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Das Sterben eines Gefassten – Bernhard Schlinks „Das späte Leben“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Das Sterben eines Gefassten – Bernhard Schlinks „Das späte Leben“

Mit 76 erfährt Martin, dass er nur noch wenige Wochen zu leben hat – Bauchspeicheldrüsenkrebs. Dabei hat der Professor für Recht gerade die vielleicht glücklichste Phase seines Lebens mit einer um vieles jüngeren Frau und einen Sohn im Kindergarten. Was also tun in den letzten Tagen, die im noch bleiben?

Bernhard Schlink stellt in seinem neuen Roman jene Fragen, die alle Menschen sich irgendwann stellen müssen. Denn dem Tod kann niemand entkommen, manche können ihr Ende aber genau datieren. Ulla, seine 43jährige Frau, schlägt Martin vor, seinem Sohn etwas zu hinterlassen – einen Brief oder ein Video. Und daran arbeitet Martin dann auch obwohl ihm Gefühle immer schwergefallen sind. Schicksalsschläge hat er immer erst mit einiger Verzögerung begriffen, manche nannten ihn deswegen gefühlskalt. Schlink beschreibt Martin auch als einen sehr nüchternen Menschen, als einen Gefassten.

Dramatik bekommt der Plot freilich dadurch, dass Martin erfährt, dass Ulla ihn mit einem jüngeren Mann betrügt. Und wieder erweist sich der Professor als durch und durch von Vernunft getrieben. Er macht seiner Frau keine Szene, sondern sucht den Liebhaber auf und bittet ihn, sich um Ulla und seinen Sohn zu kümmern.

„Das späte Leben“ ist somit ein Roman über die zwei wichtigsten Themen aller Menschen, nämlich Liebe und Tod. Es freut ungemein, wenn das ein Autor einmal so unspektakulär und ohne auf Auflagen zu schielen behandeln kann.


Bernhard Schlink: Das späte Leben
Diogenes Verlag
240 Seiten
€ 27,50

Der Aufstieg hat seinen Preis – Das Debüt der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux erstmals auf Deutsch.

Der Aufstieg hat seinen Preis – Das Debüt der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux erstmals auf Deutsch

Als Kind ist Denise Lesur eigentlich ganz glücklich. Die Mutter führt in der Kleinstadt im Norden Frankreichs einen kleinen Krämerladen, der Vater daneben eine Kneipe. Die Kunden lassen anschreiben, niemand hat viel Geld, die Säufer sind Stammgäste – und dass es nur ein Plumpsklo im Hof gibt, stört auch niemanden. Denises Eltern arbeiten ständig, sie haben es geschafft, sich als Besitzlose hochzuarbeiten und sind nun froh, keinen Chef mehr zu haben.

Als sie Denise in eine katholische Privatschule stecken, bricht allerdings ihre Welt zusammen. Denise wird als Asoziale gehänselt, die Bürgertöchter blicken auf sie herab. Und Denise sieht zum ersten Mal ihr Elternhaus mit anderen Augen: die schlechten Manieren, den Nachttopf im Schlafzimmer, die schmierige Küche, das lächerliche Angebot ihres Ladens und die kotzenden Zechbrüder. Mit zähem Fleiß kämpft sich Denise nach oben, sie wird Klassenbeste und schafft mühelos die Anforderungen für den Besuch einer Universität. Da sieht sie längst auf ihre Eltern herab, deren Geld ihr erst den Besuch der Schulen ermöglicht hat. Als letzte Schranke will sie die Freundin eines Bürgerlichen werden. Mit den im Jahr 1961 noch verheerenden Folgen einer Schwangerschaft. Denise gerät an eine Engelmacherin, denn Abtreibungen sind noch illegal. Mit diesem Schock beginnt und endet der erste Roman der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux, der 1974 bei Gallimard erschienen ist. Noch schreibt Ernaux, die sich später ja als „Ethnologin ihrer selbst“ begreift, fiktional, wenngleich die Handlung ja mit den späteren autofiktionalen Büchern fast identisch ist. „Die leeren Schränke“ ist auf jeden Fall ein faszinierender Roman über die zerstörerischen Brüche, die ein sozialer Aufstieg mit sich bringt. Denise hasst ihre Herkunft, obwohl sie klug genug ist zu erkennen, dass auch in der bürgerlichen Welt vieles nur Schein ist. Als ihr Liebhaber erfährt, dass sie schwanger ist, macht er sich aus dem Staub.

