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Eine Brutalität, die nachwirkt – Anne Rabes Roman über eine Kindheit in einer DDR-Familie nach dem Mauerfall

In der Geschichte gibt es keine Stunde Null, denn alles, was in Gegenwart und Zukunft geschieht oder geschehen wird, hat bereits eine Vorgeschichte. Anne Rabe demonstriert diesen Grundsatz anhand einer Familie, in der nach dem Zusammenbruch der DDR die Brutalität des Regimes weiterlebt. Das Mädchen Stine – die Erzählerin des Romans – kommt 1986 zur Welt, erlebt die DDR also nicht mehr bewusst. Und doch wollen Stines Eltern die neue Realität nicht wirklich wahrhaben, zumal sich zu Hause nicht viel ändert. Denn im Gegensatz zu vielen anderen in Rostock können die Eltern schnell in ihren Jobs weiterarbeiten. Mutter ist Erzieherin und das bedeutet für Stine nichts Gutes, denn in der DDR war die schwarze Pädagogik Standard. Mit Erziehungsmaßnahmen wurde alles Abweichlerische unterdrückt und hart bestraft. Prügel sind daher in Stines Familie Alltag, auch den jüngeren Bruder Tim kann das Mädchen nicht vor Mutters Schlägen schützen. Und Papa tut sowieso immer unbeteiligt.

Als Stine älter wird, drohen neue Gefahren. Die ehemalige DDR wird zum Aufmarschgebiet der Neonazis, die schon an den Schulen nicht nur sogenannte Ausländer verdreschen und demütigen. Aber auch bei ihren Freundinnen hat Stine Schwierigkeiten, gelten doch die Mitglieder ihrer Familie als „Rote Socken“, also die ehemaligen Nutznießer der DDR. Überhaupt haben es die, die den Umsturz herbeigeführt haben, später schwerer als die Mitläufer und Angepassten, denn anders als den Oppositionellen war ihnen eine höhere Bildung nicht verwehrt – und mit bessrer Bildung gibt es eben mehr Jobmöglichkeiten.

Stine möchte später die Geschichte ihrer Vorfahren, vor allem ihres Großvaters, der überzeugter Kommunist war, recherchieren. Auch weil er schon vor dem Krieg im Elend leben musste und dem Tod an der Ostfront nur knapp entkommen ist.

Wie ein Krake versucht Stines Mutter bis zuletzt noch noch ihre Enkelkinder in ihre Einflusssphäre zu ziehen. Dabei lebt Stine da schon längst in Berlin. Und schickt sich an, Autorin zu werden. Als Leser denkt man da natürlich an die Verfasserin des Buches, denn viele biografische Details finden sich im Roman wieder.

Mit ihrem Prosadebüt „Die Möglichkeit von Glück“ ist Anne Rabe ein gut lesbarer Roman über die langen Nachwirkungen von undemokratischen Staatsformen gelungen.


Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück
Klett-Cotta
384 Seiten
25,50 €

Aufwachsen im Schatten Kaliforniens – „Avalon“, Nell Zinks berührendes Porträt eines Mädchens

Aufwachsen im Schatten Kaliforniens – „Avalon“, Nell Zinks berührendes Porträt eines Mädchens

Die Mutter verzieht sich in ein buddhistisches Kloster, der Vater ist längst ohne Adresse zu hinterlassen nach Australien ausgewandert. Und so wachsen Bran – Abkürzung von Brandy – und ihr Halbbruder auf einer Pflanzenfarm bei der Familie des letzten Freundes ihrer Mutter im Hinterland von Los Angeles auf. Die Familie gehört einer Motorradgang an und betreibt nebenbei recht krumme Geschäfte – sogar das Land, auf dem sie die Pflanzen für reiche Abnehmer und Firmen züchten, scheint nicht wirklich ihr Besitz zu sein. Doch Bran ist klug und schafft mühelos die Highschool, was ihr in den USA allerdings ohne weitere Collegeausbildung nur Jobs mit geringster Bezahlung ermöglicht. Zudem hat sie keine Papiere und auch keinen Führerschein, was sie allerdings nicht daran hindert, sich einen billigen Gebrauchtwagen zu besorgen und damit in die Unabhängigkeit zu starten, denn auf der schmutzigen Farm wird sie bloß als billige Arbeitskraft ausgenützt.

