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Theaterkritik: „Cyrano de Bergerac“ im Burgtheater

Cyrano de Bergerac Martin Crimp nach Edmond Rostand Premiere am 05 April 2022 im Burgtheater

Augen zu und durch


Ein neuer Cyrano im Burgtheater. Zu sehen etwa am 9. und am 27. Mai 2022.
Foto: Nikolaus Ostermann


Einfach spielen kann man das vor Kitsch nicht zurückschreckende Versdrama „Cyrano de Bergerac“ von Edmond Rostand wohl nur in einem Augen-zu-und-durch-Modus in den diversen Sommertheatern. Nimmt man das französische Drama ernst, müssen die Figuren mehr vermitteln können als ihnen der Text vorgibt. Das bedarf einer subtilen Regie und sensibler Schauspieler. Im Burgtheater wird jetzt eine Version des britischen Dramatikers Martin Crimp (in der Übertragung von Ulrich Blumenbach und Nils Tabert) gespielt, die den Cyrano einen etwas moderneren Anstrich gibt und ihn in der Regie von Lily Sykes auch zeitlich nicht völlig in die Mantel- und Degen-Ära abgleiten lässt. Bisweilen rapt man sogar und der Schluss wurde von Crimp völlig verändert wenn auch nicht ins Happy-End verklärt. Franz Pätzold spielt solide den langnasigen Reimeschmieder, Lilith Häßle die angebetete Roxane, etwas blass wirkt Tim Werths als Schönling Christian.

Man kann sich also durchaus gut unterhalten im Burgtheater und das Entsetzen vor dem Krieg und vor totalitären Gesellschaften hat sowieso leider gerade eine tragische Aktualität.


„Cyrano de Bergerac“ im Burgtheater
burgtheater.at

Theaterkritik: „Reich des Todes“ im Akademietheater

Reich des Todes


Eine Geschichtsstunde –  Rainald Goetz‘ „Reich des Todes“ im Akademietheater. Theaterkritik von Helmut Schneider.
Foto: Ruiz-Cruz


Am Beginn herrscht Party – am Ende Ratlosigkeit. In der Inszenierung von „Reich des Todes“ von Rainald Goetz durch Robert Borgmann im Akademietheater tanzen sich weiß bekleidete Menschen zur Rave-Musik in Trance, während im Hintergrund bereits Leuchtstoffröhren die Fassade des World Trade Centers andeuten. Doch schnell ist Schluss mit lustig, die jungen Menschen liegen leblos am Boden und werden mit Erde bedeckt. Die Anschläge von 9/11 sind für Rainald Goetz aber nur der Ausgangspunkt einer Entwicklung, die sich in den Einschränkungen liberaler Freiheiten und schließlich in den Folterzellen in Abu Ghuraib fortsetzt. Der amerikanische Präsident, Geheimdienstchefs und Folterknechte und -mägde treten auf, Berichte von Menschenrechtsverletzungen werden verlesen. Dass dieses Stück über eine Zeitenwende jetzt just zu einem Zeitpunkt erscheint, als angesichts der Gräuel des Ukraine-Kriegs wieder viele von einer Zeitenwende sprechen, kann man auch als notwendiges Korrektiv eines umsichgreifenden Schwarz-Weiß-Denkens empfinden.

Goetz zieht aber auch Parallelen zu den Verbrechen der Nazis, er holt da ziemlich heftig aus.

Auf einem zweiten Bühnenvorhang ist der Grundriss eines Konzentrationslagers aufgezeichnet, Braunhemden in Wehrmachtsstiefeln treten auf. Aber macht das schon ein gutes Theaterstück aus? Die Folter-Vorwürfe im Irak und Guantanamo sind bekannt, auch wenn man nach wie vor nicht weiß, was Obama letztendlich bewogen hat, sein Wahlkampfversprechen, Guantanamo aufzulösen, zu brechen. Robert Borgmann versucht in einzelnen Szenen durchaus mit Erfolg, ansprechende Theaterbilder zu schaffen und die Texte ins Tragisch-Komische zu verfremden. Die Schauspielerinnen und Schauspieler – Marcel Heuperman, Felix Kammerer, Christoph Luser, Elisa Plüss, Safira Robens, Martin Schwab und Andrea Wenzl – erzeugen eine große Bühnenpräsenz. Mehmet Ateşçi gelingt etwa in einem Käfig ein beeindruckender Folteropfermonolog. Der erkenntnismatte 20-minütigen Schlussmonolog, den Martin Schwab vom Blatt ablesen muss, ist dann aber – nach dreieinhalb Stunden – eine Geduldprobe fürs Publikum.


