aus einem Jahrzehnte alten – aus Bewunderung meinen allerbegabtesten Freunden gegenüber. Ich verwende die Mehrzahl. Täte ich es nicht, ich würde denen, die denselben Namen tragen, nicht gerecht werden. Denn es ist eine dreifaltige, faltenfrei verschworene Einheit: Die Löffelchen werfenden Sengls. 


Die Ausstellung „Peter Sengl – Sein Universum zum 80iger“ ist in der Galerie Martin Suppan, Palais Coburg, Seilerstätte 3C, 1010 Wien bis 22 April nach Vereinbarung zu sehen: suppanfinearts.com