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Otto Brusatti: „Anlass Strauss 200“ in Baden bei freiem Eintritt

Am Sonntag, 26. Oktober 2025, 19.30, lädt Otto Brusatti zu einem besonderen Abend für Johann Strauss in das Park Hotel in Baden. Zum 200. Geburtstag des Meisterkomponisten spielen DIE WIENER – im besonderen philharmonischen Klanggewand. Dazu gibt es u.a. Texte der Elfriede Jelinek – dargebracht von Eszter Hollósi – und das heuer im echomedia buchverlag erschienene Buch von Otto Brusatti „Anlass Strauss 200“ wird vorgestellt. Der Eintritt ist frei!

Die Veranstaltung ist Teil von Otto Brusattis THEATER-, MUSIK- und LESEHERBST  2025

Die Serie 2025 ist wiederum Teil des seit langem laufenden Projektes

Literatur, Musik und Kunst als Wille, Vorstellung, Mut und Sünde –

Achse Baden/Halle/Berlin/Wien.

26. Oktober, 19.30 Uhr

Park Hotel, Kaiser Franz Ring 5 – 2500 Baden

Der Ohrenzeuge – Zum 120. Geburtstag des Nobelpreisträgers Elias Canetti

Der Justizpalastbrand 1927 soll Elias Canetti zu seinem philosophischen Hauptwerk „Masse und Macht“ angeregt haben. Der zu dieser Zeit noch völlig unbekannte Autor lebte damals in Wien. Geboren als Nachfahre spanischer Juden in Bulgarien studierte an der Wiener Universität Chemie, obwohl ihn das Fach nicht wirklich interessierte. Auch in seinem in Wien spielenden großen Roman „Die Blendung“ (unbedingte Leseempfehlung!) spielt das Feuer eine große Rolle. Der Sinologe Kien verbrennt inmitten seiner geliebten Bibliothek.

Canettis Werk kann von den zentralen Ereignissen und Personen des 20. Jahrhunderts eben nicht getrennt werden. Der Hanser Verlag bringt jetzt – zum 120. Geburtstag Canettis – die ersten zwei Bände einer neuen kritischen Werkausgabe, nämlich „Der Ohrenzeuge“ und „Die gerettete Zunge“ heraus. Canettis umfangreiche Autobiografie umfasst 4 Bände – in „Die gerettete Zunge“ erzählt er von den ersten Jahren seines Lebens in Rustschuk, Manchester, Zürich und Wien – im Anhang wurden Texte aufgenommen, die Canetti nicht in der Erstausgabe publizieren wollte. Der Autor erweist sich darin als ein großer Erzähler, wobei seine nicht unerhebliche Selbstverliebtheit manches maximal subjektiv erscheinen lässt. Canettis Autobiografie war zudem sein wahrscheinlich größter Bucherfolg und lässt sich auch heute noch mit viel Gewinn lesen. Die 50 Charaktere, die Canetti in „Der Ohrenzeuge“ beschreibt, zeigen den Autor als Satiriker in der Nachfolge von Karl Kraus, den er in seinen Wiener Jahren sehr bewunderte. In dem 1975 erstmals erschienenen Werk porträtiert er Typen von Zeitgenossen anhand ihrer prägenden Eigenschaft – „Namenlecker“ könnte man heute als „promigeil“ bezeichnen, Menschen, die gerne nationale Denkmäler anpinkeln, heißen bei ihm „Heroszupfer“. Auch das lässt sich mit einem Schmunzeln konsumieren.

Die Vorteile einer kritischen Ausgabe kommen vor allem bei „Die gerettete Zunge“ zum Tragen, denn die Anmerkungen sind umfangreich und wichtig, denn hier werden etwa auch Persönlichkeiten erklärt, die heute niemandem mehr geläufig sind.