Während Ernaux später für ihren lakonischen Stil bekannt wurde, ist dieser Erstling noch durchaus drastisch und plastisch erzählt. Stellenweise wirkt der in der ersten Person geschilderte Text wie eine Anklage gegen die Gesellschaft und sich selbst. Spannend und interessant zu lesen ist das Ganze aber auf jeden Fall.


Annie Ernaux: Die leeren Schränke
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Suhrkamp
220 Seiten
€ 24,50

Die Nobelpreisträgerin Toni Morrison schrieb „Rezitativ“ das von zwei Waisenmädchen handelt. – ©Bert Andrews

10 Bücher, die ich gerne gelesen habe – Helmut Schneiders Buchtipps

Die Nobelpreisträgerin Toni Morrison schrieb „Rezitativ“ das von zwei Waisenmädchen handelt. – ©Bert Andrews

Ende des Jahres gibt es ja überall Bestenlisten. Sowas kann ich nicht anbieten, denn mehr als ein Buch pro Woche ist – so man sonst noch einen Job hat – kaum zu schaffen, denn die umfangreichen Bücher schlucken den Zeitgewinn, den man mit den schmäleren aufbaut. Jedes Jahr gibt es logischerweise sehr viele Bücher, die ich gerne gelesen hätte. Zudem weiß ich natürlich, dass jeder/jede einen ganz speziellen Buchgeschmack hat. Deshalb tue ich mir extrem schwer, wenn ich Menschen, die ich nicht gut kenne, etwas empfehlen soll.

Die unten angeführten Titel waren für mich jedenfalls ein großer Gewinn und mögen vielleicht für Menschen, die gerne lesen, eine Empfehlung für die Feiertage darstellen.


Steffen Kopetzky: Damenopfer
Hanser
444 Seiten
€ 27,50

Die ansprechend erzählte Geschichte einer klugen Revolutionärin des russischen Bürgerkriegs inmitten der implodierenden Weltpolitik. Ist sogar spannend.


Barbi Marković: Minihorror
Residenz Verlag
192 Seiten
€ 25,-

Skurrile Skizzen aus dem Leben eines Paares in Wien – samt Monstern plus Zeichnungen. Macht süchtig.


Sepp Mall: Ein Hund kam in die Küche
Leykam
192 Seiten
€ 25,50

Das vergessene Kapitel der von Hitler verratenen deutschsprachigen Südtiroler erzählt durch die Augen eines Kindes. Der Autor findet eindrucksvolle Bilder.


Wolf Haas: Eigentum
Hanser
160 Seiten
€ 23,50

Die Geschichte einer einfachen, arbeitssamen Frau – der Mutter des Autors – vor dem Hintergrund des um sie herum anwachsenden Wohlstandes.


Deepti Kapoor: Zeit der Schuld
Blessing Verlag
688 Seiten
€ 29,50

Eine Art indischer Mafia-Thriller, der allerdings viel über den Zustand des Landes offenbart. Spannender als Netflix-Schauen.


Susanne Gregor: Wir werden fliegen
Frankfurter Verlagsanstalt
254 Seiten
€ 25,50

Ein tschechoslowakisches Geschwisterpaar will aus dem Kommunismus heraus und hat dann andere Schwierigkeiten, als es die Grenzen nicht mehr gibt.


T. C. Boyle: Blue Skies
Hanser
400 Seiten
€ 29,50

Auch die Klimakatastrophe kann mit Galgenhumor betrachtet werden – und niemand macht das so ansprechend wie der Kalifornier.


Joshua Cohen: Die Netanjahus
Schöffling & Co.
288 Seiten
€ 26,50

Ein urkomischer Collegeroman, in der die berühmte israelische Familie wie ein Heuschreckenschwarm in einen kleinen Campus einfällt.


Eva Viežnaviec: Was suchst du, Wolf?
Zsolnay
141 Seiten
€ 23,50

Ein ungemein kraftvoller Roman über eine Familie in Belarus im Spiegel der wechselvollen und immer grausamen Geschichte.


