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Anita Augustin, eine geborene Klagenfurterin, arbeitet seit 25 Jahren als Dramaturgin in verschiedenen Theatern und lehrt als Dozentin an der Freien Universität Berlin. In ihrem bereits dritten Roman mit dem langen Titel „Wie ähnlich ist uns der Zackenbarsch, dieses äußerst hässliche Tier“ geht es um ein zurzeit sehr vieldiskutiertes Thema, nämlich den Missbrauch von Kindern.

Kindesmissbrauch als verstörender Roman – „Wie ähnlich ist uns der Zackenbarsch, dieses äußerst hässliche Tier“ von Anita Augustin

Anita Augustin, eine geborene Klagenfurterin, arbeitet seit 25 Jahren als Dramaturgin in verschiedenen Theatern und lehrt als Dozentin an der Freien Universität Berlin. In ihrem bereits dritten Roman mit dem langen Titel „Wie ähnlich ist uns der Zackenbarsch, dieses äußerst hässliche Tier“ geht es um ein zurzeit sehr vieldiskutiertes Thema, nämlich den Missbrauch von Kindern. Sie wandelt dabei auf einem schmalen Grat, denn ihr Buch ist durchaus unterhaltsam und man kann als Leser durchaus Sympathie für den mutmaßlichen Täter entwickeln.

Gleich zu Beginn verschwindet ein Mädchen, die Nachforschungen der Polizei sind ergebnislos, die Mutter ist natürlich verzweifelt und unternimmt alles, um ihre Tochter zu finden. Schnitt: Wir lernen Viktor kennen, der sich vom Psychiater Frank Hilfe bei seiner Neigung zu minderjährigen Mädchen erwartet. Viktor hat einen schrägen Beruf, er ist Edelkomparse und spielt bei Filmproduktionen stets eine Figur, die ermordet wird. Viktor hat eine anscheinend einfach gestrickte Frau und eine dominante Schwiegermutter, die beide zu Opernaufführungen schleppt. Und er hat eine geheimnisvolle Geliebte, die sich Karl nennt. Wie von Frank aufgetragen führt Viktor ein Tagebuch, in dem er sein wenig aufregendes Leben zwischen Film – langes Warten auf den kurzen Auftritt – und Selbsthilfegruppe von Menschen mit gleichen Neigungen aufzeichnet. Internet ist allen verboten, zu groß ist die Gefahr, dass sie auf einschlägigen Seiten landen. Am Ende wird klar, dass die Geliebte Karl die verzweifelte Mutter ist, die über den Psychiater an den Täter zu kommen versucht.

Augustin webt ein immer verstörenderes Gewebe aus Einsamkeit, frustrierenden Aussichten auf Heilung, skurrilen Mordszenen – alles vor dem Hintergrund eines wahrscheinlich tatsächlich passierten Verbrechens, das freilich nicht gänzlich aufgeklärt wird. Alles mündet schließlich in einem surrealen Fiebertraum.

„Wie ähnlich ist uns der Zackenbarsch, dieses äußerst hässliche Tier“ ist ein Roman, der Leser sehr nachdenklich zurücklässt. 


Drei begabte Frauen in der Provinz – Silvia Pistotnigs Familienroman „Die Wirtinnen“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Drei begabte Frauen in der Provinz – Silvia Pistotnigs Familienroman „Die Wirtinnen“

Großmutter Johanna, Mutter Marianne und Tochter Gertrud, gesehen von 1936 bis heute – und alle drei Frauen haben ein großes Talent, das ihnen nicht gegönnt ist, zur Entfaltung zu bringen. Zumal auf dem Land in Kärnten, wo es in der Großfamilie früher sowieso nur ums Überleben gegangen ist. Johannas unglaubliches Geschick für das Orgelspiel verkümmert ebenso wie Mariannes traumwandlerisches Gespür für Zahlen und Mathematik. Und selbst für Gertruds Balltalent ist in den 80er-Jahren noch lange kein Platz. Mädchen gehören am Fußballplatz bestenfalls auf die Tribüne, Frauenfußball ist so interessant wie ein Hockey-Match in Aserbaidschan.