Elias Canetti: Das Gesamtwerk, Zürcher Ausgabe  

Band 4: „Der Ohrenzeuge – Fünfzig Charaktere“, herausgegeben von Heide Helwig,

Hanser, 208 Seiten, € 37,95

Band 5: „Die gerettete Zunge – Geschichte einer Jugend“, herausgegeben von Sven Hanuschek und Kristian Wachinger, 540 Seiten, € 48,95

Der perfekte Täuscher – Jean-Noël Orengos Albert-Speer-Roman „Der Architekt und sein Führer“ 

Albert Speer war der einzige aus dem innersten Kreis von Adolf Hitler, der in Nürnberg der Todesstrafe entging. Dem Liebling des Führers und Rüstungsminister wurde tatsächlich geglaubt, dass er von der maschinell betriebenen Judenvernichtung nichts gewusst hatte. Historikerinnen und Historiker haben das längst widerlegt, doch Speer rettete sich durch seine Beredsamkeit und seinem höflichen Auftreten nicht nur vor der Schlinge – er wurde nach seiner Entlassung aus Spandau 20 Jahre danach sogar zum Liebling der Medien und wohlhabender Millionenautor.

In Frankreich wurde nun der jüngste Roman von Jean-Noël Orengo über Albert Speer „Der Architekt und sein Führer“ nicht nur für den Prix Goncourt nominiert, sondern auch zu einem Bestseller. Orengo faszinierte vor allem, dass Speer zeitlebens die Deutungshoheit über seine selbst zurechtgezimmerte Geschichte behielt. Und natürlich, dass das Monstrum Hitler noch immer Menschen zu faszinieren vermag. Während früher gescheiterte Herrscher aus den Annalen sorgsam getilgt wurden, gilt für die Moderne der Star-Bonus. Die Millionen Opfer sind vergessen, die Täter werden oft mit einem wohligen Schauer betrachtet.

„Der Architekt und sein Führer“ erzählt, wie Speer zu Hitlers Favoriten wurde. Beim ersten großen Nürnberger Parteitag schuf er die perfekte Bühne für sein Idol. Als Architekt fühlte er sich mit dem gescheiterten Künstler Hitler verwandt und auch der Führer war von Speers Ruinenästhetik begeistert – die neuen Gebäude für die Hauptstadt Germania – das frühere Berlin – sollte so gebaut werden, dass sie schöne Ruinen abgeben. Auch historisch bewanderte Leser können dabei Neues erfahren. Etwa dass das Dritte Reich erst sehr spät auf Kriegsproduktion umstellte und Goebbels Totaler Krieg tatsächlich etwas bedeutete. Als Herr über die Rüstungsindustrie und einem Heer von Zwangsarbeitern stand Speer mittendrin. Im Nachkriegsdeutschland wurde Speer dann wieder zum Star und schaffte es sogar, seine erste Biografin, eine Wienerin mit jüdischer Herkunft, die es geschafft hatte, vor Hitler nach England zu fliehen, fast bis zuletzt zu täuschen. Ein Buch auch über Medienmacht, das nachdenklich macht.

Jean-Noël Orengo: „Der Architekt und sein Führer“ Aus dem Französischen von Nicola Denis. Rowohlt, 272 Seiten, € 25,95