Toni Morrison: Rezitativ
Rowohlt
96 Seiten
€ 21,50

Die einzige Erzählung der 2019 verstorbenen Nobelpreisträgerin über zwei Mädchen in einem Waisenhaus – eine ist weiß, die andere schwarz und die Autorin verrät nicht, welche welche ist.


Muttertier wird zum Mutterwolf – Rachel Yoders Roman einer Metamorphose „Nightbitch“.

Muttertier wird zum Mutterwolf – Rachel Yoders Roman einer Metamorphose „Nightbitch“.

Werwolf heißt etymologisch aufgeschlüsselt ja Mannwolf. Die Verwandlung eines Mannes in einen Wolf gehört nach wie vor zu den beliebtesten Genres, es gibt unzählige Filme, in denen vor allem Teenager zu Bestien mutieren. Die in Iowa lebende Schriftstellerin Rachel Yoder zeichnet freilich die Verwandlung einer Mutter in einen Hund nach. Die Erzählerin nennt sich nach einer ersten Nacht, in der sie in der Kleinstadt nackt herumstreift, auf den Rasen des unsympathischen Nachbarn scheißt und kleine Säugetiere reißt, selbst „Nightbitch“ oder Wermutter. Vorangegangen ist dieser Metamorphose die Erkenntnis, dass sie sich als Nur-Mutter eines 2-jährigen Knaben auf einem gesellschaftlichen Abstellgleis befindet und absolut keine Zeit mehr für sich selbst hat.

Ihre Karriere als Künstlerin und Galeristin hat sie aufgegeben, zumal ihr sie durchaus liebender Mann die meiste Zeit auf Dienstreise ist und sie mit ihren Elternpflichten allein lassen muss. Das zählt auch zu den Stärken dieses feministischen Romans – die Autorin kommt ohne plumpe Feindbilder aus, denn Nightbitch liebt ihren Mann und ihr Kind, weiß aber keinen Ausweg aus der Öde zwischen Kinderspielplatz und den endlosen Ritualen, bevor ihr Sohn endlich einschläft. Zwar kann sie die anderen Mütter, die sie in der Bücherei und am Spielplatz trifft, nicht ausstehen, aber sie ist klug genug, sie als Spiegelungen ihrer selbst zu erkennen.

Aber eines Tages wachsen ihr eben Haare am Körper und am Steiß bekommt sie etwas, das einem Schwanz ähnelt. In den Schilderungen von Frauengesellschaften, denen plötzlich Flügeln wachsen oder eben Wölfe werden von einer geheimnisvollen Autorin namens Wanda White erkennt sie sich wieder. Und außerdem hat ihr Sohn viel Freude daran, wenn sie mit ihm Hund spielen kann. Er trägt gerne ein Hundehalsband und schläft endlich problemlos im Hundekörbchen.

Der Roman endet mit einer spektakulären „künstlerischen“ Performance vor den Müttern der Kleinstadt, in der Frauen oft die bessere Ausbildung, aber die Jobs die Männer haben. Rachel Yoder ist ein verstörender Roman über die Rolle der Mutter in unserer Gesellschaft gelungen, der aufzeigt, dass hier dringend Änderungsbedarf besteht. Sicher nicht nur in amerikanischen Kleinstädten.


Rachel Yoder: Nightbitch
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Klett-Cotta
300 Seiten
€ 25,50

Letzte Jahre in Paris. Lea Singers Roman über Joseph Roths Geliebte Andrea Manga Bell ist Helmut Schneiders Buchtipp.

Letzte Jahre in Paris – Lea Singers Roman über Joseph Roths Geliebte Andrea Manga Bell 

Über Joseph Roths Ende im Mai 1939 als mittelloser Alkoholiker in Paris mit nur 44 Jahren gibt es viele Anekdoten und Legenden. Fast zehn Jahre war Roth, der zeitweise zu den bestbezahlten Autoren Europas gehörte, dem sein Geld allerdings aufgrund großzügiger Trinkgelder, exquisiter Hotels und natürlich wegen seines unfassbaren Schnapskonsums zwischen den Fingern zerrann, mit Andrea Manga Bell zusammen, die für ihn diverse Anstellungen als Journalistin und Grafikerin aufgab, seine Romane tippte und redigierte. Die Deutsche, deren Vater ein berühmter kubanischer Pianist und die mit dem Prinzen von Kamerun verheiratet war, der sie allerdings mit 2 Kindern sitzen ließ, soll neben Roths Ehefrau, die in diversen Nervenheilanstalten untergebracht war, Roths einzige Liebe gewesen sein.

