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Ein Dorf-Sittenbild aus der Zeit vor der Naziherrschaft – Das Akademietheater spielt Maria Lazars „Die Eingeborenen von Maria Blut“.

Ein Dorf-Sittenbild aus der Zeit vor der Naziherrschaft – Das Akademietheater spielt Maria Lazars „Die Eingeborenen von Maria Blut“

Bild: ©Susanne Hassler-Smith

Alles geschieht im Angesicht der Gottesmutter, die mit Heiligenschein gekrönt, riesengroß aufgestellt auf die Dorfbewohner blickt. In der ersten Hälfte der Romandramatisierung von Lucia Bihler, die auch Regie führte und Alexander Kerlin umschließt sie mit ihrem von zwei Engeln getragenen blauen Gewand quasi den Dorfplatz, wo mit Riesenpuppenköpfen ausgestattete „Eingeborene“ dem böswillig konnotierten Tratsch frönen. Schuld am Unglück – wie die Schließung der Fabrik oder die Inflation – sind immer die Sozialisten und Kommunisten sowie die Juden. In gezwungener Oppositionsrolle steht der als Atheist und Mörder verdächtige Arzt Lohmann, der seiner sterbenden Frau die letzte Ölung, nicht aber das schmerzlindernde Morphium verweigert. Aber gerade er hat einen Sohn, der zu den Nazis rennt. Lazar interessierte vor allem die unselige Allianz von Katholizismus und Nationalsozialismus, die am Ende allerdings gebrochen scheint. Während die Marienstatue fällt, treten Volksredner auf und die neue – auf Spekulation begründete – Fabrik wird vom Mob zerstört.

Die jüdische Wiener Schriftstellerin Maria Lazar (1895-1948) erhielt während ihres Lebens nicht die ihr aufgrund der Qualität ihres Werkes zustehende Beachtung. Seit den 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts wird Lazar wiederentdeckt. Im Akademietheater spielte man 2019 ihren Einakter „Der Henker“. Der Roman „Die Eingeborenen von Maria Blut“ erschien 1937 in der bekannten, in Moskau erscheinenden Exilzeitschrift „Das Wort“, die von Brecht, Lion Feuchtwanger und Willi Bredel herausgegeben wurde. Er gilt als einer ihrer Hauptwerke.

Die Dramatisierung im Akademietheater bringt geschickt in kurzen Szenen, die durch einen Lichtflash geteilt werden, die Positionen im Dorf auf die Bühne. Da ist die Haushälterin des Arztes, die Angst hat, abgeschoben zu werden, da ihre Mutter Tschechin war. Da ist der Wirt, der sein ganzes Geld in die wertlos werdenden Fabriksaktien gesteckt hat sowie seine völlig von Maria besessene Tochter. Eine Herausforderung für das Ensemble, denn alle spielen mehrere Rollen oder zumindest die verkleideten Einheimischen – eine starke Leistung von Stefanie Dvorak, die auch die Erzählerin spricht, sowie von Philipp Hauß, Jonas Hackmann, Robert Reinagl, Dorothee Hartinger und Lili Winderlich. Zur sich steigernden Dramatik des Abends tragen auch das Sounddesign von Mats Süthoff sowie das Bühnenbild von Jessica Rockstroh bei.


Infos: burgtheater.at

Statt der Götterwelt tritt in der Volksoper zuerst der Komponist – Jacques Offenbach himself – auf und fordert endlich sein Denkmal in Wien, denn schließlich habe er das Musiktheater gerettet.

 Der Komponist will ein Denkmal – Jacques Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“ in der Volksoper

Bild: ©Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Statt der Götterwelt tritt in der Volksoper zuerst der Komponist – Jacques Offenbach himself – auf und fordert endlich sein Denkmal in Wien, denn schließlich habe er das Musiktheater gerettet. Dabei glaubt er, in der Staatsoper zu sein, wo sein Meisterwerk schließlich hingehört. Das britische Regieteam Toby Park & Aitor Basauri – bekannt als  Spymonkey – haben Jacques Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“ eine Rahmenhandlung verpasst und machen mit ihrem Auftritt auch gleich klar, dass man keinen denkmalgepflegten Abend erleben wird. Denn saftige, oft sogar schenkelklopferisch anmutende Komik ist der rote Faden, der sich durch die Aufführung in der Volksoper zieht.