100 Jahre später und jetzt – Ian McEwans Dystopie „Was wir wissen können“

Ausgerechnet ein Literaturwissenschaftler erzählt im neuen Roman des englischen Bestsellerautors Ian McEwan („Amsterdam“, „Der Trost von Fremden“) „Was wir wissen können“ – und das auch eher beiläufig – 2119 aus dem Blick von 100 Jahren später von den Katastrophen des 21. Jahrhunderts. Diverse Kriege und Überschwemmungen machten die Welt nicht eben besser, aber immerhin gibt es Heilung für Krankheiten wie Alzheimer und Drogen für den Seelenfrieden. Der Schreibprofi wusste wohl, dass diese Dystopien längst auserzählt sind und schrieb daher ein Buch über ein absolutes Orchideenthema: Der Dichter Francis Blundy soll Anfang des 21. Jahrhunderts beim Geburtstagsessen für seine Frau Vivian einen Sonettenkranz vorgelesen haben, der danach als perfekte Dichtung ebenso mythisch wie unauffindbar geworden ist. Im ersten Teil des Romans forscht Thomas Metcalfe mehr und mehr besessen nach diesem Gedicht, wobei er sich immer mehr mit Bundys Ehefrau Vivien fast krankhaft identifiziert. Am Ende findet er tatsächlich eine Zeitkapsel mit einem Text von Vivian, die damit endgültig zu McEwans Hauptperson wird. Dieser Text – eine Art Tagebuch – bildet den zweiten und eigentlich interessanteren Teil. Im Zentrum steht Vivians Beziehung zu ihren Männern und Liebhabern – die Literaturwissenschaftlerin war nämlich in erster Ehe mit dem liebevollen Geigenbauer Percy verheiratet, der leider früh an Alzheimer erkrankte. Vivian findet in Blundy und seinem Schwager Harry nicht nur sexuelle Zerstreuung, sondern kann mit den beiden auch ihren intellektuellen Hunger stillen, denn Percy interessiert sich nicht für Literatur. Aus dem Liebesverhältnis von Vivien mit Blundy wird schließlich nach einem naheliegenden Verbrechen ein düsteres Bündnis.

„Was wir wissen können“ ist bestimmt nicht der beste Roman des Autors, man wir schnell müde, die x-te Dystopie zu lesen – das Genre scheint in letzter Zeit viel zu strapaziert worden zu sein. Am gelungensten ist die Schilderung des akademischen Freundeskreises um Blundy, den wir als etwas gockelhaften Intellektuellen mit einem kaum gezähmten Hang zur Überheblichkeit erleben. Witzig ist der Blick auf die Gegenwart aus der Perspektive der Zukunft allemal. Die Eheprobleme des Erzählers im ersten Teil scheinen freilich zu klischeehaft. Und Vivien? Nun, im ersten Teil erscheint sie als selbstlose Frau, die ihre wissenschaftliche Karriere für ein Genie opfert. Im zweiten Teil – in dem sie selbst spricht – wird ihr Bild differenzierter. McEwan zeichnet einen Menschen, der in seinen Leidenschaften und Vorstellungen gefangen ist – so wie wir alle eben. Und das ist dann wieder beste Literatur.

Ian McEwan: Was wir wissen können. Aus dem Englischen von Bernhard Robben, Diogenes, 470 Seiten, € 28,80

Ein Turm aus Träumen und Erinnerungen – Fergus Sweeneys Roman „Jimmy’s Brilliant Tower“

In Jimmy’s Brilliant Tower entwirft Fergus Sweeney ein poetisches Mosaik aus Erinnerung, Sehnsucht und magischer Wirklichkeit. Der Roman begleitet einen Suchenden auf einer emotional aufgeladenen Reise durch innere und äußere Landschaften – bewegend, mystisch und tief menschlich.

Wer einen Roman mit durchgängiger Handlung erwartet, wird enttäuscht werden. Wer sich aber darauf einlässt, mit den Figuren eine Reise mit unbestimmtem Ausgang zu wagen, wird es nicht bereuen.