Silvia Pistotnig beweist in ihrem bereits vierten Roman „Die Wirtinnen“ Mut zur großen Geschichte quer durch die heimische Historie. Aufgewachsen in Kärnten lebt sie schon lange in Wien, ihr dritter Roman „Teresa hört auf“ erhielt sehr gute Kritiken – zwischenzeitlich arbeitete sie auch als Redakteurin für „Wien live“. „Die Wirtinnen“ wird in jeweils abwechselnden Kapiteln und bisweilen zwischen den Zeiten springend aus der Perspektive von Johanna, Gertrud und Marianne geschildert – die Jüngste spricht sogar als Ich zu uns. Wir erleben das harte Leben auf dem Land vor dem Krieg – besonders natürlich als fast rechteloses Mädchen. Eine Vergewaltigung – zumal vom eigenen Schwager – ist eine lässliche Sünde, schlimm ist nur, wenn frau keinen Mann abbekommt. Und so feiert Johanna erst spät Hochzeit und hat dann auch gleich ein Wirtshaus zu übernehmen, denn die Männer müssen ja in den Krieg. Als der Gemahl schließlich zurückkommt ist er gebrochen und wird zum Alkoholiker. Das Gasthaus ist für Johanna und später für Marianne niemals Berufung, sondern immer nur Pflicht. Teenager Gertrud findet es sowieso urpeinlich und unbequem. Geschickt hat Pistotnig auch Zeitgeschichte wie die Verbrechen der Nazis in den Roman eingebracht. Einer der Brüder Johannas ist geistig behindert und wird von allen kärntnerisch „Tschoppale“ genannt. Ein Schwager ist SS-Mann, aber auch er kann oder will das – eigentlich von allen geliebte – Kind nicht vor der Euthanasie retten. Jede Familie hat so ihre ganz dunklen Flecken.

Quasi im Zentrum des Romans erleben wir allerdings das Scheitern von Mariannes Ehe in den 90er-Jahren. Ihr Erwin fühlt sich vernachlässigt, weil sie auch nachdem die Kinder Gertrud und Thomas schon älter sind, nie Zeit für ihn hat, sondern andauernd im Gasthaus arbeitet. Das wirft freilich längst nicht mehr genug ab. Die Geschichte ihrer Trennung hat allerdings eine Pointe. Marianne entdeckt just als Erwin weg ist ihre sexuellen Bedürfnisse, schläft wieder mit ihrem bereits in die Stadt gezogenen Geschiedenen und bekommt mit 40 noch ein Kind, das allerdings wieder ein „Tschoppale“ wird. Im letzten Kapitel besucht dann Gertrud quasi in der Gegenwart das von neuen Eigentümern umgebaute Gasthaus.

„Die Wirtinnen“ ist ein Familienroman aus dem Süden Österreichs, das uns die Schicksale von Frauen im Strudel des Alltags näherbring – und darüber hinaus eine kurzweilige aber sicher nicht anspruchslose Lektüre. Am 19. Mai wird Silvia Pistotnig beim Literaturfestival „Rund um die Burg“ zu erleben sein.


Silvia Pistotnig: Die Wirtinnen
Elster & Salis
358 Seiten
€ 24,70

Wie geht es Männern, die wochenlang keine Frauen um sich haben und auch sonst völlig abgeschieden leben müssen? Das fragt sich die Journalistin, Autorin und Ich-Erzählerin in Tabitha Lasleys „Seegang“.

Die Männer auf den Bohrinseln – Tabitha Lasleys „Seegang“

Wie geht es Männern, die wochenlang keine Frauen um sich haben und auch sonst völlig abgeschieden leben müssen? Das fragt sich die Journalistin, Autorin und Ich-Erzählerin in Tabitha Lasleys „Seegang“. Sie verlässt – nachdem ein Romanmanuskript einem Einbruch zum Opfer gefallen ist – ihren Freund, um im schottischen Aberdeen Interviews mit Erdölplattformarbeitern zu führen. Gleich mit dem ersten Interviewpartner geht sie eine Beziehung ein, obwohl der natürlich wie fast alle Offshore-Arbeiter verheiratet ist. Wie sie das Ende der seltsamen Liebe verarbeitet und wie die Stimmung in einer nur durch die Erdölindustrie reich gewordenen Stadt funktioniert – davon handelt dieses Buch, das sich nicht so richtig als Roman titulieren lässt.

Die harte und gefährliche Arbeit auf den Plattformen war lange Zeit noch die einzige Möglichkeit für die Arbeiterklasse in Großbritannien, ein Zipfelchen vom Wohlstand zu erreichen. Mit dem Verfall des Ölpreises sowie der Konkurrenz billiger, rechteloser Arbeitskräfte aus Rumänien stellt sich die Situation heute wieder anders dar. Lasley führte mehr als hundert Interviews in denen sich ihr meist ein ähnliches Bild zeigte. Die Männer, die meist nach drei Wochen Heimurlaub bekommen, wirken völlig entwurzelt und können zu Hause kaum noch Tritt fassen. Der Alkohol – den es auf den Bohrinseln natürlich nicht gibt – beherrscht in Aberdeen den Alltag, man will nachholen, was man versäumt hat. Kaum einer kann sein Familienleben aufrechterhalten.

