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Das heurige Aktionsbuch „EineSTADT.EinBUCH“: Andrej Kurkows „Picknick auf dem Eis“

Das heurige Aktionsbuch „Eine STADT. Ein BUCH“: Andrej Kurkows „Picknick auf dem Eis“

Erschienen 1996 in der Ukraine und 1999 auf Deutsch (aus dem Russischen von Christa Vogel) bei Diogenes, Originaltitel Смерть постороннего (Tod eines Fremden).

Viktor lebt in Kiew als Schriftsteller, der bisher nur wenig geschrieben und kaum etwas veröffentlicht hat. Er bietet seine Texte erfolglos Zeitungen an. Gerade hat sich seine Freundin von ihm getrennt. Stattdessen hat einen Pinguin, den er Mischa nennt, bei sich aufgenommen, da der Zoo nicht mehr in der Lage war, ihn zu versorgen. „Er hatte sich einsam gefühlt. Aber der Pinguin Mischa brachte seine eigene Einsamkeit mit, jetzt ergänzten sich die beiden Einsamkeiten, was eher den Eindruck einer gegenseitigen Abhängigkeit als den einer Freundschaft erweckte.“ Mischa steht meistens da und starrt auf die Wand, frisst gefrorenen Fisch und hält sich im Winter gerne auf dem Balkon auf.

Da bekommt er plötzlich von der Hauptstadtzeitung das Angebot, Nachrufe zu schreiben. Auf Vorrat, denn die Personen, die ihm der Chefredakteur der Zeitung in jeweiligen Dossiers zukommen lässt, sind noch nicht verstorben. All diesen Prominenten ist freilich gemeinsam, dass sie in Skandale verstrickt sind.

Aber Viktor ist froh über die gut bezahlte Arbeit. Seine Nekrologe unterschreibt er mit „der engste Freundeskreis“.

Als er beruflich nach Charkow verreisen soll, weiß er nicht, wem er die Fütterung des Pinguins anvertrauen kann, und ruft bei der Polizei an. Revierpolizist Leutnant Fischbein übernimmt die Aufgabe und die beiden freunden sich an.  Fischbein heißt eigentlich Stepanenko. Er hatte sich zum Juden gemacht, weil er emigrieren wollte. »Dann habe ich erfahren, wie die Emigranten im Ausland leben«, vertraut er Viktor bei einem Abendessen an. Nämlich miserabel. »So habe ich beschlossen, hier zu bleiben, und um als Jude nicht unbewaffnet rumzulaufen, bin ich zur Polizei gegangen.« 

Und Viktor bekommt noch eine Mitbewohnerin. Ein Bekannter bittet ihn, auf seine etwa fünfjährige Tochter Sonja aufzupassen und kommt nicht wieder, denn er wird erschossen. Sonja und Mischa sind bald ein Herz und eine Seele. In Charkow entgeht Viktor nur knapp einem Mordanschlag und auch in Kiew gibt es täglich Tote und Schießereien – anscheinend ist ein Krieg zwischen Mafia-Clans im Gange. Das Leben in der seit 1991 souveränen Ukraine ist nicht ungefährlich, die Menschen sind damit beschäftigt den Alltag am Laufen zu halten. Sein Chefredakteur erklärt ihm „Das Leben ist es nicht wert, dass man darum Angst haben müsste. Glaube mir!“, als sein Chauffeur ermordet wird.

Viktor will mehr über Pinguine und Mischa wissen und besucht den ehemaligen Pinguinologen des Zoos, der ihm erklärt, dass Mischa ein depressives Syndrom und ein Herzleiden hat.

Neujahr verbringt Viktor mit Mischa und Sonja in der Datscha von Fischbein, weil ihm sein Chefredakteur empfohlen hat, kurzfristig unterzutauchen. Es kommt dann auch tatsächlich zum Picknick auf dem Eis auf dem zugefrorenen Dnepr. Mischa springt in ein Eisloch und schwimmt vergnügt. Inzwischen sind mehrere Menschen, für die Viktor Todesanzeigen geschrieben hatte, tatsächlich verstorben. Viktor ahnt Schreckliches.

Um Sonja nicht so lange allein zu lassen, stellt Viktor die arbeitslose Nichte von Fischbein – Nina – als Kindermädchen an. Die hätte gerne eine Familie, sie schlafen auch zusammen, der Sex ist allerdings leidenschaftslos.

Da bekommt Viktor ein Angebot, das er sich nicht abschlagen traut. Er soll den Pinguin für viel Geld bei Trauerfeiern bekannter Persönlichkeiten sozusagen vermieten. Doch da wird Mischa krank und muss ins Spital. Er braucht eine Herztransplantation – doch die Organisation, die die Begräbnisse organisiert, verschafft ihm mühelos das Spenderherz eines 3jährigen Kindes.