Das literarische Debut des Journalisten und Musikers Fergus Sweeney Jimmy’s Brilliant Tower ist ein traumreicher Roman, der den Leser durch Zeit und Raum zieht, indem es Erinnerung, Staunen, Verlust und Sehnsucht miteinander verwebt. Die Erzählung folgt „Jimmy“ – einem Suchenden mit einem Verlangen nach etwas Transzendentalem, was er sich als seinen „brillanten Turm“ vorstellt – eine Metapher, die so real und greifbar wird wie die Menschen, Orte und magischen Momente, die sein Leben bevölkern. Sweeneys Prosa ist lyrisch, erinnert an Musik, manchmal spärlich, manchmal reichhaltig strukturiert, und beschwört sowohl die Weite der Wüste als auch die Einsamkeit des Ozeans herauf. Er wechselt mühelos zwischen der Unruhe der offenen Straße und dem Trost der tiefen Landschaft. Da gibt es „Haie mit Füßen“ und „Orte, wo Palatschinken wie eine Fußnote zu einer Lebensweise aussehen, die niemand versteht“. Was das Buch besonders fesselnd macht, ist sein Unterton des Mystischen und Magischen: Ereignisse, die fast halluzinatorisch erscheinen, schimmernd am Rand der Realität, aber verankert in menschlichen Emotionen – Hoffnung, Bedauern, Begehren. Die Struktur, nicht-linear, kann desorientieren, verstärkt jedoch das Thema des Buches: dass die Lebensreise keine gerade Linie ist, sondern ein Gewebe aus Träumen und Erinnerungen. Obwohl einige Handlungsstränge unvollendet bleiben, möglicherweise absichtlich, macht die emotionale Wahrhaftigkeit des Romans allfällige Mehrdeutigkeit wett. Insgesamt ist Jimmy’s Brilliant Tower eine eindringliche, wunderschöne Meditation über Bestrebungen, Zugehörigkeit und die Form unserer inneren Landschaften. Das Buch ist online (Link zu https://www.amazon.de/Jimmys-Brilliant-Tower-Fergus-Sweeney/dp/B0FM7RQK6N) und in der Buchhandlung phil (1060 Wien, Gumpendorfer Strasse 10-12) verfügbar. 

Von Ursula Scheidl

Wüstendramen – T. C. Boyles toxische Dreiecksgeschichte „No Way Home“

Die größten Tragödien spielen sich vielleicht doch unter stinknormalen Zeitgenossen ab. In seinem neuen Roman „No Way Home“ erzählt T. C. Boyle aus der Sicht eines Arztes in Ausbildung aus L.A. (Terence), einer unter prekären Verhältnissen lebenden Rezeptionistin eines Krankenhauses einer Kleinstadt bei Las Vegas (Bethany) und eines motorradfahrenden Schönlings, der sich zum Lehrer herablässt (Jesse). Mehr braucht es nicht, um eine toxische Mischung herzustellen, in der alle schuldig werden und anderen weh tun wollen.

Terence erbt das Haus seiner Mutter in Boulder City, einem Städtchen am Rande des Hoover-Staudamms. Als Städter hasst er die Wüste und will das Haus schnell loswerden, doch in einer Bar trifft er auf die sehr attraktive Bethany, die nach der Trennung von ihrem Freund Jesse gerade obdachlos ist und die kurzerhand in das Haus einzieht – gegen den ausdrücklichen Wunsch von Terence, der an seinen Arbeitsplatz in L.A. zurück muss. Als Leser weiß man sofort, dass die beiden nicht zusammenpassen und Dramen bevorstehen werden. Denn Terence ist ganz Arzt, pflichtbewusst und vielleicht etwas verklemmt. Er versucht sogar einer Obdachlosen zu helfen, die alles tut, um nicht in ärztlicher Behandlung zu geraten. Bethany liebt den Müßiggang und lange Barbesuche und deshalb passt sie auch besser zu dem impulsiven Möchtegern-Schriftsteller Jesse, der in seiner Motorradkluft überall die Blicke auf sich zieht. Drei Jahre sind sie zusammen, aber auch nach der Trennung können sie schwer voneinander lassen. Als Jesse dann Terence in den Bergen einen Schubs gibt, als er mit dem Bike vorbeibraust, zieht sich dieser eine schwere Verletzung zu, die ihn für Monate in seiner Mobilität behindert. Doch Terence ist auch kein Waisenknabe und so drängt er Jesse mit dem Auto von der Fahrbahn ab, sodass dieser zu Sturz kommt. Aug um Aug, Zahn um Zahn im 21. Jahrhundert. Sogar der Hund von Terence Mutter wird zur Waffe.