Die Erzählerin ist mittendrin in dieser seltsamen Gemeinschaft. Da sie ihre Interviewpartner meist in Bars findet, hält sie sich dort öfters auf als ihr guttut. Der unfreundliche Winter von Aberdeen und das schlechte Viertel in dem sie wohnt tun ein Übriges. Am Ende arbeitet sie in einem Schnellimbiss in einer trostlosen Nachbarschaft.

Tabitha Lasleys „Seegang“ ist ein Buch über die Situation der britischen Gesellschaft, man bekommt als Leser auch ein Gefühl dafür, warum der Brexit wohl kein Betriebsunfall der Politik des Landes war.


Tabitha Lasley: Seegang
Aus dem Englischen von Tanja Handels
Luchterhand Verlag
320 Seiten
€ 22,70

Seit dem Booker-Preis 2019 für „Girl, Woman, Other“ ist die britische Schriftstellerin Bernardine Evaristo ein Literaturstar. Jetzt bringt der Tropen-Verlag ihren bereits 2013 erschienenen Roman über einen aus der Karibik stammenden Mann, der seine Homosexualität fast sein ganzes Leben in einer Ehe versteckt hat, heraus.

Liebende Männer & Väter – Bernardine Evaristos Roman „Mr. Loverman“

Seit dem Booker-Preis 2019 für „Girl, Woman, Other“ ist die britische Schriftstellerin Bernardine Evaristo ein Literaturstar. Jetzt bringt der Tropen-Verlag ihren bereits 2013 erschienenen Roman über einen aus der Karibik stammenden Mann, der seine Homosexualität fast sein ganzes Leben in einer Ehe versteckt hat, heraus. Denn in seiner Community ist gay noch immer ein schlimmes Schimpfwort und geoutete Männer persona non grata – auch wenn längst alle Bekannten in London leben. Der gutaussehende Barrington Jedidiah Walker ist zu Beginn der Geschichte schon im Pensionsalter. Durch kluge Immo-Geschäfte reich geworden, könnte er mit seiner Frau Carmel den Ruhestand genießen, denn die beiden Töchter sind längst außer Haus. Doch Carmel ist furchtbar eifersüchtig und unterstellt ihm – natürlich völlig grundlos – Frauenbekanntschaften, während er längst ein Doppelleben mit seinem Lebensfreund Mike, den er bereits seit Kindertagen in der Karibik kennt, führt. Mike wurde von seiner Frau in flagranti erwischt und ist daher längst solo. Auch er hatte aus Gründen der Tarnung geheiratet. Die Spannung erhält der Roman dadurch, dass Barrington jetzt Mike verspricht, sich von Carmel zu trennen und mit ihm zusammenzuleben. Doch gerade jetzt stirbt Carmels Vater, ein ehemals furchtbar brutaler Despot und Frauenschläger und sie fliegt zur Beerdigung. Und da muss Barrington auch noch auf seinen halbwüchsigen Neffen aufpassen, weil auch seine Tochter zur Beerdigung anreisen will. Zwischendurch sind aber immer Kapitel in der 2. Person singular zu lesen, die Carmels Position verständlich machen. Sie ist keineswegs nur die ständig keppelnde Hausfrau. Sogar ein Liebhaber taucht auf und man denkt sich als Leser, warum sie sich nicht endlich ausgesprochen haben.

„Mr. Loverman“ ist ein wunderbar lesbarer Roman über den noch immer bestehenden Mangel an Akzeptanz für andere Lebensformen abseits der Mehrheitsgesellschaft. Dabei ist Barrington keineswegs political correct, wie sich in den vielen witzigen Dialogen mit seinem Freund Mike herausstellt. Evaristo schreckt dabei auch nicht vor Schwulenklischees zurück – Barrington und Mike tragen Maßanzüge mit Schnitten aus den 50er-Jahren und machen damit in der Londoner Gesellschaft mächtig Eindruck. Auch sonst genießen sie das Leben in vollen Whiskey-Schlucken. Am Ende kommt es dann mit Carmel dann aber anders als gedacht.


Seit dem Booker-Preis 2019 für „Girl, Woman, Other“ ist die britische Schriftstellerin Bernardine Evaristo ein Literaturstar. Jetzt bringt der Tropen-Verlag ihren bereits 2013 erschienenen Roman über einen aus der Karibik stammenden Mann, der seine Homosexualität fast sein ganzes Leben in einer Ehe versteckt hat, heraus.