Nell Zink stammt aus Kalifornien, lebt aber schon seit Jahren südlich von Berlin. Dass sie erzählen kann, hat sie bereits mit Romanen wie „Nikotin“ und „Vrginia“ bewiesen. In „Avalon“ zeichnet sie ein anderes Bild ihrer Heimat an der Westküste. Eines der großen Gegensätze, denn Brans Freunde sind, wenn schon nicht reich, so zumindest guter Mittelstand. Etwa der schwule Jay, der trotz mangelnden Talents und ausgerechnet bei einer blinden Lehrerin Flamenco lernen und tanzen will und später die Filmhochschule besucht. Bran kann gut Geschichten schreiben – soll sie eine unwahrscheinliche Karriere als Drehbuchautorin wagen?

Und dann lernt sie den Studenten Peter kennen, der an der Ostküste studiert und bereits mit einem reichen, schönen Mädchen aus einem arabischen Clan verlobt ist. Zwar wissen beide, dass nichts aus ihrer Liebe werden kann, aber die Anziehung bleibt. Für Peter und seine Freunde sind alle Reichen und Erfolgreichen Faschisten, in Wirklichkeit erliegt er aber sehr leicht den Verlockungen des Kapitalismus. „Avalon“ – übrigens eine Insel vor L.A. auf dem sich ein Vergnügungspark befindet – endet auf der Party eines berühmten Schriftstellers und es ist klar, dass sich die Liebe von Peter und Bran in Erinnerung auflösen wird. Ein interessanter Roman abseits aller Kalifornien-Klischees.


Aufwachsen im Schatten Kaliforniens – „Avalon“, Nell Zinks berührendes Porträt eines Mädchens ist Helmut Schneiders Buchtipp.

Nell Zink: Avalon
Aus dem Englischen von Thomas Überhoff
Rowohlt
272 Seiten
€ 24,70

Zwei Geschwister im Trubel nach der Wende – Susanne Gregors Roman „Wir werden fliegen“.

Zwei Geschwister im Trubel nach der Wende – Susanne Gregors Roman „Wir werden fliegen“

Miša und Alan sind Geschwister und wachsen in einer slowakischen Industriestadt auf. Kurz vor dem Zusammenbruch des Ostblocks flieht der ältere Alan über dir Grenze und wird Hilfsarbeiter in Hamburg. Nach einem schlimmen Arbeitsunfall zieht er zu den Eltern, die inzwischen nach der Wende in Wien leben. Er studiert Medizin und wird Orthopäde am AKH. Aber trotzdem er wie seine Schwester Miša perfekt Deutsch spricht und im Job einer der besten ist, scheint ihm etwas zu fehlen. Nachdem er unverschuldet für eine schadhafte Prothese den Kopf hinhalten muss, dafür aber eine viel besser bezahlte Stelle in einer anderen Klinik angeboten bekommt, verschwindet er plötzlich und taucht – ziellos durch Südosteuropa fahrend – unter. Eltern, Schwester und Freundin sind besorgt.

„Wir werden fliegen“ geht dort weiter wo Gregors erster Roman „Das letzte rote Jahr“, das die Jahre vor der Wende in Žilina aufgehört hat. Schon dieses Buch war eine bemerkenswerte Talentprobe.

Susanne Gregor kennt die mentale Heimatlosigkeit ihres Geschwisterpaares aus eigenem Erleben, denn sie kam selbst als Kind aus der Slowakei nach Österreich. Die kulturellen Unterschiede zwischen Ost und West bestehen für sie auch noch mehr als 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Vasallenstaaten. Viele der einstigen Migranten sind inzwischen zwar bestens integriert, aber wer interessiert sich etwa heute bei uns, wie die Familien der Pflegerinnen aus Rumänien leben?