Inzwischen stirbt Fischbein bei einem Einsatz in Moskau, wohin er wegen des besseren Gehalts gezogen war. Die Polizistenkollegen schicken ihm die Urne. Als dann auch der Chefredakteur stirbt, der Viktor erklärt hatte, wenn er einmal den Sinn der Nekrologe erfahren würde, wäre auch sein Leben dahin, ist dieser natürlich alarmiert. Da erfährt er, dass Nina von einem Mann über ihn befragt wurde. Er verfolgt den Unbekannten und setzt diesen mit einer Pistole unter Druck. Der zeigt ihm den bereits verfassten Nekrolog auf Viktor.

Bei Internetrecherchen hatte Viktor herausgefunden, dass die Ukraine auf der Antarktis eine Forschungsstation betreibt. Mit einer großzügigen Spende erkauft sich Viktor ein Ticket für die nächste Reise zur Station. Eigentlich wäre die Passage für Mischa bestimmt gewesen, doch Viktor weiß, dass er in Kiew auf einer Todesliste steht.

Andrej Kurkow hat auch eine Fortsetzung des Romans geschrieben: „Pinguine frieren nicht“ (Diogenes) ist noch abenteuerlicher, Viktor reist in der ganzen ehemaligen Sowjetunion auf der Suche nach Mischa herum.


Erhältlich bei der Aktion Eine STADT. Ein BUCH.

KI und der Ozean – der vielschichtige Roman „Das große Spiel“ von Richard Powers

Der in einem Vorort von Chicago aufgewachsene Richard Powers studierte zunächst Physik und wollte Ozeanograf werden, ehe er mit dem Schreiben begann. Und sein wissenschaftliches, philosophisches Interesse merkt man seinen großen Romanen auch an, er befasste sich darin mit dem menschlichen Gedächtnis, Musik und Rassismus und 2018, in seinem letzten großen Bestseller „Die Wurzeln des Lebens“, mit dem Verschwinden der Biodiversität und der Bäume. Die menschengemachte Zerstörung der Natur entwickelte sich daher fast zwangsläufig zu seinem Hauptthema. Im neuen Roman „Das große Spiel“ bringt er dann zusätzlich noch die größte heutige Bedrohung für die Zukunft der Menschheit ein, nämlich die rasante Entwicklung der KI. Gleichzeitig kehrt er zu seiner Leidenschaft für das Leben im Ozean sozusagen zurück.

Im Kern geht es um die Jugendfreundschaft zwischen einem Sohn eines zunächst reichen weißen Börsenmaklers – Todd Keane – und eines schwarzen Jungen aus der Chicagoer Southside – Rafi Young–, die beide ausgerechnet auf einer von Jesuiten geführten Schule landen. Was sie verbindet, ist ihr Neugier, Ungewöhnliches auszuprobieren und ihre Faszination für Spiele – erst für Schach und dann für Go. Dabei erzählt Powers die Geschichte des späteren Computergenies und Multimilliardärs Todd in der Ich-Form, während er das andere Geschehen, in das noch einige Figuren wie die Tiefseetauchpionierin Evelyne Beaulieu (nach der realen Forscherin Sylvia Earle geformt) eingewebt sind. Rafi ist von ausgefallener Literatur begeistert, der eigentliche Nerd des Romans, will seine Leidenschaft aber nicht für einen schnöden Job opfern. Er schwärmt etwa für den russischen Philosophen und Mystiker Nikolai Fjodorowitsch Fjodorow, der von der Auferstehung aller jemals gestorbener Menschen träumt. Interessanterweise ein Gedanke, der auch in Knausgards großangelegtem Romanprojekt auftaucht. Rafi landet mit seiner ebenso begabten Frau – der Künstlerin Ina – auf einer sehr abgelegenen Insel im Pazifik wo er als Hilfslehrer nicht unglücklich ist. Auf Makatea leben insgesamt nur etwa 80 Menschen, nachdem die Insel durch den Phosphatabbau fast zerstört wurde. Es ist zugleich eine Industrieruine und ein Naturparadies – vor allem unter Wasser. Daher hat sich auch die inzwischen greise Evelyne Beaulieu dort zurückgezogen.

Auf Makatea soll gerade eine Abstimmung durchgeführt werden, denn eine große Investmentfirma, bei der natürlich Todd die meisten Anteile hält, will dort Plattformen für schwimmende Städte herstellen – die Inselbewohner hätten endlich wieder Arbeit und eine echte medizinische Versorgung. Die Abstimmung ist der große Schlusspunkt des Werkes (das Ergebnis sei hier natürlich nicht verraten) und die Idee, sozuasagen auf staatsfreiem Gebiet – der Ozean gehört ja niemandem – zu siedeln gehört ja schon länger zu den Lieblingsfantasien im Silicon Valley.