Bernardine Evaristo: Mr. Loverman
Aus dem Englischen von Tanja Handels
Tropen Verlag
334 Seiten
€ 24,80

Die 1976 in Sevilla geborene Autorin Sara Mesa ist in Spanien eine vielbepreiste Autorin und ihr Roman „Eine Liebe“ wurde zu einem Bestseller.

Flucht in die spanische Provinz – Sara Mesas verstörender Roman „Eine Liebe“

Die 1976 in Sevilla geborene Autorin Sara Mesa ist in Spanien eine vielbepreiste Autorin und ihr Roman „Eine Liebe“ wurde zu einem Bestseller. Er beginnt ganz harmlos mit einem Topos – Frau aus der Stadt zieht, wenn nicht flieht sogar aufs Land, um zu sich zu kommen. In einem herabgekommenen, gemieteten Haus will Nat an einer Übersetzung arbeiten, denn über größere Geldmittel verfügt sie nicht. Doch bald schon stellt sich die Provinz als Gegenteil einer Idylle dar: Ihr Vermieter ist ein ungebildetes Schlitzohr, die Dorfbewohner beäugen sie neugierig, ein nicht unsympathischer Nachbar bietet ihr seine Hilfe an, es ist heiß und als es regnet, stellt sich das Dach als undicht heraus.

Und da wird die Geschichte ungewöhnlich. Ein Außenseiter in der Dorfgemeinschaft, der nur „Der Deutsche“ genannt wird, obwohl er eigentlich aus dem Nahen Osten stammt und nur in Deutschland gearbeitet hat, bietet ihr an, das Dach zu reparieren und das Material zu beschaffen. Allerdings erwartet er dafür eine einmalige sexuelle Gegenleistung – er will „in ihr drinnen“ sein. Nat ist erst empört, kommt dann aber zu ihm und als der Deal vorbei ist, besucht sie ihn ganz freiwillig immer wieder. Mehr noch, sie wird anscheinend emotional und sexuell von ihm abhängig. Und das obwohl der nicht wirklich attraktive Mann nicht gerne spricht und sie als Frau mit Luxusproblemen abtut. Sie war nämlich aus Scham aufs Land geflohen, weil sie aus einer Laune heraus im Büro etwas gestohlen hatte. Als der Diebstahl entdeckt wurde, kam sie zwar mit einer Ermahnung davon, fand aber nicht mehr so recht in ihre Spur.

Als der Deutsche, der in Wirklichkeit ein studierter Ingenieur ist und nur zur Überbrückung als Gemüseerzeuger arbeitete, schließlich mit ihr Schluss macht, ist sie verzweifelt und beginnt sogar ihn zu stalken. Dazu beißt ihr Hund, den sie nur schwer zähmen konnte und den sie doch lieben zu lieben gelernt hatte, dem Kind der Nachbarin ins Gesicht. Er wird von den aufgebrachten Dorfbewohnern erschossen. Doch Mesa lässt die Geschichte ohne weitere Katastrophe ausklingen – Nat zieht einfach ein Dorf weiter weg.

„Eine Liebe“ ist ein verstörender Roman, denn in der aktuellen Prosa sind wir zwar gewohnt, Männern mit all ihren Schwächen und Defiziten zu erleben, während wir für Frauen eher Gründe beschrieben finden, warum sie – wenn sie sich nicht doch noch die Initiative ergreifen – scheitern müssen. Mesa erzählt dabei sehr nüchtern, was diese seltsame Liebe nur noch rätselhafter erscheinen lässt. Wahrscheinlich lohnt sich gerade deswegen die Lektüre.


Die 1976 in Sevilla geborene Autorin Sara Mesa ist in Spanien eine vielbepreiste Autorin und ihr Roman „Eine Liebe“ wurde zu einem Bestseller.

Sara Mesa: Eine Liebe
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
Wagenbach
188 Seiten
€ 23,70

Die Aufzeichnungen der 1943 in Moskau geborenen Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja „Die Erinnerung nicht vergessen“ können natürlich nicht Wissenslücken füllen, das Büchlein trägt aber einiges an Verständnis bei.