„Wir werden fliegen“ ist ein Roman über Familie und Identität. Einst stellten sich Miša und Alan – in einem Swimming-Pool in einem Ostblockhotel – den Westen als ein Reich ohne Grenzen und mit einem reich gedeckten Tisch für alle vor, wo immer ein Pool bereitstehen würde. Aber Freiheit ist auch bei offenen Grenzen nicht leicht zu haben. Die sensible Miša ist weit weniger geradlinig in ihren Zielen als ihr Bruder und muss gerade in ihren Beziehungen einiges einstecken. Doch dafür ist sie etwas ehrlicher zu sich selbst.

Susanne Gregor erzählt ebenso spannend wie geschickt, indem sie das Verschwinden Alans als Cliffhanger gleich an den Beginn des Romans stellt und oft auch aus der Sicht von Nebenfiguren – wie der Diplomatentochter Nora – Alans Freundin – auf die Handlung blickt.

Ein kluger Roman, der uns auch zeigt, dass das Projekt Europa in einigen wichtigen Bereichen noch ganz am Anfang steht.


Zwei Geschwister im Trubel nach der Wende – Susanne Gregors Roman „Wir werden fliegen“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Susanne Gregor: Wir werden fliegen
Frankfurter Verlagsanstalt
254 Seiten
€ 24,70

Würgeschlangen & andere Katastrophen – T. Coraghessan Boyles Endzeitroman „Blue Skies“.

In Florida endet die Hurrikansaison überhaupt nicht mehr, in Kalifornien gibt es dafür nur noch Sonne und dazu Waldbrände. Eine durchschnittliche amerikanische Familie muss im neuen Roman des US-Autors mit diesen und anderen Katastrophen umzugehen lernen. Nicht alle sind unvermeidlich. Dass sich etwa die studienabbrechende Tochter Cat in Florida eine Python zulegt, weil sie die Zeichnung der Schlangenhaut so toll findet, und sie mit der Schlange um den Hals als Influencerin durchstarten will, scheint nicht erst gefährlich, als sie Zwillingsmädchen bekommt. Und wenn ausgerechnet der mit einer Zeckenforscherin liierte Sohn Cooper zu spät seinen Zeckenbiss nach Studien im kalifornischen Valley behandeln lässt – obwohl sein Vater noch dazu Mediziner ist – schüttelt man wohl den Kopf als er dann eine Hand verliert. Aber Boyle kennt eben die Psyche seiner Figuren und damit unser aller Schwächen nur zu gut. Oft sind es ja gerade die kleinen Fehler und Unachtsamkeiten, die uns in den Abgrund blicken lassen. Am normalsten scheint noch Mutter Ottilie, die sich an der Küste auf einen geruhsamen Lebensabend mit ihrem Mann einrichtet. Cooper zuliebe steigt sie von Fleisch auf Insekten um, damit die Ökobilanz wieder stimmt. Auch Wasser setzt sie sparsam ein, obwohl sowieso längst alles vergeblich erscheint wenn ringsum Häuser durch Feuer zerstört werden.

Dem in Santa Barbara, CA, wohnenden Bestsellerautor T. C. Boyle kann man sicher nicht vorwerfen, jetzt erst auf die Ökowelle aufgesprungen zu sein. In seinen Romanen hat er die Umweltproblematik genauso oft behandelt wie seine anderen großen Themen Gewalt, Drogen, Sex oder überhaupt den American Way of Life. „Blue Skies“ ist auch keine Dystopie – denn leider sind einige der vom Autor beschriebenen Szenarien bereits eingetroffen. Warum der Roman unbedingt lesenswert ist: Boyle kann einfach verdammt gut erzählen und er hat ein wunderbares Gespür für Spannung. Wir erleben gerne die Kämpfe von „Normalos“ gegen die Auswirkungen der Klimakatastrophe und ertragen es, dass wohl manches bald auch unser Leben stark beeinträchtigen wird. Der Roman für Unerschrockene!