Am beeindruckendsten ist der Roman freilich bei den Schilderungen der Tauchgänge Evelyne Beaulieus. Als über 90jährige befreit sie noch einen riesigen Rochen von Fangnetzen, die sich in sein Fleisch gebohrt haben. Und der Manta zeigt tatsächlich Dankbarkeit. Währenddessen steigt eine völlig neue Kraft in die Menschheitsgeschichte ein: die KI. Als ein Computer den Schachweltmeister Kasparow besiegt, nimmt man das noch hin, aber als 2026 auch der Go-Meister von einer KI in die Knie gezwungen wird, wissen die Eingeweihten, dass sich die Spielregeln grundsätzlich verändert haben. Wie Todd es ausdrückt: „Wir hatten die Zukunft auf Autopilot gesetzt“. Denn während die Menschheit noch diskutierte, welche Arbeiten künftig durch Maschinen ersetzt werden würden, stellte sich die KI bereits die Frage, ob Demokratie und Freiheit unvereinbar sei und ob man beides überhaupt brauche. Ein Roman, der in gut lesbarer Form viele Gedanken anstößt.


Richard Powers: Das große Spiel
Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné
Penguin Verlag
512 Seiten
€ 26,80

Martin Walker liest bei der Kriminacht am 29. Oktober ab 19 Uhr im Café Landtmann Passagen aus „Im Château“. Text: Ursula Scheidl

Martin Walker liest bei der 20. Kriminacht in den Kaffeehäusern

Martin Walker liest bei der Kriminacht am 29. Oktober ab 19 Uhr im Café Landtmann Passagen aus „Im Château“.
Text: Ursula Scheidl

Der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller, Historiker und politische Journalist Martin Walker ist heuer bei der Kriminacht zu Gast in Wien und entführt Leser*innen mit seinem 16. Fall von Bruno, Chef de police, wieder in die französische Provinz.

Martin Walker versteht es blendend, Geschichte, Aktuelles, die politische Kultur Frankreichs und das einzigartige Flair des Périgord zu vermengen. Sein neuestes Buch „Im Château“ beginnt mit der Aufführung der Befreiungsschlacht um das malerische Mittelalter-Städtchen Sarlat. Die halbe Stadt ist in historischen Kostümen auf dem Marktplatz unterwegs, auch Bruno. Doch der Hauptdarsteller bleibt schwer verletzt in seiner Rüstung liegen. Sofort stellt sich die Frage: Unfall oder Absicht? Zumal es sich bei dem Schauspieler um einen sehr hochrangigen Geheimdienstmitarbeiter mit weitreichenden internationalen Beziehungen handelt. Und natürlich sind alle von Brunos Freunden mit Feuereifer dabei, Licht ins Dunkel der Sache zu bringen. 

Autor Martin Walker. – ©Klaus Maria Einwanger
Martin Walker. – ©Klaus Maria Einwanger

vormagazin: Sie leben seit fast 30 Jahren im Périgord. Was fasziniert Sie an dieser Region?

Martin Walker: Es begann mit meiner Faszination für die prähistorischen Höhlenmalereien, dann für die neuere Geschichte, von den Römern bis zur arabischen Invasion, Karl den Großen, die Ankunft der Engländer und der Hundertjährige Krieg, die Verfolgungen der beiden ketzerischen Bewegungen hier, der Katharer und der Protestanten – so viel Menschheitsgeschichte konzentriert sich an einem Ort. Und dann war da noch das Essen, der Wein …

Es gibt viele Krimireihen, die in bestimmten Regionen spielen. Warum eignet sich das Périgord besonders für Ihre Geschichten mit Bruno?

Ich war überrascht, dass noch niemand das Périgord als Kulisse für einen Krimi verwendet hatte, und ich war fasziniert von dem Ort. Ich hatte bereits „Schatten an der Wand“ veröffentlicht, das ist eher ein Geschichtsroman, und genoss es, das zu tun, aber dann erkannte ich, dass mein Tennispartner, Dorfpolizist Pierrot, ein perfekter Typ für einen Krimi war.

Der 16. Fall von Bruno ist internationaler denn je zuvor. Wie kam es zur Entwicklung vom Polizisten eines kleinen Dorfes zum Ermittler großer internationaler Zusammenhänge?