In zweidimensionalen Kulissen (Bühnenbild: Julian Crouch) erlebt man gefühlt alle drei Minuten einen Gag. Da kommt etwa die „Öffentliche Meinung“ (Ruth Brauer-Kvam) auf 8 Füßen daher – sie muss ihre Kommentare aus luftiger Höhe singen. Da tanzen Schafe und englische Polizisten ein lustiges Ballett (Choreografie: Gail Skrela) – und da legt der Höllenhund Zerberus einen riesigen Haufen. Fad wird bei dieser Aufführung sogar Kindern nicht. Die etwas abstruse Handlung der Operette, die bei anderen Inszenierungen wie ein Klotz am Bein sein kann, wirkt in diesem Umfeld stimmig absurd.

Und Alexander Joel am Pult heizt mit dem Volksopernorchester mächtig ein. Auch sängerisch gibt es nichts zu bekritteln: Daniel Kluge als behäbiger Orpheus, Timothy Fallon als verschlagener Pluto und Marco Di Sapia als pantoffelheldenhafter Jupiter begeistern das Publikum.  Auch Hedwig Ritter kann als Eurydike überzeugen.

Ein Abend für alle, denen Operetten sonst zu langweilig und verstaubt sind.


Info: volksoper.at

Die junge Schweizer Autorin Selma Matter wurde für ihr gemeinsam mit  Marie Lucienne Verse geschriebenes Stück „Alice verschwindet“, das zuletzt in Linz Premiere hatte, mit dem Thomas-Bernhard-Stipendium 2022 ausgezeichnet, im Schauspielhaus gewann sie das Hans-Gratzer-Stipendium. Bei der Uraufführung ihres Stücks „Grelle Tage“ hängt nun der Klimawandel als Damoklesschwert über dem Geschehen. Eine Archäologin und ihr Assistent wollen im schmelzenden Eis bei Jakutsk Mammuts vor Elfenbeinjägern – „Mammutdealern“ – schützen und stecken bald im Schlamm fest. Da wird ein Tausende Jahre alter Wolfshund aufgetaut und beginnt zu leben. Der „zerfledderte Hund“ irrt durchs Gelände, während ein weiß gekleideter Mensch die Katastrophe durch die Klimaerwärmung prophezeit. Regisseurin Charlotte Lorenz lässt den apokalyptischen Text in einem weißen, von Vorhängen umkränzten Raum spielen, in dem es nur ein kleines Podest, eine Kühltruhe, eine Eisgetränke- und eine Zuckerwattemaschine stehen. Simon Bauer, Vera von Gunten, Clara Liepsch, Sebastian Schindegger, Til Schindler und Nico Werner-Lobo spielen unterschiedliche Rollen. Bemerkenswert ist vor allem wie der Bub Werner-Lobo schauspielerisch mit dem Ensemble problemlos mithalten kann – zuerst in der Rolle des Hundes, dann als Prophet. Er ist der Star des Abends.