Lea Singer hat dieser Frau jetzt mit ihrem Roman „Die Heilige des Trinkers“ ein literarisches Denkmal gesetzt. Das Buch beginnt und endet am Pariser Friedhof, auf dem Joseph Roth seine letzte Ruhestätte fand. Andrea Manga Bell erzählt aus ihrer Perspektive, sie kürzt sich bescheiden mit A. ab. Am Anfang steht das Begräbnis, wo sie von den meisten Freunden Roths geschnitten wird und am Ende A.s letzter Besuch am Friedhof im Frieden – denn 1941 ziehen die Deutschen unter Getöse in Paris ein. Dazwischen erleben wir – sehr dicht und sehr anschaulich geschildert – die Aufopferung einer Frau im Dienste eines von ihr verehrten Genies. A. ist permanent für Roth da, vernachlässigt ihre Kinder, erduldet rassistische Schmähungen und protestiert nicht, dass er überall herumerzählt, er kümmere sich um A.s Kinder – obwohl doch das meiste Geld von A.s Bruder kommt. Selbst Ausdrücke wie N*hure hält die dunkelhäutige Andrea Manga Bell, die man oft auch mit Josephine Baker verwechselt aus – wird doch gerade eine andere Gruppe von Menschen – Juden – ähnlich behandelt. Mit Entsetzen verfolgt das Paar die Ausschreitungen in Deutschland.

Roth war politisch hellsichtig, er flüchtete nach Hitlers Machtergreifung sofort nach Paris, auch in Österreich fühlte er sich als Jude schon vor dem Anschluss nicht mehr sicher, die Kapitulation Österreichs sah er voraus.

„Die Heilige des Trinkers“ – der Titel ist wohl eine Anspielung auf Roths Novelle „Die Legende vom heiligen Trinker“ – ist ein wunderbarer Roman, in dem man viel über die Widersprüche im Leben eines der größten deutschsprachigen Dichters erfährt und eine interessante Frau kennenlernt, die mutmaßlich keine Heilige aber sicher mehr als nur eine Helferin war.


Letzte Jahre in Paris. Lea Singers Roman über Joseph Roths Geliebte Andrea Manga Bell ist Helmut Schneiders Buchtipp.

Lea Singer: Die Heilige des Trinkers
Kampa Verlag
300 Seiten
€ 25,50

Zwischen Wien und New York – Dirk Stermann erzählt in Gesprächen das erstaunliche Leben der Erika Freeman.

Zwischen Wien und New York – Dirk Stermann erzählt in Gesprächen das erstaunliche Leben der Erika Freeman

Bevor sie sich um 10.30 zum Frühstück mit Dirk Stermann im Imperial trifft, behandelt sie immer noch via Skype ihre Patienten in New York und dabei ist es ihr gleich, dass es dort mitten in der Nacht ist. Erika Freeman ist jetzt 96, aber steht mitten im Leben – ein Triumph über die Nazis, die ihr in Wien nach dem Leben trachteten und alle schon tot sind.

1927 als Tochter eines jüdischen Arztes und einer Lehrerin in Wien geborenen musste sie mit 12 Jahren in die USA fliehen, wo sie zu einer weltberühmten Psychoanalytikerin wurde – angeblich lagen Stars wie Marlon Brando, Paul Newman, Marilyn Monroe oder Woody Allen auf ihrer Couch. Wenn diese es selbst nicht öffentlich machten, schweigt Freeman bis heute darüber. Außerdem war sie Gast vieler TV-Shows – auch die Sendungsmacher hatten ihr unglaubliches Talent für pointierte, witzige Sprüche erkannt.