Es begann eigentlich schon früh mit meinem Buch „Reiner Wein“, in dem es um eine große US-amerikanische Weinfirma geht. Dann erkennt Brunos große Liebe, Isabelle, die Assistentin des Innenministers in Paris ist, dass Bruno eine entscheidende Bereicherung in seiner Region ist. Dann haben wir einen baskischen Terroristen, einen britischen Gauner im Antiquitäten-handel, Kinder einheimischer arabischer Familien, die für die Taliban rekrutiert wurden, ein britischer Meisterspion zieht sich in Brunos Dorf zurück, dann taucht der russische Geheimdienst auf … Vieles davon kommt aus meinem Hintergrund als Journalist im Nahen Osten, in Russland und den USA.

Welche Rolle spielt der französische Geheimdienst?

Frankreichs wichtigstes Zentrum für elektronische Aufklärung befindet sich hier, in Domme im Dordogne-Tal, und ich traf englische Freunde, die für sie arbeiteten und französischen Technikern alle Varianten des Englischen, wie sie von Arabern, Afrikanern, Chinesen und so weiter gesprochen werden, beibrachten. Und wenn Sie wissen, wo Sie schauen müssen, sind die Antennen und Satellitenkuppeln nicht zu übersehen. Unvermeidlich, dass es zu einem Ziel wird.

Sie geben in diesem Buch auch Finanztipps. Was reizt Sie daran, immer wieder abseits der Haupthandlung Dinge zu recherchieren und einzustreuen? 

Ich bin im Herzen immer noch Journalist und liebe es zu erklären, wie die Welt meiner Meinung nach funktioniert. Eines habe ich gelernt: Nationale Sicherheit und Hightech sowie Investitionen und Steuerpolitik gehen fast immer Hand in Hand.

Prinzipiell, wie finden Sie die Ideen für Ihre Bücher?

Ich halte meine Augen und Ohren offen, bleibe in Kontakt mit alten Kontakten auf der ganzen Welt, versuche, nie die Dinge für bare Münze zu nehmen und immer daran zu denken, dass sich auf lange Sicht alles um Menschen dreht.

Ich schätze, Brunos 17. Fall ist schon geschrieben?

Der 17. Fall, „A Grave in the Woods“, ist soeben in Großbritannien und den USA veröffentlicht worden
(die deutsche Übersetzung ist bei Diogenes für 2025 in Vorbereitung), und ich habe bereits das Manuskript des 18. an meinen Verleger geschickt – der Titel steht noch nicht fest. Jetzt plane ich die Nummern 19 und 20. 

Sie haben gemeinsam mit Ihrer Frau Julia auch ein Kochbuch geschrieben. Wie haben Sie kochen gelernt?

Zuerst von meiner Mutter, dann vom Reisen und dem Versuch, die Gerichte, die ich in Afrika und dem Nahen Osten genossen hatte, wieder zu kreieren, und dann von Julia, die eine brillante Köchin ist. 

Sie produzieren auch selbst Wein. Wie kam es dazu?

Julien, unser örtlicher Weinhändler, ist ein guter Freund und hat ein Familienweingut. Er half mir dabei, den Cuvée Bruno herzustellen.

Sie waren ja schon mehrere Male in Wien. Was mögen Sie besonders in der Stadt?

Das Wiener Schnitzel im Gasthaus „Zu den 3 Hacken“ und die Bruegels im Kunsthistorischen Museum.

Martin Walker liest bei der Kriminacht am 29. Oktober ab 19 Uhr im Café Landtmann Passagen aus „Im Château“.


„Im Château“, der sechzehnte Fall für Bruno, Chef de police, von Martin Walker
Aus dem Englischen von Michael Windgassen
Diogenes
384 Seiten
€ 26,80

Entwicklungsroman aus Afrika mit Hindernissen – Chukwuebuka Ibehs „Wünschen“

Entwicklungsroman aus Afrika mit Hindernissen – Chukwuebuka Ibehs „Wünschen“

Ein Bub wächst auf in Port Harcourt, Nigeria, aber er ist etwas anders als die anderen Gleichaltrigen. Statt zum Fußball wie seinen jüngeren Bruder zieht es ihm zum Tanzen – er liebt es, zu Schlagern vor Publikum herumzuwirbeln. Sein Vater, ein schwer arbeitender Händler, wird misstrauisch und als er Obiefuna mit seinem Lehrling bei einer intimen Handlung – sollte das ein Kuss werden? – erwischt, schickt er ihn zur Umerziehung ausgerechnet in ein christliches Internat. Dort ist es so, wie wir das bei der Beschreibung englischer Internate schon oft gelesen haben – sogar nicht-homosexuelle Schüler entdecken die gleichgeschlechtliche Liebe. Doch Obiefuna ist äußerst resilient, entkommt aber nur durch die Verschwiegenheit eines aufgedeckten Mitschülers unbeschadet dem harten Regime der Schulleitung. Denn Nigeria ist – wie fast alle afrikanischen Staaten – ein extrem homophober Staat. Obiefuna ist aber schulisch sehr erfolgreich und wird an einer Universität zugelassen.