Am Montag, den 12. Juni, 20 Uhr, ist T. C. Boyle mit einer Lesung zu Gast im Theater im Park, im Schwarzenberggarten am Belvedere – Eingang Prinz-Eugen-Straße/Ecke Plößlgasse (Straßenbahnlinie D), Tickets: theaterimpark.at/programm-tickets


Würgeschlangen & andere Katastrophen – T. Coraghessan Boyles Endzeitroman „Blue Skies“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

T. C. Boyle: Blue Skies
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Hanser
400 Seiten
€ 28,80

Die Hölle ist eine Eliteschule in Wien – Tonio Schachingers Schulroman „Echtzeitalter“

Bei 600 Euro Schulgeld pro Semester bleibt man unter sich. Im Halbinternat Marianum bereiten sich die Kinder des gehobenen Wiener Bürgertums darauf vor, in die Elite einzutreten. Manche sind ja so reich, dass sie eigentlich ihr Leben lang keinem Brotberuf nötig haben. Tonio Schachinger lässt in seinem Roman den Schüler Till im Marianum, das allein aufgrund der topografischen Verortung als Theresianum leicht zu entschlüsseln ist, allerdings die Hölle autoritärer Erziehung erleben. Denn wer dort das Pech hat, den Dolinar als Klassenvorstand zu bekommen, lebt sozusagen in einer Enklave innerhalb der Schule. Beim Dolinar werden auch leichte Vergehen mit großer Härte bestraft und selbst außerhalb der Schule kann man als Schüler nie sicher sein, von ihm nicht beobachtet zu werden. Ist man bei ihm person non grata, wird man etwa gnadenlos ignoriert – nicht einmal die Mitschüler dürfen mit diesen Ausgestoßenen sprechen. Eine Isolationshaft ohne Ketten und Mauern.

Till hat freilich als Ausgleich ein großes Talent für ein bestimmtes Computerspiel und schafft es sogar international in die Top-Liga. Das ist sozusagen seine zweite Welt, in die er zeitweilig flüchtet. Er erreicht sogar eine Einladung zu einer Gameshow nach Shanghai. Aber natürlich muss er sich dieselben Fragen wie alle Pubertierenden stellen: Bin ich auch cool genug? Habe ich die richtigen Freunde? Wie komme ich bei Mädchen an? Liebt sie mich, oder doch nicht? Zwischendurch bekommen wir einen interessanten Einblick in die Welt der Wiener Reichen und Schönen. Die Schüler wissen ja nur zu gut, dass sie einmal ein Vielfaches von Dolinars Gehalt zur Verfügung haben werden. Auch Till erbt von seinem Vater reichlich.

Schachinger ist dabei ohne Zweifel ein Erzähltalent. Es gelingen ihm durchaus witzige Passagen. Die Beschreibungen von Computerspielszenen kann man ja auch überblättern, sie haben für die Dramatik des Romans keine Bedeutung. Und das ist auch die Schwäche dieses in den Feuilletons vielgelobten Romans. Man spürt als Leser nicht, worauf der Autor hinauswill. Die oft unterhaltsamen Beschreibungen ergeben kein Gesamtbild. Eine gut erzählte Lebensepisode ergibt noch keinen Roman. Warum erzählt er etwa seitenlang von einem peinlichen Schülerstreich oder dem Besuch des KZ Mauthausen? Das Lehrerekel Dolinar, der selbst immer zu spät kommt und dem die Kollegenschaft und die Schule viel zu lasch sind, wäre durchaus eine interessante Romanfigur – seine Lebensumstände werden freilich nur angedeutet. So bleibt am Ende des Menüs nur ein guter Geschmack, aber kein wohliges Sättigungsgefühl zurück.