Der Buchtitel „Mir geht’s gut, wenn nicht heute, dann morgen“ ist natürlich ein Zitat von ihr, die die Gabe hat, auch Schreckliches wie den Tod ihrer Mutter 1945 bei der Bombardierung des Philipphofs mit der Weisheit einer Frau, die viel erlebt hat, zu erzählen. Aus den vielen Frühstückstreffen hat Stermann jetzt ihr mit vielen Anekdoten gewürztes Leben erzählt. Oft schickt sie ihm später auch noch Sinnsprüche via SMA nach: „Wenn eine Frau auf Sex verzichten will, dann muss sie ihn heiraten.“

Freeman, deren Mutter als Vorbild für Isaac Beshevis Singers mit Barbra Streisand verfilmte Kurzgeschichte „Yentl“ gilt, hat zweifelsohne viel zu erzählen, von Flucht und Verfolgung, von Karriere und Prominenten, von Analysen und Analytikern. Dass Freeman jetzt im Imperial wohnt, hängt mit der Pandemie zusammen. Sie ist quasi nach einer Herzoperation in Wien gestrandet und war zeitweise der einzige Gast im Hotel. Inzwischen hat sie auch wieder die österreichische Staatsbürgerschaft.

Bei einer Gala in New York hatte sie ihrer Freundin Hilary Clinton ihr Österreichisches Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst gezeigt und erklärt: „They tried to kill me, now they decorate me.“
„Mir geht’s gut, wenn nicht heute, dann morgen“ ist ein Buch, das man sehr gerne liest, weil es so leicht und anekdotisch daherkommt – als Wiener freilich immer mit einem ambivalenten Gefühl. Schließlich hatten unsere Vorfahren sie ja tatsächlich zur Vernichtung vorgesehen.


Ein seltsames Leben – Monika Helfer erzählt in „Die Jungfrau“ von einer reichen, schönen Freundin.

Ein seltsames Leben – Monika Helfer erzählt in „Die Jungfrau“ von einer reichen, schönen Freundin

Ein Buch, das ich problemlos an einem Tag im Bad lesen konnte und das trotzdem einen großen Eindruck zurücklässt. Die Vorarlbergerin Monika Helfer, die mit ihren autobiografischen Romanen „Die Bagage“ (2020), „Vati“ (2021) und „Löwenherz“ (2022) spät, aber verdientermaßen, zum Literaturstar wurde, beschreibt in ihrem neuen Buch die Jugendfreundschaft mit der gleichaltrigen Gloria, die all das besitzt, was sie selbst – Moni – nicht hat: Ein Haus, Bedienstete, Geld und Schönheit. Doch zwischen den Fallstricken des Lebens scheint sich die glänzende Gloria geradewegs zu verlieren.

Die Aufnahmeprüfung im Reinhardt-Seminar schafft sie mit Bravour, doch als sie sich in einen verheirateten Lehrenden verliebt, wird es nichts mehr mit der Karriere. Hochdramatisch legt sie sich vor die Schwelle seiner Wohnung, die Ehefrau steigt nur darüber und nimmt es sogar hin, dass ihr Mann bei Gloria einzieht. Zu Sex soll es allerdings niemals kommen – Moni ist nicht ganz sicher, ob sie ihrer Freundin glauben soll. Zum 70. Geburtstag kommt ein Brief von Gloria – man hatte sich längst aus den Augen verloren – und Moni besucht die Freundin, die noch immer im Elternhaus wohnt, wo ihre halbverrückte Mutter mutmaßlich Unsummen an Geld versteckt hat, was die Tochter nicht interessiert.

Helfer ist eine ebenso genaue wie reflektierte Erzählerin. Nie gibt sie etwas als gewiss aus, stets hinterfragt sie sich, wie es gewesen sein könnte und was das für sie damals bedeutete. Sie selbst wohnte damals ja in einer beengten Wohnung, Geld war immer knapp und trotzdem nicht so wichtig. Moni heiratet früh – eine der einprägsamsten Stellen im Buch ist die Szene, in der sie von ihrem Schwager bei der Hochzeit entführt wird – ein alter Brauch – und dann vom Bräutigam nicht gefunden wird, obwohl sie genau dort sind, wo es am wahrscheinlichsten gewesen ist. Ein kluges Buch über die Möglichkeiten einer Biografie und die Zeit des Wirtschaftswunders in Österreich.


Ein seltsames Leben – Monika Helfer erzählt in „Die Jungfrau“ von einer reichen, schönen Freundin.