Russland verstehen – Ljudmila Ulitzkajas Aufzeichnungen „Die Erinnerung nicht vergessen“

Wir wissen leider fast nichts über die Ukraine, und viel zu wenig über Russland. Zwar werden gerade jetzt massenweise Vermutungen über den Geistes- und Gesundheitszustand Putins verlautet, die Geschichte des europäischen Ostens ist freilich für die meisten Europäer noch immer ein Weißer Fleck. Die Aufzeichnungen der 1943 in Moskau geborenen Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja „Die Erinnerung nicht vergessen“ können natürlich nicht Wissenslücken füllen, das Büchlein trägt aber einiges an Verständnis bei – gerade weil es den sehr subjektiven Blick einer russischen Intellektuellen auf ihr Leben beisteuert. Aus einer jüdischen Familie stammend und nach einem Biologiestudium als Laborantin arbeitend verkehrte Ulitzkaja immer in oppositionellen Kreisen. Bis zu Stalins Tod war die Sowjetunion schwer antisemitisch, aber auch danach hatten Juden jede Menge Schwierigkeiten im Alltag. Doch unter der Mangelwirtschaft litten alle. So erzählt Ulitzkaja von Wintermänteln, die Jahre „aufgebaut“ – man sparte also die Einzelteile zusammen – und dann von ganzen Generationen getragen wurden, bis sie schließlich noch in einer Puppentheaterbühne Verwendung fanden. Das einzig Gute in der Sowjetunion war das Erleben von Solidarität unter Freunden – man half sich andauernd gegenseitig aus. Interessant auch die Stellung der orthodoxen Kirche, die damals noch – zumindest teilweise – in Opposition zu den Herrschenden stand, während sie heute bekanntlich voll auf Putins Kriegskurs ist. Ulitzkaja lebt zur Zeit – mit fast 80 Jahren – in Berlin, denn nach dem Überfall auf die Ukraine sah die putinkritische Autorin in Moskau keine Möglichkeiten mehr. Sie notiert: „Der Wahnsinn eines Mannes und seiner ihm ergebenen Handlanger bestimmt das Schicksal des Landes. Wir können nur vermuten, was darüber in fünfzig Jahren in den Geschichtsbüchern stehen wird. Schmerz, Angst und Scham – das sind die Gefühle. Schmerz – weil der Krieg Lebendiges trifft – das Gras und die Bäume, die Tiere und ihre Nachkommen, die Menschen und ihre Kinder.“

Die Eliten hätten allerdings schon vorher Russland verlassen, der Krieg habe diese Bewegung aber verstärkt, erzählt sie. Denn der Totalitarismus begann nicht ohne Vorzeichen. So wurde die nach dem Ende der Sowjetunion einsetzende Aufarbeitung der Verbrechen des Regimes von Putin jäh gestoppt und Archive wieder geschlossen oder deren Finanzierung verhindert.  

Es geht freilich in diesem Buch nicht nur um Politik. Ulitzkaja beschreibt durchaus auch selbstkritisch ihre Ehen und Lieben – viele ihrer Lebensgefährten sind allerdings inzwischen gestorben, ihr Mann – ein Künstler – ist mit ihr nach Berlin gezogen. Sehr lange diskutiert sie mit sich selbst den Begriff der Freiheit – etwas, das die Menschen in Russland bisher kaum erleben durften. Man merkt dem nüchternen Ton durchaus an, dass Ulitzkaja ursprünglich aus der Wissenschaft kam. Die präzisen Unterscheidungen und Abgrenzungen machen „Die Erinnerung nicht vergessen“ zu einem klugen, erhellenden Buch.


Die Aufzeichnungen der 1943 in Moskau geborenen Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja „Die Erinnerung nicht vergessen“ können natürlich nicht Wissenslücken füllen, das Büchlein trägt aber einiges an Verständnis bei.

Ljudmila Ulitzkaja: Die Erinnerung nicht vergessen
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt und Christina Links
Hanser
192 Seiten
€ 23,70

Die 1981 in den USA geborene und jetzt in Pasadena bei L.A. lebende Tochter eines jüdischen Iraners und einer kroatischen Mutter wurde mit ihrer Darstellung menschlicher Abgründe – gebrochen durch einen feinen Humor – zu einer der angesagtesten Autorinnen weltweit.

Grausame Welt – Ottessa Moshfeghs düsterer Roman Lapvona

Die 1981 in den USA geborene und jetzt in Pasadena bei L.A. lebende Tochter eines jüdischen Iraners und einer kroatischen Mutter wurde mit ihrer Darstellung menschlicher Abgründe – gebrochen durch einen feinen Humor – zu einer der angesagtesten Autorinnen weltweit. Schon Moshfeghs erster Roman „McGlue“ über einen alkoholkranken Seemann, der sich an einen Mord nicht erinnern kann, erhielt Auszeichnungen. Berühmt wurde sie 2018 mit ihrem Roman „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ in dem sich eine junge Frau mithilfe von Medikamenten in eine Art Winterschlaf begibt. Für manche eine Vorahnung von Corona.