Tonio Schachinger: Echtzeitalter
Rowohlt
368 Seiten
€ 24,70

Ein intellektueller Spaß mit einer berühmten Familie – Joshua Cohens Roman „Die Netanjahus“.

Ein intellektueller Spaß mit einer berühmten Familie – Joshua Cohens Roman „Die Netanjahus“

Schreibt ein bekannter amerikanischer Autor ein Buch mit dem Titel „Die Netanjahus“ tendiert die Erwartungshaltung in Richtung Schlüsselroman (wobei bei einem solchen natürlich keine echten Namen verwendet würden). Noch dazu, wenn der Untertitel „Oder vielmehr der Bericht über ein nebensächliches und letztlich sogar unbedeutendes Ereignis in der Geschichte einer sehr berühmten Familie“ lautet. Der in Brooklyn lebende Joshua Cohen – Liebling der Intellektuellenmedien wie Village Voice und NYT – spielt natürlich mit unserer Gier nach Klatsch und Skandalen. Das heißt aber nicht, dass er am Ende doch noch Pikantes berichten würde. Doch bevor die „Netanjahus“ tatsächlich ins Geschehen kommen, ist das halbe Buch um.

Seine Hauptperson und Erzähler ist ein Historiker namens Ruben Blum, der das Pech hat in den 50er-Jahren, der einzige Jude in Corbindale – einer völlig unbedeutenden Universität am Rande des Staates New York – zu sein. Er ist noch dazu – eines der vielen Klischees, die Cohen genüsslich auftischt – auf Steuern spezialisiert („Eine Geschichte Amerikas in zehn Steuern“ ist eines seiner Bücher) und muss nicht nur wegen seines eindrucksvollen Barts jedes Jahr den Weihnachtsmann für das College spielen, sondern wird noch dazu bei allen Fragen betreffs Judentums um Rat gefragt, obwohl er sich längst als Amerikaner fühlt. Und da beginnt die Misere für ihn. Er soll auf Geheiß seines Rektors einen jüdischen Professor beurteilen, der sich am College beworben hat, und ihn sozusagen der Kollegenschaft präsentieren. Blum ist gar nicht begeistert, ist doch dieser Ben-Zion Netanjahu, wie er schnell herausfindet, bereits in ganz Israel verhasst. Er bekommt sogar regelrechte Warnungen vor diesem obskuren Historiker zugespielt.

Der taucht dann auch leibhaftig bei Blum auf – und zwar mitsamt seiner Mischpoche – also seiner rechthaberischen Frau und seinen drei ungezogenen Söhnen Jonathan, Benjamin und Iddo. Das bringt Chaos in das beschauliche Leben von Ruben Blum, der sehr zurückgezogen mit seiner Frau und pubertierenden Tochter in der Vorstadt lebt. Im Folgenden geht nicht nur der teure Farbfernseher zu Bruch als die Netanjahus um Geld für das Hotel zu sparen bei den Blums einziehen. Das ist zweifelsohne sehr lustig und wunderbar elegant erzählt. Schenkelklopferischen Klamauk darf man sich von diesem Roman allerdings nicht erwarten, Cohen handelt seitenweise die haarsträubenden Thesen von Ben-Zion Netanjahu über die Judenverfolgung und den Holocaust ab. „Die Netanjahus“ bleiben ein intellektueller Spaß, für

Joshua Cohen 2022 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde.

Die Figur des Ruben Blum erinnert laut Experten an den Literaturwissenschaftler Harold Bloom, der Cohen kurz vor seinem Tod vom Campusbesuch „eines obskuren israelischen Historikers Ben-Zion Netanjahu“ in New Haven erzählt hatte. Das letzte Kapitel des Romans stellt die geschilderten Geschehnisse dann noch einmal auf eine andere Ebene.


Am Samstag, 20. Mai, wird Anna Herzig um 11.30 Uhr „12 Grad unter Null“ beim Literaturfestival Rund um die Burg präsentieren.