Von Jakutsk zum Matterhorn – „Grelle Tage“ von Selma Matter im Schauspielhaus

Die junge Schweizer Autorin Selma Matter wurde für ihr gemeinsam mit  Marie Lucienne Verse geschriebenes Stück „Alice verschwindet“, das zuletzt in Linz Premiere hatte, mit dem Thomas-Bernhard-Stipendium 2022 ausgezeichnet, im Schauspielhaus gewann sie das Hans-Gratzer-Stipendium. Bei der Uraufführung ihres Stücks „Grelle Tage“ hängt nun der Klimawandel als Damoklesschwert über dem Geschehen. Eine Archäologin und ihr Assistent wollen im schmelzenden Eis bei Jakutsk Mammuts vor Elfenbeinjägern – „Mammutdealern“ – schützen und stecken bald im Schlamm fest. Da wird ein Tausende Jahre alter Wolfshund aufgetaut und beginnt zu leben. Der „zerfledderte Hund“ irrt durchs Gelände, während ein weiß gekleideter Mensch die Katastrophe durch die Klimaerwärmung prophezeit. Regisseurin Charlotte Lorenz lässt den apokalyptischen Text in einem weißen, von Vorhängen umkränzten Raum spielen, in dem es nur ein kleines Podest, eine Kühltruhe, eine Eisgetränke- und eine Zuckerwattemaschine stehen. Simon BauerVera von GuntenClara LiepschSebastian SchindeggerTil Schindler und Nico Werner-Lobo spielen unterschiedliche Rollen. Bemerkenswert ist vor allem wie der Bub Werner-Lobo schauspielerisch mit dem Ensemble problemlos mithalten kann – zuerst in der Rolle des Hundes, dann als Prophet. Er ist der Star des Abends.

Die Darsteller machen zwischendurch Ausflüge in die Kunstwelt – Michelangelos Erschaffung Adams oder Munchs Der Schrei werden nachgestellt – oder sorgen sich um das zerbröselnde Matterhorn. So wirklich dringend scheint das an dem Abend aber nicht zu sein. Zwar rinnt am Ende ein roter Saft – Blut? – die Vorhänge runter, die aktuelle Dramatik der Klimazerstörung erleben wir momentan aber eher in den Tagesnachrichten.


Infos: schauspielhaus.at

Der heuer im März erschienene schmale Text „Zwiegespräch“ von Peter Handke lässt sich locker in einer dreiviertel Stunde lesen und besteht vor allem aus Erinnerungen an seinen Großvater.

Peter Handkes „Zwiegespräch“ im Akademietheater

Bild: ©Susanne Hassler-Smith

Der heuer im März erschienene schmale Text „Zwiegespräch“ von Peter Handke lässt sich locker in einer dreiviertel Stunde lesen und besteht vor allem aus Erinnerungen an seinen Großvater. Die Regisseurin Riecke Süßkow hat für das Akademietheater ein Stück daraus gemacht – mit mehreren Alten und einigen Pflegerinnen – gespielt wird nämlich in einem Altersheim, in dem es fast wie in einer Fabrik streng getaktet zugeht. Die Alten werden von einem Pflegerinnenballett gefüttert, man bringt ihnen die Kleidung und dann müssen sie ein Spiel spielen, das als „Die Reise nach Jerusalem“ bekannt ist. Alle gehen im Kreis und wenn die Musik – etwa der Schlager La Paloma – unerwartet endet, ist ein Sessel zu wenig. Der Übriggebliebene muss bis auf die Kleidung alles abgeben und wird in eine Kammer gesteckt. Für ihn ist es wohl vorbei. Dazu kontrastiert der nachdenklich-erinnernde Text von Peter Handke, in dem es auch einmal ums Spielen – ein trauriges Kartenspiel, denn Großvaters Kumpane sterben nach und nach – geht.

Erstaunlicherweise funktioniert Süßkows Regieeinfall über weite Strecken recht gut – man hat immer etwas zum Schauen, Handkes Sprache funkelt an den unerwartetsten Stellen und die Regisseurin weiß auch noch nach mehr als einer Stunde szenische Akzente zu setzen. Mit Martin Schwab und ihm assistierend Hans Dieter Knebel und Branko Samarovski stehen ihr auch Schauspieler zur Verfügung, die den Handke-Zauber anmischen können. Wobei auch die Pflegerinnen Maresi Riegner und Elisa Plüss Texte sprechen dürfen. Dazu eine skurril gespenstische Bühne (Mirjam Stängl) mit Alibigrünpflanzen und innenbeleuchteten Schränken vor einer ausfahrbaren Holzwand, die meist in Sepiatönen beleuchtet wird. Am Ende – nachdem auch der letzte Großvater, eben Martin Schwab, abtreten musste – gibt es ein bizarres Fest mit Luftballons, wo sich alle wieder einfinden. Sind wir im Himmel oder in der Hölle? Egal, der Abend war recht anregend.