Ihr neuestes Buch „Lapvona“ ist gänzlich anders. Entstanden am Beginn der Pandemie, noch unter Trumps Präsidentschaft und – wie sie in einem Interview sagte – als „Reaktion auf das, was gerade vor sich ging“, treffen wir in diesem Roman auf eine Art mittelalterliche Gesellschaft des Dorfes Lapvona, das von dem verrückten Adeligen Villiam, der oben auf seinem Schloss hockt, beherrscht wird. Man mag da an Kafkas unvollendeten Roman denken, doch Moshfeghs Personal ist wesentlich grausamer und weniger geheimnisvoll. Die Bauern sind dumm und lehnen sich nicht einmal in einer durch Dürre ausgelösten Hungersnot gegen die ausplündernde Obrigkeit auf. Da fressen sie lieber ihre eigenen Toten. Dass auch die Katastrophen wie die Überfälle der Räuber und die Wasserknappheit von oben gesteuert werden, schnallen sie nicht.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht der 13-jährige Marek. Er hilft – leider völlig verkrüppelt und hässlich – seinem Vater Jude bei der Schafzucht. Die Schläge seines Vaters erträgt er gerne, denn durch sein Leiden glaubt er sich näher bei Gott. Dabei ist Religion – wie es bei Marx heißt – buchstäblich das Opium des Volkes – obschon der Pfarrer alles andere als bibelfest ist und den Rest seiner Ausbildung in Trinkgelagen mit dem Fürsten Villiam wegsäuft. Marek freundet sich mit dem Sohn des Fürsten an, dem es im Schloss zu langweilig ist und der gerne in der Gegend herumstreift. Beim Aufstieg auf einen Berg bewirft ihn Marek allerdings mit einem Stein, worauf dieser zu Tode stürzt. Doch statt den geständigen Marek zu bestrafen, nimmt ihn Villiam als seinen neuen Sohn im Schloss auf – die Handlung wird immer absurder. Intrigen der Dienerschaft und eine Amme mit Zauberkräften vervollständigen das Bild einer verrückten Gesellschaft, in der nur eines sicher scheint: Man kann sich auf nichts und niemanden verlassen. Am Ende wird Marek der neue – allerdings von den Nachbarreichen nur als Statthalter geduldete – Herrscher.

Was man anfangs noch mit Erstaunen und Interesse verfolgt, wird dabei nach und nach immer beliebiger. Vor allem gibt es in diesem Roman keine positive, sympathische Figur, an deren Schicksal man Anteil nehmen könnte. Wozu Mitleid haben mit all diesen Widerlingen? Mann kann das alles natürlich als Allegorie auf den Wahnsinn unserer Zeit lesen, aber so hoffnungslos wie in dieser Gesellschaft mag man sich die Gegenwart nur ungern denken. Ein Roman als Maßstab dafür, was uns drohen könnte?


Die 1981 in den USA geborene und jetzt in Pasadena bei L.A. lebende Tochter eines jüdischen Iraners und einer kroatischen Mutter wurde mit ihrer Darstellung menschlicher Abgründe – gebrochen durch einen feinen Humor – zu einer der angesagtesten Autorinnen weltweit.

Ottessa Moshfegh: Lapvona
Hanser Berlin
336 Seiten
€ 26,80

Gott & Physik – Franzobels Roman „Einsteins Hirn“ über den Pathologen Thomas Harvey

„Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten“ schreibt Karl Kraus im Vorwort zu „Die letzten Tage der Menschheit“. Und dass fällt einem sofort ein, wenn man Franzobels neuen Roman „Einsteins Hirn“ liest. Denn vieles, was Franzobel auf fast 450 Seiten berichtet, klingt phantastisch, ist aber so geschehen. Dass der Pathologe Thomas Harvey im Spital in Princeton Albert Einsteins Gehirn entgegen dem Wunsch des Physikers entnahm und aufbewahrte, ist etwa schon lange bekannt. Auch dass Einstein eine russische Geliebte hatte, die ihn ausspionierte, ist nicht erfunden. Genauso, dass einer von Einsteins Söhnen in der Schweiz in einem Irrenhaus lebte. Und der Ort, wo Einsteins Asche verstreut wurde, ist tatsächlich unbekannt.