Das Patriarchat in Reinkultur – Anna Herzigs Roman „12 Grad unter Null“

Am Samstag, 20. Mai, wird Anna Herzig um 11.30 Uhr „12 Grad unter Null“ beim Literaturfestival Rund um die Burg präsentieren.

In dem fiktiven Land Sandburg wird ein Gesetz erlassen, das Männern für die Zeit, die sie mit Frauen verbracht haben, eine finanzielle Entschädigung zugesteht. Schließlich ist das ja Arbeit und die Frauen sollen endlich lernen, auf eigenen Beinen zu stehen. Die Vorsitzende des Hohen Gerichts in Sandburg hat damit kein Problem, denn sie hat sich ihr Leben lang von Männern ferngehalten. Das Ergebnis ist erwartbar brutal: Alleingelassene Frauen mit Kind werden noch zusätzlich von den Forderungen ihrer Ex-Partner belastet, das Kinderkriegen wird ihnen als Manipulation vorgeworfen. Frauen sind schlicht und ergreifend wertlos. Mehr noch: sie haben jetzt Frauenschulden bei den Männern.

Die 1987 als Tochter eines Ägypters und einer Kanadierin in Wien geborene Autorin und Künstlerin Anna Herzig stellt unsere Männergesellschaft auf die Spitze und entwirft mit Sandburg einen Staat, der die sonst eher versteckte Bevorzugung von Männern wenigstens offen bekennt. Das ist witzig und schrecklich zugleich, zumal Herzig ihren Roman gar nicht wehleidig oder gar anklagend anlegt. Es ist eben so wie es ist: Ihre Protagonistin Greta wird zuerst vom Vater und dann vom Partner unterdrückt. Das Gesetz gibt ihnen recht. Greta sucht – nicht wirklich erfolgreich – in ihrer Schwester Elise eine Verbündete, zumal ihr Kind wieder ein Mädchen ist.

Herzigs Roman „12 Grad unter Null“ ist dann am stärksten, wenn Familienszenen wie das gemeinsame Mahl in ihrer Absurdität Leserinnen und Leser verstören können. Die klare und einfache Sprache macht die Geschichte noch wirksamer.


Am Samstag, 20. Mai, wird Anna Herzig um 11.30 Uhr „12 Grad unter Null“ beim Literaturfestival Rund um die Burg präsentieren.

Anna Herzig: 12 Grad unter Null
Haymon Verlag
144 Seiten
€ 20,-

Die Klimaschützerin beim AMS – Nadja Buchers Roman „Rosa gegen die Verschwendung der Welt“

Die Wiener Schriftstellerin Nadja Bucher debütierte 2013 mit dem Roman „Rosa gegen den Dreck der Welt“, in dem die ökologisch gestimmte Putzfrau Rosa mit Verve gegen Stromfresser, SUV-Fahrer und andere Umweltsünder ankämpft. Jetzt erscheint eine Fortsetzung. In „Rosa gegen die Verschwendung der Welt“ hängt die Protagonistin frustriert ihren Job an den Nagel, weil sie nicht länger bei hoffnungslosen Energieverschwendern putzen will. Das Angebot ihres Freundes Bertram, in seinem stets wachsenden Bioladen zu arbeiten, schlägt sie aus. Denn der ist ihr doch zu sehr Bobo-Unternehmer und Verbündeter seiner gutverdienenden Kunden geworden. Während andere von ihrem ökologischen Fußabdruck reden, will Rosa am liebsten gar nicht auftreten, sondern schweben. Ihre Wohnung ist spartanisch eingerichtet, ihr Energieverbrauch tangiert gegen Null, Strom hat sie sowieso abgemeldet. Dabei versorgt sie selbstlos ihre alte Nachbarin. Wie sich nach deren Tod herausstellt, ist die Nachbarin die Besitzerin des Mietshauses und Rosa braucht keine Miete mehr zu bezahlen.