Infos: burgtheater.at


Peter Handke: Zwiegespräch
Bibliothek Suhrkamp
68 Seiten
€ 18,50

Das Traditionskonzert „Christmas in Vienna“ begeistert am 16. und 17. Dezember mit einem hochkarätigen Musikprogramm im einzigartigen Ambiente des Wiener Konzerthauses.

Einzigartiges Ambiente: Christmas in Vienna 2022

Bild: ©Ludwig Schedl

Das Traditionskonzert „Christmas in Vienna“ begeistert am 16. und 17. Dezember mit einem hochkarätigen Musikprogramm im einzigartigen Ambiente des Wiener Konzerthauses.

Seit mehr als 25 Jahren bietet „Christmas in Vienna“ im festlich geschmückten Großen Saal des Wiener Konzerthauses einen musikalischen Ausflug in weihnachtliche Traditionen aus aller Welt. Internationale KünstlerInnen versprechen auch 2022 einen hochkarätigen Musikgenuss. Mit dabei sind Katharina Konradi (Sopran), Jamie Barton (Mezzosopran), Rolando Villazón (Tenor), das Duo Bartolomey Bittmann (Matthias Bartolomey, Violoncello und Klemens Bittmann, Violine, Mandola), die Wiener Singakademie, die Wiener Sängerknaben und das ORF Radio-Symphonieorchester Wien. Erstmals steht mit Claire Levacher eine Frau am DirgentInnen-Pult. 

Repertoire

Das Musikprogramm erstreckt sich vom klassischen Repertoire über traditionelles Liedgut aus aller Welt bis hin zu populären Weihnachtssongs. „Christmas in Vienna“ gehört zu den begehrtesten Events im adventlichen Wiener Konzert-reigen. Wer bei diesem glanzvollen Abend dabei sein möchte, sollte sich rasch um Tickets bemühen! 


INFO
16. und 17. 12. 2022
christmasinvienna.com

„Apokalypse  Miau“ im Volkstheater

Bild: ©Birgit Hupfeld

Wer sagt, wir hätten momentan schon genug Krisen? Im Volkstheater gibt es jetzt Vulkanausbrüche, Meteroiteneinschläge und zum finalen Schluss noch ein aus dem CERN ausgebrochenes alles verschlingendes Schwarzes Loch. Und erleiden müssen das alles Theaterleute während sie die Verleihung der großen Theaterpreise, der DESTROY (Achtung Wortspiel) beiwohnen. Kay Voges inszenierte die Uraufführung von Kristof Magnussons Weltuntergangskomödie „Apokalypse Miau“ – die Trophäe, die an die Gewinner geht, ist eine vergoldete japanische Winkekatze mit einem zur Megafaust ausgewachsenen Arm. Die Theaterszene macht sich über sich selbst lustig und verschafft uns einen klamaukhaften, kurzweiligen, aber nicht kurzen Abend im Volkstheater.

Diesmal wird nicht gekleckert, Übertreibung ist Trumpf. Die mit niederländischem Akzent sprechende und singende Moderatorin (Evi Kerstephan) will in eleganter Abendrobe das Wiedererwachen des Theaters feiern, während im Pausenraum die Nominierten bereits nörgeln und sich gegenseitig schlecht machen.

Magnusson liefert uns in seiner Satire alle Prototypen des heutigen Theaterbetriebs: Da ist der altlinke Großregisseur (Andreas Beck), der sich über die Gurken am Käse beschwert, da ist die auch schon in die Jahre gekommene woke Feministin (Anke Zillich), der hippiehafte Jungschauspieler (Elias Eilinghoff), der buddhistische Choreograf (Mario Fuchs), die von allen gehasste Schauspielerlegende mit Nazi-Einschlag (Uwe Rohrbeck), der hedonistisch-blöde Autor (Christoph Schüchner) sowie das in Hollywood erfolgreich gewordene Sternchen (Bettina Lieder). Am Ende heißt der Kampf alle gegen alle – bisweilen kaschiert hinter Gesten der Hochachtung. Den Weltuntergang nehmen sie – wie augenscheinlich auch das Leben – solange nicht ernst bis ihnen die Meteroitenbrocken um die Ohren fliegen.