Geschickt erzählt Boyle so, dass wir die drei Figuren verstehen, aber natürlich nicht entschuldigen können. Am unsympathischsten ist Jesse, der Bethany nicht nur stalkt, sondern sie einmal sogar vergewaltigt. Am interessantesten vielleicht Bethany, die ihre Geburtsstadt liebt und von ihren Gewohnheiten nicht loskommt. Und Terence scheint eben manchmal mit seinem Schwanz zu denken. Beim Schluss muss man dann unwillkürlich an Sartres berühmten Satz „Die Hölle, das sind die anderen“ denken.

Witzig ist in diesem Roman auch, die Welt aus der Sicht eines Arztes zu sehen, der bei seinen Mitmenschen natürlich überall Krankheiten wahrnimmt – einer von Boyles Söhnen ist übrigens Arzt. Einen guten Tipp hat der Roman auch parat: Man sollte niemals jemanden so schubsen, dass er hinfällt, denn das kann böse enden.

T. C. Boyle: No Way Home. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Hanser, 382 Seiten, € 28,80

Zauberhaft & spannend – Stefan Slupetzkys Roman „Nichts wie weg“

Zauberhaft & spannend – Stefan Slupetzkys Roman „Nichts wie weg“

Sowas kann nur Stefan Slupetzky: Nämlich mühelos und elegant eine Wiener Zuckerbäckerin, die nach einer Tumorentfernung plötzlich ihren Geruchssinn und somit ihre Arbeitsbasis verliert, und einen begabten finnischen Drucker, der sein Talent zum Geldfälschen für seinen Chef einsetzt und ebenso groß wie schlecht riechend ist, zusammenzubringen. „Nichts wie weg“ ist eine Geschichte, die Leser an das Gute im Menschen und in der Welt glauben lässt. Im Nachwort wird das durch den Autor sogar begründet: „Je schlechter der Zustand der Welt, desto größer die Freude am Schreiben.“  Und diese Freude am Fabulieren merkt man Slupetzky auch in jeder Zeile dieses Romans, den man nicht mehr weglegen kann, ehe er zu Ende gelesen ist, auch an. Denn natürlich ist die Story nicht nur eine ungewöhnliche Liebesgeschichte, sondern irgendwie auch ein Krimi mit Knastszenen und albanischen Killern.

Vera Baum heißt die leidenschaftliche Kuchenbäckerin, die gleich zu Beginn sofort nach dem Verlust ihres Geschmackssinns auch ihren Mann in einer eindeutigen Situation mit ihrer besten Freundin erleben muss. Sie will nichts wie weg und verlangt bei der Scheidung bloß eine kleine Südseeinsel, die ihr Mann als Immobilienmakler der besonderen Art im Angebot hat. Blöd nur, dass die aufgrund der Klimaerwärmung bereits im Versinken ist. Doch just da begegnet sie Omni, der in Wien seine handwerklich schlecht gemachten Blüten wieder in Besitz nehmen will. Die Geschichte erlebt aber noch ganz viele Wendungen. Beste Unterhaltung, um Klassen besser als momentan im Streaming angeboten wird.

Stefan Slupetzky: Nichts wie weg. Picus, 254 Seiten, € 24,-

Die Geschichte holt uns immer ein: Marko Dinić und sein Balkan-Roman „Buch der Gesichter“

2010 veröffentlichte der US-Historiker Timothy Snyder sein vielbeachtetes Buch „Bloodlands“, in dem er das Gebiet des östliche Polens, Belarus, den Westteil Russlands, des Baltikum sowie Teile der Ukraine als die Teile Europas mit dem höchsten Blutzoll im 2. Weltkrieg festmachte. Durchaus Gebiete, in denen aktuell auch heute Kämpfe stattfinden. Aber wenn man es genau betrachtet, ist auch der Balkan ein solches Bloodland. Bekanntlich begann ja dort schon der 1. Weltkrieg und im 2. herrschte am Balkan ein brutaler Krieg, bei dem nicht nur die Nazis gegen die Bevölkerung, sondern auch die faschistischen Ustascha-Kroaten gegen die Serben und die Partisanen gegen die Besatzung kämpften. Und nach dem Tito-Jugoslawien folgte bekanntlich abermals ein blutiger Krieg, dessen Wunden bis heute nicht verheilt sind.