Doch da Rosa arbeitslos gemeldet ist, bleibt ihr ein AMS–Fortbildungskurs nicht erspart. Bucher schildert genüsslich und detailreich die verschiedenen Kursteilnehmerinnen und -nehmer. Eine von ihnen macht dann Rosa – zunächst ohne ihr Einverständnis – zur Jeanne d’Arc der Umweltbewegung. Wie das Social-Media-Experiment entgleist, bestreitet dann einen Gutteil des wirklich sehr amüsant zu lesenden Romans, in dem man auch sehr viel über die gerade stattfindenden, das Klima ungünstig beeinflussenden Transformationen erfährt.

Nadja Bucher ist mit ihrem Roman eine Art moderner Bartleby gelungen, ihre Rosa will eben lieber nicht von den „Segnungen“ der modernen Welt profitieren. Am 19, Mai wird sie um 16.30 Uhr beim Literaturfestival „Rund um die Burg“ ihr Buch Roman „Rosa gegen die Verschwendung der Welt“ präsentieren.


Die Klimaschützerin beim AMS – Nadja Buchers Roman „Rosa gegen die Verschwendung der Welt“. Buchtipp von Helmut Schneider.

Nadja Bucher: Rosa gegen die Verschwendung der Welt
Edition Atelier
272 Seiten
€ 20,-

Rumpelstilzchen überall – A.L. Kennedys Abrechnung mit Großbritannien: „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“

Rumpelstilzchen überall – A.L. Kennedys Abrechnung mit Großbritannien

Die Schottin A.L. Kennedy ist gewiss eine der interessantesten Stimmen der Literatur. Und so verwundert es schon einigermaßen, dass ihr neuer Roman „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“ zwar bereits auf Deutsch erschienen ist, die Verlage auf der britischen Insel aber noch kein Interesse an einer Veröffentlichung gezeigt haben. Es kann ja wohl nicht sein, dass die bisweilen auch als Stand-up-Comedian auftretende Autorin zu kritisch für die britische Öffentlichkeit ist. Andererseits: Wurde nicht gerade ein Klimaaktivist zu 3 Jahren Gefängnis verurteilt, weil er in London eine Brücke blockiert hat?

Ihr aktuelles Buch hat es zweifelsohne in sich: Die Grundschullehrerin Anna muss in London erleben, dass ausgerechnet im Covid-Lockdown ihre ehemaligen Kumpel einer alternativen Comedie-Gruppe Jahrzehnte nachdem Anna ausgeschieden war vor Gericht kommen. In das „Unrule OrKestrA“ wie die für Streikende in den Thatcher-Jahren spielende Spaß-Truppe genannt wurde, hatte sich ein Polizeispitzel eingeschlichen, mit dem Anna sogar eine Liebschaft angefangen hatte. Als sie den nach Buster Keaton Buster genannten V-Mann auf offener Straße wiedererkennt, läuft sie ihm nach. Das ist aber nur ein Handlungsstrang, der allerdings durch Busters Lebensbeichte, die er ihr vor die Haustüre legt, ausführlich zu Wort kommt. Kennedy hat da fast einen Agententhriller eingewoben, denn Buster wird zum bisweilen kaum steuerbaren Killer, der Mädchenhändler und auch politische Verbrecher kaltblütig präzise ermordet. Dabei passieren allerdings auch Kollateralschäden.

Anna erzählt ihren Kindern in der Schule gerne das Märchen von Rumpelstilzchen, das bekanntlich als Gegenleistung von der Müllerstochter Unmoralisches – das erste Kind – verlangt. Für Anna sind alle, die sich an der Menschheit vergehen, einfach nur Stilzchen. Und Buster ist gewiss einer von ihnen.

Doch den größten Teil des Romans machen die Gedanken und Zweifel von Anna aus. Ihrem Sohn, der sich gerade anschickt, die Universität zu besuchen, liebt sie innig – ihren Liebhaber und Gefährten findet sie auch okay. Richtig vermissen tut sie ihn allerdings nicht als er im Lockdown auf seiner schottischen Heimatinsel festsitzt.