Im Hintergrund sieht man in einem riesigen Fenster Wien bereits in Flammen (Bühnenbild: Michael Sieberock-Serafimowitsch). Nach der Pause startet man dann einen Ausbruchsversuch, denn das Theater wurde längst getroffen. Klarerweise scheitert die Theatergesellschaft mangels Solidarität an diesem Befreiungsschlag. Und bevor das schwarze Loch schließlich  alle und alles verschlingt, haben sich einige bereits erschossen. Eine herrliche Screwball-Comedy und ein Spaß auch für das ausgezeichnete Ensemble.


Infos & Karten: volkstheater.at

Die Stärke der vorrevolutionären russischen Literatur besteht darin, dass sie uns ein gnadenlos vielschichtiges Bild einer erstarrten Klassengesellschaft präsentiert.

Johan Simons bringt Dostojewskis Roman „Die Dämonen“ ans Burgtheater

Die Stärke der vorrevolutionären russischen Literatur besteht darin, dass sie uns ein gnadenlos vielschichtiges Bild einer erstarrten Klassengesellschaft präsentiert. Die Mittellosen leben im Elend, die Reichen langweilen sich und die wenigen, die eine Veränderung wollen agieren brutal und kompromisslos. Sozialer Aufstieg findet nicht statt, denn durch Arbeit lässt sich nicht einmal der bescheidenste Wohlstand schaffen – die Besitzenden geben ihren Reichtum an Ihresgleichen weiter. Das ist auch für uns heute wieder spannend und relevant, weil wir uns offensichtlich unaufhaltsam wieder zu einer derartigen Gesellschaft hinbewegen.

Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821–1881) kannte seine Zeitgenossen allzu gut, bekanntlich landete er ja auch für Jahre im Straflager. In seinem fast 1000 Seiten starken Roman „Die Dämonen“ (zuletzt von Swetlana Geier in „Böse Geister“ übersetzt) lässt er von einem Erzähler zig Figuren auftreten, die die Brüchigkeit der russischen Gesellschaft offenlegen. Wie sich jetzt im Burgtheater wieder herausstellt, ist eine Adaption für die Bühne nur schwer machbar. Die Theaterfassung von Sebastian Huber (auf der Basis von Swetlana Geiers Übersetzung) bringt 11 Personen, die sich auf einem Gutshof in der Nähe von St. Petersburg versammeln, um ausgiebig zu schwadronieren. Man wartet auf den verlorenen Sohn Nikolaj Stawrogin (Nicholas Ofczarek), der einige Jahre mit Reisen durch Europa verbrachte. So nebenbei berichtet er zurückgekehrt, dass er in der Hauptstadt eine arme Minderjährige vergewaltigte, die sich danach das Leben nahm. Ein allzu schmerzhafter Hinweis darauf, wie wenig ein Menschenleben damals zählte. Quasi aus Sühne heiratete er die mittellose, hinkende Marja Lebjadkina (Sarah Viktoria Frick) – was den Heiratsplänen seiner Mutter natürlich im Wege steht. Die furchtlose, Reitgerbe-schwingende, reiche Lisa Tuschina (Birgit Minichmayr) wäre für ihn vorgesehen. In gut 4 Stunden (mit Pause) erleben wir viele Monologe und kaum Dialoge. Die mit Sessel– und Tischgruppen bestückte Bühne mit goldenem Hintergrund (Bühne: Nadja Sofie Eller) bildet dazu den Resonanzraum. Die merkwürdigen, weiten, bunten Hosen (Kostümbild von Greta Goiris) kontrastiert dazu. Am Ende zeigt sich Pjotr Werchowenski (Jan Bülow) im gelben Nazimantel als mordender Bote der grausamen Zukunft. Das exquisite und bemühte Ensemble kann freilich niemals vergessen lassen, dass uns hier Prosa für Drama verkauft wird.