Marko Dinić, der in Belgrad aufgewachsen ist, aber schon lange in Wien lebt, wo er auch geboren wurde und der auch auf Deutsch schreibt, hat jetzt einen sehr umfangreichen und sehr poetischen Roman über eine Familie inmitten der Kriege geschrieben. Er erzählt mit unterschiedlichen Stimmen in acht Kapiteln die Geschichte einer jüdischen Waise, die schon im ersten Weltkrieg beginnt. Der kleine Junge Isak Ras verliert seine Mutter und wird von einem befreundeten kommunistischen Ehepaar aufgezogen. Die Story ist allerdings so komplex, dass sie unmöglich nachzuerzählen ist. Marko Dinić setzt auf starke Bilder und schildert sehr plastisch auch grausame Szenen. Mehr als einmal geht es um das nackte Überleben im Elend. Da wird etwa von Juden aus Wien berichtet, die über die Donau auf einem Schiff vor den Nazis fliehen wollen und dabei tragisch scheitern.

„Buch der Gesichter“ ist so vielschichtig, dass man das Buch mehrmals lesen kann und vielleicht auch soll. Man darf sich dabei nicht vom ersten Kapitel, in dem der Autor noch seinen Erzählton anzustimmen scheint, abschrecken lassen. Eine unbedingte Leseempfehlung für Menschen, die wissen wollen, wozu Literatur fähig ist.

Am 6. Oktober wird der Autor seinen Roman in der Alten Schmiede im Gespräch mit seinem Schriftstellerkollegen Doron Rabinovici vorstellen.

Marko Dinić: „Buch der Gesichter“, Hanser Verlag, 464 Seiten, € 28,80

Die Postmoderne ist an allem schuld – Raphaela Edelbauers Terroristenroman „Die echtere Wirklichkeit“

Alternative Wahrheiten & Fake News bestimmen schon lange den politischen Diskurs. Dass Politiker lügen, ist nichts Neues, aber dass sie frech einfach Fakten negieren und auf ihre „subjektiven Wahrheiten“ pochen, scheint erst mit den Wahlsiegen von Populisten Mainstream geworden zu sein.

In Raphael Edelbauers neuem Roman „Die echtere Wirklichkeit“ findet sich eine Gruppe von Philosophen zusammen, die die Ursache für die Aushöhlung der Wahrheit just bei den Denkern der Moderne ausmachen. Ihr Subjektivismus gewann den Kampf gegen die analytische Weltsicht, wie sie etwa Wittgenstein und Popper propagierten. Edelbauer lässt eine – allerdings höchst unzuverlässige, nach einem Autounfall auf einen Rollstuhl angewiesene Erzählerin, die sich Byproxy nennt, zufällig auf zwei Philosophen und zwei Philosophinnen treffen, die mithilfe von Terror die Gesellschaft zur Wahrheit zwingen wollen. Und zwar durch einen Bombenanschlag plus Geiselnahmen auf das österreichische Parlament und die Universität.