Chukwuebuka Ibeh, geboren 2000 in Port Harcourt, ist der internationale Shootingstar der nigerianischen Literatur. Er erzählt konsequent aus der Perspektive des Jünglings – und er tut dies ohne viel Sentimentalität und sehr genau auf das Innenleben seines Protagonisten fokussiert. Derzeit ist Ibeh Student in Missouri und man ist wirklich erstaunt über die Stilsicherheit dieses jungen Schriftstellers.

Obiefuna muss schließlich auch noch das Leiden seiner krebskranken Mutter miterleben, findet aber einen älteren Mann, mit dem er sich eine Partnerschaft vorstellen kann. Doch da kreuzt die Politik sein Leben. Die unbeliebte Regierung führt zur Beschwichtigung der schwulenfeindlichen Bevölkerung extrem strenge Gesetzte gegen Homosexualität ein – bis zu 14 Jahre Kerker drohen Männern, die dabei erwischt werden. Obiefunas Liebhaber sieht keine andere Chance als eine Scheinehe mit einer Frau einzugehen. „Wünschen“ ist ein Roman, der uns ganz nah an die Wirklichkeit Afrikas heranführt.


Chukwuebuka Ibeh: Wünschen
Aus dem Englischen von Cornelius Reiber
S. Fischer
320 Seiten
€ 25,50

Ab ins Musiktheater! – Das Wimmelbuch zu Oper, Musical und Operette

Ab ins Musiktheater! – Das Wimmelbuch zu Oper, Musical und Operette

Die Vereinigten Bühnen Wien (VBW) veröffentlichen ein Wimmelbilderbuch von Lisa Manneh. Dieses Buch lädt Leser*innen jeden Alters ein, die facettenreiche Welt von Oper, Musical und Operette zu entdecken.

Ab ins Musiktheater! zeigt auf bunten Seiten eine Vielzahl von Szenen, die das Leben auf und hinter der Bühne lebendig werden lassen. Sänger*innen und Schauspieler*innen präsentieren sich inmitten von Bühnenbildern, während im Orchestergraben musiziert wird und hinter den Kulissen Vorbereitungen für die nächste Aufführung getroffen werden.

Das Wimmelbuch bietet eine anschauliche Einführung in die Abläufe von der ersten Probe bis zur Premiere. Leser*innen können humorvolle Momente, typische Theaterszenen und beliebte Charaktere aus der Welt des Musiktheaters erkunden.

Ab ins Musiktheater! Entstand in Kooperation mit dem Tyrolia Verlag und ist ab sofort in den Verkaufsstellen der Vereinigten Bühnen Wien sowie im gut sortierten Buchhandel erhältlich.


Eine Geschichte der Information und die neue Macht KI – Yuval Noah Hararis „Nexus“ wird heiß diskutiert.

Eine Geschichte der Information und die neue Macht KI – Yuval Noah Hararis „Nexus“ wird heiß diskutiert

Im Westen wurde es meistens nur gemeldet, im Osten war es aber – zurecht – eine Sensation. 2016 unterlag der koreanische Go-Weltmeister Lee Sedol dem Google-Computerprogramm AlphaGo. Dazu muss man wissen, dass Go ein um ein Vielfaches komplexeres Spiel als Schach ist (Kasparow unterlag bekanntlich schon 1997 dem IBM Deep Blue–Programm), deshalb hat es auch so lange gedauert, bis eine KI die Fähigkeit entwickelte, einen Menschen zu schlagen. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari, der durch seinen Weltbestseller „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ quasi zum Erklärer unserer Zivilisation geworden ist, widmet in seinem neuen Buch „Nexus. Eine kurze Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz“ diesem Ereignis seine volle Aufmerksamkeit – sieht er es nämlich als Beweis, dass Maschinen kreativ sein können. Beim historischen Spiel waren sich nämlich alle kiebitzenden Experten einig, dass AlphaGo einen Fehler gemacht hatte. Dieser stellte sich dann freilich als spielentscheidend heraus. Harari sieht das als Beweis für Kreativität und er prophezeit, dass wir uns schon bald mit einem neuen Individuum auseinandersetzen müssen, nämlich der KI. Darüber lässt sich trefflich diskutieren – dass KI unsere Zukunft bestimmen wird, steht freilich schon jetzt fest. 