Infos: burgtheater.at

Thomas Bernhards „Ritter, Dene, Voss“ in der Josefstadt

Dass Thomas Bernhard seine Wunschbesetzung 1986 zum Titel seines Stücks machte war zwar ein gelungener Marketinggag – die Peymann-Inszenierung mit Gert Voss, Kirsten Dene und Ilse Ritter war jahrelang am Burgtheater erfolgreich – doch nicht eben eine Ermunterung, das Drama mit anderen Schauspielern aufzuführen. Dabei ist „Ritter, Dene, Voss“ ein typischer Bernhard mit wenig Handlung und viel sprachlicher Bosheit. Es geht um drei Geschwister – der Bruder Ludwig, der sich für einen bedeutenden Philosophen hält, wurde gerade von seiner ältere Schwester aus Steinhof in die Villa in Döbling zurückgeholt. Jetzt bereitet sie mit viel Aufwand ein Abendessen vor, was die jüngere Schwester spöttisch kommentiert. Beide sind Schauspielerinnen im Theater in der Josefstadt, wo sie sich ihre Rollen aussuchen können, da ihnen der verstorbene Vater und Industrielle eine 51 Prozent Mehrheit sichern konnte. Das erzeugt natürlich Gelächter bei der Premiere in der Josefstadt, wo Peter Wittenberg eine Neuinterpretation  von „Ritter, Dene, Voss“ wagt.

Gespielt wird sozusagen im Museum – am Ende bittet eine Ansage über Lautsprecher alle Besucher das Haus zu verlassen. An den Wänden hängen große Gemälde von Gert Voss, Kirsten Dene und Ilse Ritter, die an diesem Abend allerdings für die Eltern der Geschwister stehen. Wittenberg setzt sonst allerdings keineswegs auf schnelle Gags – seine Inszenierung lässt sich Zeit, gerade im ersten Teil schaffen Sandra Cervik als ältere und Maria Köstinger als jüngere Schwester sozusagen einen meditativen Rahmen, in dem sich ihre unterschiedlichen Charaktere aneinander reiben können. Das mag für manche langweilig wirken, genauen Beobachtern wird der in ihnen steckende Irrsinn allerdings nicht verborgen bleiben. In Ludwig hat Bernhard viel aus der Biografie Ludwig Wittgensteins verpackt, wenngleich er seine Figur naturgemäß scheitern lässt. Bernhards Ludwig schreibt und schreibt und kann nichts veröffentlichen, während Wittgenstein bekanntlich schon in jungen Jahren mit seinem „Tractatus“ berühmt wurde.

Johannes Krisch spielt den Ludwig maximal unbeherrscht – bei der durch Voss berühmt gewordenen Branndteigkrapfenszene übergibt er sich fast. Ansonsten ist aber auch er durch den Regisseur zur Genauigkeit angehalten. Dabei geht viel Geschirr zu Bruch und die Gemälde werden oft umgehängt. Man glaubt ihm schließlich, dass er in Steinhof glücklicher wäre. Und die Schwestern? Sie sind zwar nicht geisteskrank, aber in ihren Routinen nicht weniger gefangen als Ludwig. Ein nachdenklicher Abend in der Josefstadt.


Infos: josefstadt.org

„Angels in America“ von Tony Kushner war ein riesiger Broadway-Erfolg der 90er-Jahre, 2003 machte Mike Nichols daraus auch eine grandiose TV-Show mit Meryl Streep, Al Pacino und Emma Thompson

„Engel in Amerika“ am Akademietheater

„Angels in America“ von Tony Kushner war ein riesiger Broadway-Erfolg der 90er-Jahre, 2003 machte Mike Nichols daraus auch eine grandiose TV-Show mit Meryl Streep, Al Pacino und Emma Thompson – hier in Wien ist die Hans-Gratzer-Inszenierung mit Erich Schleyer in bester Erinnerung. Es geht um den Todeshauch von Aids in der Schwulenszene New Yorks in den 80er-Jahren, aber eigentlich um die politischen Umbrüche der Reagan-Ära sowie die Etablierung von sexuellen Minderheiten in der Mehrheitsgesellschaft. Ein neues Zeitalter – „Millennium Approaches“ heißt auch der erste Teil – bricht an. Aber natürlich geht es auch um Liebe angesichts einer schweren Krankheit.