Monika Helfer: Die Jungfrau
Hanser Verlag
150 Seiten
23,50

Deutschland und Russland vereinen – Ein historischer Roman über eine außergewöhnliche Bolschewikin.

Deutschland und Russland vereinen – Ein historischer Roman über eine außergewöhnliche Bolschewikin

Im Schachspiel gibt es den raffinierten Spielzug des Damenopfers, bei dem die wertvollste Figur dem Gegner zum Fraß vorgeworfen wird und – so dieser anbeißt – in wenigen Zügen mattgesetzt werden kann. Steffen Kopetzky lässt in seinem neuen Roman seine Protagonistin Larissa Reissner eben jenen Schachzug machen, um einem Großmaul ebendieses zu stopfen. Die ruhmreiche Kämpferin der Roten Armee und Journalistin Larissa Michailowna Reissner ist freilich eine historische Figur. Obwohl sie bereits mit 30 Jahren an Typhus starb, wurde sie wegen ihrer Schönheit und ihres furchtlosen Einsatzes gegen die monarchistische Weiße Armee zur Legende – zumal sie auch als Spionin agierte.

Kopetzky, 1971 in Oberbayern geboren, ist ein gewiefter Erzähler. In seinem Bestseller „Monschau“ verarbeitete er etwa einen realen Pockenausbruch in den 60er-Jahren zu einem packenden deutschen Wirtschaftskrimi. Im neuen Roman faszinierte ihn ganz offensichtlich eine mögliche Annäherung des wirtschaftlich am Boden liegenden Deutschland nach dem 1. Weltkrieg und der sich mit vielen Schwierigkeit sich entwickelnden Sowjetunion noch unter Lenin. Larissa verbringt die Jahre nach dem Bürgerkrieg mit ihrem Mann, einen verdienten General der Roten Armee, in Afghanistan und findet dort den versteckten Plan eines deutschen Offiziers zum Angriff auf die britische Kolonie Indien von Kabul aus.

Larissa gelingt es – sie ist ja deutscher Herkunft, Deutsch ist ihre zweite Muttersprache – den deutschen Offizier ausfindig zu machen. Gleichzeitig versucht sie als inoffizielle Vertreterin des Politbüros und vor allem Trotzkis die Revolution in Deutschland zu befördern. Gelingt das – so ist nicht nur sie überzeugt – würde das einen Flächenbrand in Europa und sogar in den USA auslösen. Als Geliebte einiger wichtiger Männer bewegt sie sich sowohl in Moskau als auch Berlin zunächst recht frei. Doch Lenin hat seine Nachfolge nicht geregelt, er macht nichts, um Stalin zu verhindern, den er für einen skrupellosen Hitzkopf hält. Und der wesentlich intelligentere Trotzki steht sich bekanntlich selbst im Wege.

In „Damenopfer“ erfahren wir viel über die Stimmung in Deutschland und Russland nach dem Krieg. Zwar überfordert Kopetzky manchmal durch allzu viele Figuren seine Leser, doch in Summe ist dieser Roman ein intellektueller Genuss.


Deutschland und Russland vereinen – Ein historischer Roman über eine außergewöhnliche Bolschewikin.

Steffen Kopetzky: Damenopfer
Hanser
444 Seiten
€ 26,80

Das Grauen im Beziehungsalltag – Barbi Marković und ihr „Minihorror“

Mini und Miki sind ein Paar und leben in Wien. Sie ist Schriftstellerin und kommt aus Serbien, er arbeitet im Büro und stammt aus der Steiermark. Sie wollen „nett sein, aber nichts ist einfach“, heißt es gleich zu Beginn, denn überall außerhalb ihrer Beziehung lauert sowieso der Horror. Schon in der ersten der Geschichten über die beiden schleicht sich eine Cousine von Mini ein, die ganz harmlos tut, aber laut Mini ein „fleischfressendes Monster“ ist. Muss man schnell loswerden.

Schaurig auch die Story, in der Mini plötzlich in den sozialen Netzwerken die Befugnis erhält, fremde Beiträge zu löschen und sich gar nicht mehr von ihrem Smartphone trennen lässt oder wie Miki auf einen Arzt trifft, der ihn nicht zu Wort kommen lässt weil er ihm ununterbrochen von seinen eigenen Leiden und Symptomen erzählt. Zwischendurch trennt sich Mini von Miki, weil der zum Guru wird und erst kein Fleisch und dann nur noch Obst isst. Entlarvend komisch auch das Interview Minis mit einer Fernsehredakteurin.