Davor beschreibt Harari allerdings sehr anschaulich, dass viele Entwicklungen der Menschheit ohne Informationsnetzwerke gar nicht möglich gewesen wären. Aber mehr Information ist nicht gleich mehr Wahrheit, warnt er mehrmals. Erst die Schrift hat größere Gesellschaften möglich gemacht, weil sie Ordnung herstellen konnte. Nur durch schriftliche Dokumente ließen sich Gesetze für alle durchsetzen. Aber bekanntlich schafft die Bürokratie auch Schubladen, in denen die Wirklichkeit oder gar die Wahrheit erst gezwängt werden muss. Zwar habe etwa der Buchdruck und die Verbreitung von Information moderne Wissenschaft erst möglich gemacht, doch ein erster und größter Buchbestseller war der berüchtigte „Hexenhammer“ – ein Werk zum Aufspüren und zur Folterung von Hexen. Ohne Massenmedien sind große demokratische Staaten nicht denkbar – das Volk muss ja entscheiden können, was oder wen es wählt. Aber die modernen Technologien wie Telefon und Radio ermöglichen auch erstmals die totalitäre Überwachung aller Bürger. Wichtig für die Wissenschaft und für Demokratien ist dabei immer eine funktionierende Fehlerkultur. Diktatoren machen bekanntlich keine Fehler, sie können einfach niemals zugeben, dass sie sich irren.

Was Harari schafft, ist den jetzigen Stand der Diskussion zu formulieren und zu zeigen, wo unsere Kontrollsysteme versagen. Soziale Medien haben bekanntlich die Tendenz, Hass und Verschwörungstheorien zu stärken – denn ihre Algorithmen zielen auf Aufmerksamkeit und schlechte Nachrichten sind in der Medienwelt immer die besten Nachrichten. Nachdem die US-Regierung schon vor 2000 Soziale Medien von der Verantwortung für ihre von Usern generierten Beiträge freisprach (ganz im Gegensatz zu allen anderen Medien, die jederzeit geklagt werden können, wenn sie mit ihren Berichten jemanden schaden), kann sie jetzt niemand mehr in Zaun halten. Einer der größten politischen Fehler der letzten Jahrzehnte.

Die rasante Entwicklung der KI lässt nun nichtmensch­liche, anorganische Akteure entstehen, denen wir uns in Zukunft gegenübersehen werden. Was aber passiert erst, wenn wir einer viel mächtigeren KI freien Lauf lassen? Und vielleicht noch viel dringender: KI ist das ideale Werkzeug für totalitäre Staaten. Was Stalin und Hitler versuchten, aber nicht geschafft haben – die komplette Überwachung aller Bürger – ist heute machbar. Man braucht sich nur die Entwicklung des Sozialkreditwesens in China ansehen. Wer nicht funktioniert, dem werden alle Grundlagen für ein angenehmeres Leben entzogen.

Aber ist eine KI wirklich kreativ? AlphaGO mag einen für Menschen unmöglich zu findenden neuen Zug geschafft haben, aber ist es kreativ, hunderte oder tausende Züge vorauszuberechnen? Sicher, eine KI kann schon heute Texte schreiben, die Menschen nicht mehr von „natürlich“ entstandenen Texten unterscheiden können. Und gewiss erscheint auch schon heute viel Mittelmaß auf dem Buchmarkt – aber pro Jahr eben auch eine Handvoll wirklich beglückender Bücher, von denen ich mir nicht vorstellen kann, dass sie eine KI jemals zustande bringen könnte.

Yuval Noah Harari: „Nexus“
Eine kurze Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer und Andreas Wirthensohn
Penguin Verlag
656 Seiten
28,99 €


In Steinhof stellt man sich Fragen über das Leben – Thomas Sautners „Pavillon 44“

In Steinhof stellt man sich Fragen über das Leben – Thomas Sautners „Pavillon 44“

Ein Mann, der sich für Jesus hält und Gottvater sucht, eine Greisin, die klüger ist als der Primar, eine junge Wut-Patientin und Dimsch, der mit seinem verstorbenen Freund redet – im Pavillon 44 kommen nur die interessantesten Fälle des psychiatrischen Krankenhauses, denn Primarius Lobell hat schon lange „Narrenfreiheit“, weil er ein persönlicher Freund des Wiener Bürgermeisters ist. Dabei ist er selbst seit Jahren von Psychopharmaka abhängig. Als sich Jesus und Dimsch für einen Tag aus dem Krankenhaus verdrücken, droht das System zusammenzubrechen – zumal Lobell gerade an diesem Tag vom Bürgermeister in einem Beisl mit Wein abgefüllt wird.

In Thomas Sautners opulenten Roman „Pavillon 44“ wird Steinhof und eigentlich ganz Wien zu einem psychologischen Grenzfall. Der in Wien und Niederösterreich lebende Autor psychologisiert sogar den eigenen Stand, indem er eine Schriftstellerin dort einquartiert, die für ihre Arbeit recherchiert und die natürlich selbst bald professionelle Hilfe zu brauchen scheint.