Das klingt ein wenig nach der dilettantischen judäischen Befreiungsfront in Monty Pythons „Das Leben des Brian“. Aber Edelbauer hat in ihrer Geschichte zusätzlich noch zwei Ebenen eingebaut, die das Erzählte desavouieren. Byproxy programmiert Computerspiele, die anders funktionieren als die gängigen. „Think backwards“ heißt es da – die Spieler müssen herausfinden, wie es zu der gezeigten Situation gekommen ist und nicht wie üblich Aliens und Monster abknallen. Weiters werden die Hintergründe des Autounfalls beleuchtet, denn Byproxy war zu dieser Zeit mit ihrer besten Freundin im letzten Schuljahr in Schweden und die Freundin ließ ihr kaum Luft zum Atmen. Sie organisierte schon eine heimliche Flucht. Gab es diesen Zwilling überhaupt, oder ist Dorothea nur eine Spiegelung der Erzählerin?  

Die vier Philosophie-Terroristen – sie nennen sich übrigens „Aletheia“ nach dem altgriechischen Wort für Wahrheit – werden zwar brav geschildert, mehr dürfte die Autorin allerdings tatsächlich die Ideengeschichte der Menschheit – von Sokrates bis zu Foucault – und dazu noch die Entwicklung des Lebens interessiert haben. Das ist dann manchmal auch spannender als die oft ermüdenden Streitereien und Heimlichtuereien in der Gruppe. Am Ende wartet Edelbauer aber doch noch ein bombiges Finale auf.

Raphaela Edelbauer: Die echtere Wirklichkeit. Klett-Cotta, 444 Seiten, € 29,95

„Sie sah aus wie eine Frau, die ihren Schönheitschirurgen auf Kurzwahl hatte.“ – der coole Thriller „Moonlight Mile“ von Dennis Lehane

Dennis Lehane, 1965 in Boston geboren und auch jetzt noch dort lebend, wurde durch seine Thriller um den Privatdetektiv Patrick Kenzie und seiner Frau Angela Gennaro in der Szene bekannt, er schreibt aber auch Krimis aus anderen Genres. Spätestens durch die Verfilmung von „Shutter Island“ 2009 durch Martin Scorsese mit Leonardo di Caprio ist er international in der Top-Liga. Inzwischen verlegt ihn der Schweizer Diogenes Verlag und so kam jetzt mit „Moonlight Mile“ auch der letzte der sechs Kenzie/Gennaro-Thriller in neuer Übersetzung von Peter Torberg heraus.

Dabei muss Kenzie eine Jugendliche finden, die er als Kind den Entführern entrissen und seiner Mutter zurückgebracht hatte. Doch der Fall war kompliziert – die Entführer waren Paradeeltern, während Mutter Helene drogensüchtig war und sich nicht um die kleine Amanda kümmerte. Amanda wird trotzdem eine Musterschülerin, bis sie mit 16 plötzlich verschwindet. Auf der Suche nach Amanda sticht der Privatdetektiv in ein Wespennest aus Identitätsdiebstahl, Babyverkauf und Drogenkriminalität. Er legt sich mit der russischen Mafia an und gerät mehrmals in Lebensgefahr.

Die Ingredienzien eines klassischen Thrillers eben, aber Lehane kann wirklich sehr gut und sehr lässig erzählen. Allein die Dialoge sind schon lesenswert. Über die Frau des Mafiapaten bemerkt Kenzie, dessen ich den Roman erzählt: „Sie sah aus wie eine Frau, die ihren Schönheitschirurgen auf Kurzwahl hatte.“ Was aber fast noch bemerkenswerter ist: Lehane erweist sich als Seismograf der US-Gesellschaft nach der Wirtschaftskrise, die auf den Börsencrash folgte – der Thriller spielt Ende der Nullerjahre und erschien erstmals 2010. Bei seinen Recherchen trifft Kenzie wiederholt Bürger, die von der Regierung und ihrem schwieriger gewordenen Leben frustriert sind und den Humus bilden werden, die dann einen Trump an die Macht spült. Das Finale ist ein echter Hardcore-Thriller. Ein Buch, das man locker an zwei Tagen liest, so spannend ist es.

Dennis Lehane: Moonlight Mile. Aus dem amerikanischen Englisch von Peter Torberg. Diogenes. 384 Seiten, € 20,95