Im Akademietheater inszenierte jetzt US-Regisseur Daniel Kramer, der im Programmheft von seinem Leben als schwuler Junge im Mittleren Westen erzählt, das Stück, das eben weit mehr als nur ein Schwulen-Kultstück ist. Die Bühne (Anette Murschetz) wird von schwarzen Särgen dominiert, die sich bald als multifunktional erweisen – sie sind Bett, Bar, Pissoir, Sitzbank. Eine wunderbar praktikable und stimmige Lösung. Dazu kontrastieren die verspielt-bombastischen Kostüme (Shalva Nikvashvili) – eine Dragqueen erscheint im Schwanenlook und die tablettensüchtige Frau des schwulen Mormonen als Bärin, ihr imaginierter Reiseleiter als Pille. Im zweiten Teil wächst ein riesiger rosa Ballon, der wie ein Virus aussieht, zu Bühnengröße an, ehe er platzt.

Das Burg-Ensemble (Markus Scheumann, Felix Rech, Nils Strunk, Annamária Láng, Bless Amada, Patrick Güldenberg, Barbara Petritsch, Safira Robens) agiert sehr spielfreudig – viele Szenen sind in der nötigen Dringlichkeit gespielt. Köstlich etwa Markus Scheumann als einflussreicher rechter Lobbyist und Anwalt Roy M. Cohn – eine historische Figur – der seine Homosexualität schlicht leugnet, denn „Homos“ haben keine politische Macht, also kann er keiner sein. Die Story selbst scheint Kramer weniger zu interessieren als die zugegeben gelungenen Einzelszenen, denn der Abend endet ohne Auflösung. Warum etwa die Mormonenmutter aus Salt Lake City anreisen muss, muss für Menschen, die nie das gesamte Stück gesehen haben, schleierhaft bleiben. Das an diesem Premierenabend durchaus jüngere Publikum schien es aber nicht zu stören – die Aufführung hatte durchaus Eventcharakter.


Infos: burgtheater.at

Kneipengespräche – Daniel Kehlmanns „Nebenan“ am Burgtheater.

Kneipengespräche – Daniel Kehlmanns „Nebenan“ am Burgtheater

Daniel Kehlmann hat sein Drehbuch zum Film von Daniel Brühl fürs Burgtheater adaptiert. Es geht um einen erfolgreichen Schauspieler (Florian Teichtmeister), der gerade zu einem Casting in die USA aufbrechen will, und seinen armen Nachbarn (Norman Hacker), der über Kreditkartenrechnungen Peinliches über ihn herausfindet. Doch das präsentiert der ehemalige Ossi in der herabgekommenen Berliner Kneipe nur in kleinen Dosen, sodass der gestresste und nervös auf seinem Handy telefonierende Promi erst nach und nach das Ausmaß dieses Stalkings erkennt. Das ist mäßig spannend und höchstens so komplex wie weniger gute Netflix-Serien. Klar betrügt ihn die Partnerin und klar benützt er halblegale Sexplattformen. Warum ihn der Nachbar aber so hasst, wird nicht schlüssig erklärt. Weil er ihn ignoriert? – na da könnte man viele Menschen ans Messer liefern wollen. Weil er in einem Haus wohnt, das gentrifiziert wurde? Weil er ihn beneidet? Gar ein Klassenkampf? 

Martin Kušej inszenierte mit allerhand netten Details – die dünne und wenig komplexe Berliner Kneipen-Suppe wird aber dadurch auch nicht gehaltvoller. Die riesige Burg-Bühne (Jessica Rockstroh) wirkt deplatziert. Für die meiste Spannung sorgen da noch zwei Nebenfiguren mit ganz wenig Text: Katharina Pichler als resolute Wirtin und Stefan Wieland als Trinker am Tresen, der von Zeit zu Zeit einen unverständlichen Wutsager loslässt, den die Chefin sofort unterbindet. Und das Publikum ist schon erheitert, wenn im Radio von kilometerlangen Staus an der österreichischen Grenze berichtet wird.


INFOS: burgtheater.at