Das ist alles sehr unterhaltsam, wenngleich nicht immer originell. Sautner scheint bisweilen selbstverliebt in seinen Erzählstil. Aber er geht auch sehr sorgfältig mit seinem Personal um. Sogar der Busfahrer, der die Ausreißer in die City bringt, wird von Sautner liebevoll porträtiert. Und bei der Diskussion was denn eigentlich normal und was psychisch krank ist kann sich der Autor voll entfalten. In langen Spaziergängen um die eindrucksvolle Kirche am Steinhof von Otto Wagner diskutieren der Primar und die Schriftstellerin über Gott und die Welt. Auch ein karrieresüchtiger junger Nebenbuhler von Lobell, der alles mit Psychopharmaka für heilbar hält, darf nicht fehlen. Ein quasi philosophischer Roman für einige vergnügliche Lesestunden.

Thomas Sautner liest am 8. Oktober, 19 Uhr, in der Buchhandlung Seeseiten in der Seestadt aus seinem Roman.


Thomas Sautner: Pavillon 44
Picus Verlag
458 Seiten
€ 27,-

Ein Familien- und Entwicklungsroman des Nobelpreisträgers aus Sansibar – Abdulrazak Gurnahs „Das versteinerte Herz“

Salim wächst in armen, aber stabilen Familienverhältnissen in Sansibar auf – er besucht die Schule und die Koranschule. Da verlässt plötzlich sein Vater das Haus ohne Erklärung, während sein Onkel Amir im Gefängnis ist und Salims schöne Mutter öfters nachmittags verschwindet. Niemand klärt Salim auf, was wirklich vor sich geht. Und das macht auch die Spannung dieses Romans aus. Erst am Ende, als die Mutter bereits gestorben ist, klärt Salims Vater – Baba –  auf.

Salim ist auch der Erzähler der Geschichte. Wir folgen ihm zu seinem Studium und seinem Leben in London, wo er auch puren Rassismus erleben muss. Ausgerechnet eine aus Indien stammende Frau nennt ihn vor der Salim liebenden Tochter einen „muslimischen Nigger“. Doch Salim findet in London auch viele Freunde – die meisten sind wie er Einwanderer aus allen Teilen der Welt.

Abdulrazak Gurnah, 1948 in Sansibar, das heute zu Tansania gehört, geboren, erhielt 2021 den Nobelpreis für Literatur. Zu diesem Zeitpunkt war keiner seiner fünf in die deutsche Sprache übersetzten Titel mehr im Buchhandel verfügbar. Gurnah ist ein großartiger Erzähler, der in einer schnörkellosen Sprache die Hoffnungen und Ängste seiner Protagonisten vermitteln kann. Er lebt wie Salim in England und war lange Zeit Professor an der Universität in Kent.

In „Das versteinerte Herz“ (2017 im Original erschienen) erfährt man viel über das Leben in Sansibar und das eines Migranten in London. In seiner Heimat herrschen korrupte Politiker, das Volk wird durch staatlichen Terror in Abhängigkeit gehalten. In London erlebt Salim die Zeit des Balkankriegs und 9/11 – Misstrauen überall. Aber der Roman ist trotz des drückenden Geheimnisses kein Buch der Trauer. Salim muss seinen Weg finden, er ist einsam, findet aber immer wieder auch Menschen, die ihn aufheitern. Am Ende korrespondiert die Familiengeschichte mit Shakespeares „Maß um Maß“, in dem eine junge Frau ihren geliebten Bruder retten will und mit dem Mann schlafen soll, der ihn zum Tode verurteilt hat. Es geht um Schande und Liebe, Opfer und Enttäuschung – große Literatur!


Abdulrazak Gurnah: Das versteinerte Herz
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Penguin Verlag
364 Seiten
€ 27,50

Aufwachsen in Wien und München – Ljuba Arnautovićs bewegender Roman „Erste Töchter“

Aufwachsen in Wien und München – Ljuba Arnautovićs bewegender Roman „Erste Töchter“