Über ihren Job als Lehrerin macht sie sich keine Illusionen: „Das Lernen im 21. Jahrhundert soll funktionieren wie die Erzeugung von Gänsestopfleber – man zwingt den minderwertigen Mais hinein und hält sie in Käfigen und gefügig. Man erntet den entstandenen Schaden und wirft den Rest des Kadavers weg.“  

Hat man die ersten 50 Seiten von „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“ einmal gelesen, entwickelt dieser Roman eine richtigen Sog. Man lauscht gerne der inneren Stimme von Anna, versucht sie doch die uns alle beschäftigende Frage nach dem richtigen Leben in immer falscher werdenden Zeiten zu beantworten.


Rumpelstilzchen überall – A.L. Kennedys Abrechnung mit Großbritannien: „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“

A.L. Kennedy: Als lebten wir in einem barmherzigen Land
Aus dem Englischen von Ingo Herzke und Susanne Höbel
Hanser
462 Seiten
€ 28,80

Eine Ärztin in der Gesundheitskrise – Elena Messners Roman „Schmerzambulanz“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Eine Ärztin in der Gesundheitskrise – Elena Messners Roman „Schmerzambulanz“

Der Titel des Romans verweist auf das Versprechen, mit dem die Klinikleitung die engagierte Internistin Judit Kasparek ins Team gelockt hatte. Sie könne im Krankenhaus nicht nur eine Station leiten, sondern gleichzeitig eine Schmerzambulanz aufbauen, in der Patientinnen und Patienten nach der Entlassung aus der Intensivstation behandelt werden sollen. Doch dazu kommt es nie, denn das gesamte Krankenhauspersonal ist komplett überlastet und damit beschäftigt, den Betrieb irgendwie aufrecht zu erhalten. Als dann eine Patientin im Sanitärraum zusammenbricht und nur überlebt, weil sie eine Putzfrau zufällig gleich findet, verlangt Judit die Einsetzung eines Ethikkonzils, um herauszufinden, wie es dazu kommen konnte. Denn eigentlich hatte Judit die Patientin als gesund diagnostiziert und zur Entlassung vorgeschlagen. Sind die vielen von anderen Ärzten verordneten Infusionen am Zusammenbruch schuld?

Elena Messners Roman „Schmerzambulanz“ verblüfft durch Detailkenntnis. Die in Klagenfurt, Salzburg und Ljubljana aufgewachsene Autorin muss umfangreich über Krankenhausabläufe recherchiert haben. Natürlich herrscht in den Spitälern, wie inzwischen allgemein bekannt, allerorts der Sparstift – erst wurden die Wäscherei und die Küchen aus den Spitälern entfernt und durch externe Betriebe ersetzt, dann waren die Pfleger und Hilfskräfte dran. Leiharbeiter sind einfach billiger. Dabei sind Messners Protagonisten durchaus engagiert. Etwa Judits Freundin, die Anästhesistin Asja oder ihr Geliebter Jovo, ein Pfleger. Selbst Primar Tom arbeitet bis an seine Grenzen. Auch das wenig befriedigende Liebesleben des Krankenhauspersonals wird geschildert. Alle haben Schuldgefühle, dass ihr privater und beruflicher Einsatz nie genug sein wird, einfach weil das in diesem System unmöglich ist.

Elena Messner setzt in diesem sehr dichten Roman auch noch einen radikalen Endpunkt: Die Station wird ohne Angabe von Gründen aufgelassen. Höchstwahrscheinlich weitere Sparmaßnahmen. Und die Patientin, die der Grund für das Ethikkonzil war, landet in einer anderen Station. Man muss Schlimmes befürchten.


Eine Ärztin in der Gesundheitskrise – Elena Messners Roman „Schmerzambulanz“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Elena Messner: Schmerzambulanz
Edition Atelier
228 Seiten
€ 25,-