Franzobel wäre aber nicht Franzobel, wenn ihm zu der wundersamen Geschichte von Einsteins Gehirn nicht noch zusätzlich Wundersames eingefallen wäre. Er konzentrierte sich dabei auf das Leben des an sich ziemlich faden Pathologen Thomas Harvey. Denn dieser ist ein bekennender Quäker und nimmt für sich in Anspruch, ein rechtschaffener Mensch zu sein. Aber gerade zu ihm – und nur zu ihm – beginnt Einsteins Hirn zu sprechen. Zunächst sogar in Schweizerdeutsch. Das kann er natürlich niemandem erzählen obwohl er ja behauptet hatte, Einsteins Denkorgan wissenschaftlich untersuchen zu wollen – wozu Harvey allerdings gänzlich die Ausbildung fehlt. Harvey will Einstein zu Gott bekehren, stößt dabei aber auf Granit. Selbst eine jüdische Dämonenaustreibung, ein muslimischer Kaufmann und diverse andere Kulte können Einstein nicht für Gott begeistern.

Doch die eigentliche erzählerische Kunst Franzobels besteht darin, Figuren um Harvey einzuführen, deren Geschichte bis zum Schluss spannend bleibt. Da ist etwa Harveys spröde Geliebte Gretchen, die später als lesbische Umweltschützerin die ganze Nation nervt und schließlich erschossen wird. Da sind zwei russische Gauner, die in vielen Rollen auftauchen, um den Menschen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Oder Einsteins schrulliger Nachlassverwalter in New York, ein merkwürdiger Psychiater, diverse Direktoren und nicht zuletzt Harveys Ehefrauen. Die ersten zwei sind herrisch und ertragen es nicht, dass ihr Mann soviel Zeit mit einem an Kimchi erinnerndes Gewebe verbringt. Die letzte ist eine gutmütige Optimistin, die das Pech hat, der Demenz zu verfallen. Dabei muss Harvey einen rasanten sozialen Abstieg erleben – er verliert nach und nach immer wieder seine Jobs und sogar seine Zulassung als Arzt, um als Fabrikarbeiter zu enden. Bis zuletzt muss er malochen, um seine Unterhaltszahlungen erfüllen zu können.

Aufgepeppt wird der Roman auch dadurch, dass Harvey – von Franzobel auch gern nach dem Film „Mein Freund Harvey“ „der weiße Hase“ genannt – wie Forrest Gump bei geschichtsträchtigen Ereignissen dabei ist oder sie zumindest im TV mit Einsteins Kommentaren erlebt. So stolpert er in New York, weil er eine Straße überqueren will, in eine Bürgerrechtsdemo und hält da sogar eine Rede vor verblüfften Schwarzen. Als er ein paar Hippies nach Woodstock fährt, erlebt er einen veritablen Drogenrausch. Harvey kommt sogar nach Moskau, wo ihm die altgewordene Geliebte des Physikers die Weltformel präsentiert, die sich schließlich als eine Art Matrix-Warnung herausstellt. Am Ende freundet er sich mit einem seltsamen Nachbarn – ausgerechnet der Beatnik-Dichter William S. Burroughs – an und geht mit ihm in eine Ausstellung. Das gibt Franzobel Gelegenheit – vielleicht etwas zu überzeichnet – sich über die verblödete Kunstszene lustig zu machen.

Der Roman liest sich wunderbar leicht – einzig die Figur eines FBI-Agenten, der Harvey beschatten soll und schließlich im Irrenhaus endet, wo der Pathologe kurzfristig arbeitet, scheint völlig unnötig. Das hätte Franzobel gar nicht nötig gehabt angesichts seiner Fülle an verrückten Figuren.


Franzobel: Einsteins Hirn
Zsolnay
544 Seiten
€ 28,80

24 Stunden vor Kriegsbeginn – Raphaela Edelbauers neuer Roman über 3 junge Menschen in Wien vor dem 1. Weltkrieg

24 Stunden vor Kriegsbeginn – Raphaela Edelbauers neuer Roman über 3 junge Menschen in Wien vor dem 1. Weltkrieg

Die 1990 geborene Wienern Raphaela Edelbauer konnte mit ihren Romanen bisher immer überraschen. In ihrem ersten Erfolg „Das flüssige Land“ geht es um Provinzialismus und ein plötzlich auftretendes Loch, das einen Ort zu verschlingen droht, der Roman „Dave“ mit dem sie den Österreichischen Buchpreis gewann behandelt das Thema künstliche Intelligenz in einer nicht allzu fernen Zukunft und im neuesten Werk „Die Inkommensurablen“ begleitet sie drei junge Menschen am Beginn des 1. Weltkrieges in Wien.