Der Vater gehörte zu jenen Unglücklichen, die nach der Zerschlagung der Demokratie durch die Austrofaschisten unter Dollfuß aus Wien nach Moskau geflohen waren, um dort in die Fänge des Diktators Stalin zu geraten. Karl wandert in den Gulag und kommt erst 1953 nach Wien zurück. Mit einer russischen Frau und de facto heimatlos, denn auch Deutsch spricht er nur noch schlecht. Dafür findet er immer wieder junge Frauen, die ihn heiraten. Die beiden Töchter parkt er zwischendurch in Waisenheimen – das scheint nicht nur heute ziemlich grausam. Und diesen beiden Töchtern – Lara und Lund – widmet Ljuba Arnautović, 1954 in Kursk geboren und seit 1987 in Wien lebend, im dritten Teil ihrer autobiografisch geprägten Trilogie ihr Hauptaugenmerk. Die Jüngere wächst in Wien auf, die Ältere gutbürgerlich in München. Die Jüngere wäre fast am Praterstrich verkommen, die Ältere wird von der Alternativszene geprägt. Sie bleiben aber mittels Briefe miteinander verbunden und finden als Erwachsene wieder zueinander. Arnautović erzählt eher nüchtern, wenngleich nicht chronologisch – die Ereignisse sprechen aber auch für sich. Nur ein schmaler Roman, aber trotzdem können wir die schwierigen Verhältnisse, in denen die Figuren – etwa auch Karls erste russische Frau in Wien – gut nachempfinden. Ein berührendes Buch. 


Ljuba Arnautović: Erste Töchter
Zsolnay
160 Seiten
€ 24,50

Colson Whiteheads Debütroman „Die Intuitionistin“ über eine Fahrstuhlinspektorin in neuer Übersetzung.

Rauf und runter, schwarz und weiß – Colson Whiteheads Debütroman

Colson Whiteheads Debütroman „Die Intuitionistin“ über eine Fahrstuhlinspektorin in neuer Übersetzung.

Als 1999 der Debütroman von Colson Whitehead erschien, ahnte natürlich noch niemand, dass aus dem New Yorker ein vielbeachteter Bestsellerautor werden würde. Sein Vater – verriet er mir bei einem Interview in Wien – schlug die Hände zusammen, weil sein bestens ausgebildeter  (Harvard) Sohn, Schriftsteller werden wollte. Colson Whitehead ist zwar schwarz, aber entstammt der oberen Mittelschicht – sein Vater verdiente gut an der Börse. Glücklicherweise blieb Whitehead bei seiner Berufswahl und seit „The Underground Railroad“ gehört der 1969 Geborene zu den US-Bestsellerautoren. Dass Hanser jetzt diesen Erstling, der ursprünglich auf Deutsch bei Hoffmann und Campe erschienen ist, jetzt neu übersetzen ließ, erweist sich als ein Glücksfall. Denn 2024 liest man diesen vielschichtigen Roman anders als vor der Jahrtausendwende.

„The Intuitionist“ weist noch Elemente des postmodernen Romans auf, in seinen Themen ist er allerdings brandaktuell. Wir sind in einer sehr großen Stadt in den USA, die nicht genannt wird und in einer Zeit, als es noch keine Handys gab. Auch fotografiert wird noch analog, wahrscheinlich sind wir gar erst in den 50er-Jahren. Es geht um den Kampf zwischen zwei Richtungen innerhalb der Fahrstuhlinspektoren, den Empirikern und den Intuitionalisten. Erstere prüfen brav Motor, Aufhängung und Sicherheitseinrichtungen, zweitere führen eine Art Zwiegespräch mit dem Fahrstuhl, lauschen auf die Geräusche beim Anfahren und Bremsen und haben damit eine um 10 Prozent bessere Quote beim Aufspüren von Mängeln. Trotzdem gelten sie als Spinner und sind geächtet. Wer denkt da heute nicht an die Gläubigen der reinen Wissenschaft und die Anhänger alternativer Medizin. Lila Mae gehört den Intiutionalisten an und sie ist nicht nur die allererste weibliche Inspektorin, sondern auch noch schwarz. In der rassistischen Matschowelt hat sie daher einen doppelt schweren Stand – da nützt es nichts, dass sie bei der Arbeit keine Fehler macht und auch sonst nur durch Leistung auffällt.

Da stürzt just ein Lift in einem Regierungsgebäude, den sie kurz vorher inspiziert hatte, in die Tiefe. Etwas, das es nicht geben dürfte. Noch dazu ist gerade Wahlkampf für den Vorsitz der Inspektorengilde und der Fauxpas einer Intuitionistin kommt den überheblichen Empirikern gerade Recht. Die Intuitionisten sind indes schon lange auf der Suche nach den letzten Notizen ihres verstorbenen, legendenumwogten Theoretikers, der vor seinem Tod einen Fahrstuhl ganz ohne Mechanik entwickelt haben soll. Lila Mae sucht nach diesen Aufzeichnungen, zumal sie in den Schriften erwähnt sein soll. Spätestens hier ist der Roman mit seinen vielen Wendungen – Hausdurchsuchungen, Gefangennahmen, sogar Folter – zum Krimi geworden. Und man merkt bei jeder Zeile, dass Whitehead viel Spaß daran hatte, seine Leser rätseln zu lassen. Am Ende gibt es noch eine gute Pointe.


Colson Whitehead: Die Intuitionistin
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
Hanser
272 Seiten
€ 26,80