Am Ende gibt es – bei den „105 weitere mögliche Horrors mit Mini und Miki“ als Draufgabe Zeichnungen der Autorin.

Barbi Marković, in Belgrad geboren und seit 2006 in Wien ansässig, schreibt in kurzen, einfachen Sätzen, die einen aber manchmal wie Axthiebe treffen. Sprachliche Verschleierungen sind ihre Sache nicht. Und deshalb wirkt ihr Alltagshorror auch so stark und unmittelbar. Ein ungemein gelungenes Buch, das man ungern aus der Hand legt, weil man immer noch mehr Geschichten von Mini und Mike lesen möchte.


Barbi Marković: Minihorror
Residenz Verlag
192 Seiten
€ 25,-

Navid Kermani ist ein deutscher Autor, dessen Eltern schon lange vor seiner Geburt aus dem Iran in die Bundesrepublik geflohen waren. Der studierte Orientalist arbeitete als Journalist u.a. beim SPIEGEL, für seinen Roman „Dein Name“ erhielt er den Kleist-Preis.

Lesen & Leben – Navid Kermanis „Das Alphabet bis S“

Navid Kermani ist ein deutscher Autor, dessen Eltern schon lange vor seiner Geburt aus dem Iran in die Bundesrepublik geflohen waren. Der studierte Orientalist arbeitete als Journalist u.a. beim SPIEGEL, für seinen Roman „Dein Name“ erhielt er den Kleist-Preis.

In seinem neuen Buch erzählt er von einer in Köln lebenden iranstämmigen erfolgreichen deutschen Schriftstellerin, deren Mutter gerade gestorben ist und deren betagter Vater die Realität nicht mehr wahrhaben will. Dazu erleidet ihr minderjähriger Sohn einen Herzinfarkt, was die namenlose Erzählerin natürlich ziemlich mitnimmt. Außerdem hat sie sich von ihrem Mann getrennt – es gäbe also viel zu reflektieren, zumal der Roman eigentlich ein Tagebuch ist. Doch viel mehr als alles Persönliche scheint sie ihre nach dem Alphabet geordnete Bibliothek zu beschäftigen, als sie beschließt, den bisher ungelesenen Autoren eine zweite Chance zu geben. Und so finden wir in dem fast 600 Seiten starken Buch viele Zitate und Meinungen zu so unterschiedlichen Autoren und Autorinnen wie Peter Altenberg, Emil Cioran, Emily Dickinson, Salvador Espriu, Fukazawa Shichiro oder Julien Green und Hermann Hesse. Sie kommt dabei – wie der Titel vermuten lässt – nur bis S.  

Das gibt Kermani Gelegenheit, über so ziemlich alles in der modernen Welt eine Meinung zu verbreiten – zumal aus weiblicher Sicht. Banales findet sich da neben allerlei Geistreichem. Schließlich ziehen sich die Themen Tod und Verlust durch den ganzen Text – die Autorin erlebt etwa eine Papst-Audienz, bei der sie das Oberhaupt der Katholiken bittet, um ihn zu beten. So nebenbei besucht sie mit ihrem Vater die Verwandten in Teheran oder fährt ans Meer. Sie scheint dabei ein wenig aus der Zeit gefallen, sucht etwa nach einem Labor, das noch analoge Fotos entwickelt und mokiert sich darüber, dass in Deutschland auch gute Freunde die Rechnung im Lokal teilen. Manchmal ist sie auch selbstkritisch: „Ärgere mich über die Nichte, weil sie keinen Bikini mehr trägt, seit sie fromm ist, keinen kurzen Rock, kein enges T-Shirt. Ich selbst trug noch nie dergleichen, jedoch aus anderen, den richtigen Gründen, versteht sich.“, notiert sie.

Der Umfang des Buches sollte nicht abschrecken – die einzelnen Notate lassen sich auch überspringen, wenn sie gerade nicht interessieren. Alles in allem ein bemerkenswerter Lesestoff.


Navid Kermani: Das Alphabet bis S
Hanser Verlag
592 Seiten
€ 33,95