Hauptperson ist der erst 17jährige Bauernknecht Hans Ranftler, der aus seiner Quasi-Leibeigenschaft in Tirol nach Wien flüchtet, um die Psychoanalytikerin Helene Cheresch aufzusuchen, die sich mit Massenhysterie beschäftigt. Denn Hans, der sich – gezwungen die Schule zu verlassen – seine Bildung von einem Vikar geholt hat,  glaubt, dass seine Gedanken andere beeinflussen. Völlig mittellos kommt er zu ihrer Praxis, erhält sogar einen Termin für ein Gespräch am nächsten Tag und lernt vor dem Haus Klara und Adam kennen. Sie ist die erste Frau, die an der Universität vor ihrem Abschluss in Mathematik steht, er ist der pazifistische Abkömmling einer Offiziersfamilie dessen Interesse der Musik gilt. Die folgenden Stunden, in denen sie durch ein durch den kommenden Krieg völlig aus der Bahn geratenes Wien streifen, bilden den Roman. Die Inkommensurablen – also die Unbestimmbaren – sind sie selbst, aber auch das Hauptthema von Klaras Doktorarbeit über die schwer fassenden Zahlen neben den natürlichen Zahlen. Klaras Rigorosum, ihr durch kriegslüsterne Kommilitonen gestörter Vortrag in der Universität, ist sozusagen der Höhepunkt des Buches.

Raphaela Edelbauer versucht sich an einem Porträt Wiens knapp vor Kriegsbeginn – die jungen Männer sind bereits trunken vom Krieg, überall werden Adam und Hans gefragt, ob sie sich schon in der Rossauer Kaserne für den Kriegsdienst angemeldet haben. Adam ist klar, dass er als Offizier sich dem Krieg wohl nicht entziehen kann. Von Kindheit an wurde er von seinem Vater darauf vorbereitet. Das Trio muss einem Diner im Palais seiner Eltern mit den Militärberatern des Kaisers beiwohnen – Hans und Klara sind klare Außenseiter, denn auch Klara hat einen proletarischen Familienhintergrund in Favoriten. Edelbauer führt uns auch dorthin, denn Klara muss noch vor dem Rigorosum Dokumente abholen. Inzwischen wohnt sie längst bei Helene Cheresch, sie ist lesbisch – damals eine Provokation. Auch eine Bar auf der Wienzeile, wo sich Obdachlose, Künstler und Ausgestoßene treffen, gehört zur Tour des Trios. Adam hat ein Kind mit einer Prostituierten – Edelbauer ist bemüht, alle Schichten der damaligen Zeit abzubilden. Am Ende landet Hans tatsächlich bei der Psychoanalytikerin Helene Cheresch, die sich freilich als Forscherin von Massenpsychosen präsentiert. In die Handlung eingewoben ist nämlich ein Traum von einem Dorf, der von Tausenden geteilt wird und der sich als Autosuggestion herausstellt. Ein logischer Schluss angesichts der Kriegshysterie, der so viele verfallen.

 „Die Inkommensurablen“ ist ein Roman, der Spaß macht zu lesen – auch wenn manche Metaphern etwas schief scheinen und die Autorin etwas zu tief in den Fremdwörtertopf greift. Und wie sich im letzten Jahr leider gezeigt hat, ist Kriegsbegeisterung ein Thema, das wir uns auch im 21. Jahrhundert stellen müssen.


Wien, wie es isst 2023. Der Führer durch Wiens Gastronomie beinhaltet Infos über 4.000 Lokale, Beisln, Restaurants, Cafés mit Kindern, im Grünen und am Sonntag.

Wien, wie es isst – Der Lokalführer für Wien

Wien, wie es isst 2023. Der Führer durch Wiens Gastronomie beinhaltet Infos über 4.000 Lokale, Beisln, Restaurants, Cafés mit Kindern, im Grünen und am Sonntag. Der Lokalführer „Wien, wie es isst” ist ein echter Klassiker aus dem Falter Verlag!

Es gibt wohl keinen anderen so umfangreichen Guide, der sich für kulinarische Entdeckungen in allen 23 Bezirken sowie rund um Wien eignet. Auch dieses Jahr ist der Führer durch Wiens Lokale prallvoll mit neuen, trendigen, internationalen und traditionellen Beisln, Restaurants, Bars und Cafés. Die komplett überarbeitete 41. Ausgabe lässt uns verstehen, was „Liebe geht durch den Magen” wirklich bedeutet. Gewinnen Sie hier eines von drei Büchern.