Informationen & Karten: burgtheater.at

Theaterkritik: „All right. Good night.“ im Volkstheater


Ein Stück über Verschwinden und Verlust – „All right. Good night.“ im Volkstheater. Theaterkritik von Helmut Schneider.
Foto: Merlin Nadj-Torma


Kann ein so großes Ding wie eine Boeing 777 in unserer vernetzten, kontrollierten Welt einfach so verschwinden und was passiert mit den weltweit Millionen von Demenzkranken, deren Bewusstsein und Gedächtnis sich von Tag zu Tag mehr vernebelt? Helgard Haug von Rimini Protokoll spiegelt in der Produktion „All right. Good night.“ den tragischen Flug der Malaysia Airlines im Jahr 2014 mit 239 Menschen am Bord, der nie restlos aufgeklärt werden konnte, mit dem Protokoll der Demenzerkrankung ihres Vaters, eines evangelischen Pfarrers. Ein Abend mit viel Musik und viel Text – allerdings wird der nur ganz selten gesprochenen, sondern im Bühnenhintergrund mit gut lesbaren großen Lettern angezeigt. Das erzeugt überraschenderweise eine eigene Stimmung und ganz viel Spannung. Im Theater stören Übertitel ja meistens, man nimmt sie aber im Kauf, um etwa einer fremdsprachigen Oper folgen zu können. Bei dieser Produktion hat man das Gefühl, etwas Intimes zu lesen. Es ist fast wie eine Buchlektüre. Dazu trägt natürlich auch die Musik von Barbara Morgenstern in Zusammenarbeit mit dem Zafraan Ensemble – 3 Musiker und 2 Musikerinnen sind stets auf der Bühne – bei. Es ist beileibe keine Hintergrundmusik, sondern ein dichtes Geflecht an Klängen, immer passend zum Text. Was sonst noch passiert auf der Bühne wird nebensächlich – angedeutet wird ein Strand mit dem Fund eines Wrackteils.

Zwar gehen die vielen Toten des Absturzes natürlich auch nahe – eine Gruppe Angehöriger des Flugs MH370 fragt bis heute seit dem Absturz jeden einzelnen Tag im Büro von Malaysia Airlines nach, ob es Neuigkeiten gebe –, die größte Betroffenheit entsteht aber dabei wenn wir miterleben, wie ein kluger, engagierter Mensch im Alter die Kontrolle über seine Gedanken und Sätze verliert. Die zweieinhalbstündige Koproduktion des Volkstheaters mit u.a Hebbel am Ufer in Berlin wurde heuer – wohl zurecht – zum Berliner Theatertreffen eingeladen.


Infos & Karten: volkstheater.at

Theaterkritik: „Der.Semmelweis.Reflex“ im Off-Theater

Totentanz der Wissenschaft


Das Off-Theater spielt „Der.Semmelweis.Reflex“. Eine Theaterkritik von Helmut Schneider.
Foto: Barbara Palffy


Als Semmelweis-Reflex wird die Vorstellung beschrieben, dass das wissenschaftliche Establishment eine neue Entdeckung quasi „reflexhaft“ ohne ausreichende Überprüfung erst einmal ablehne und den Urheber eher bekämpfe als unterstütze, wenn sie weit verbreiteten Normen oder Überzeugungen widerspricht. – Zitat Wikipedia. Im Off-Theater in Neubau stellt das Bernhard Ensemble das turbulente und letztendlich tragische Leben des Ignaz Semmelweis (1818 – 1865, er starb im Irrenhaus an einer Blutvergiftung) als mahnendes Beispiel für Ignoranz in der Wissenschaft dar. Und das mit zum Teil drastischen Mitteln. Bevor die Zuschauer eingelassen werden, müssen sie sich Plastikpatschen über die Schuhe stülpen – man geht schließlich in einen Operationssaal, der sich zunächst als Leichenhalle präsentiert. Denn das war ja die wichtige Erkenntnis des in Wien und Budapest tätigen Arztes Dr. Semmelweis – zu seiner Zeit übertrugen die Ärzte die Keime der sezierten Toten ohne Hygiene direkt auf die Wöchnerinnen, sodass die Frauen, die in der Nachbarabteilung des AKH mit Hebamme entbanden, eine ungleich höhere Überlebenschance hatten.

Glücklicherweise spielt das Off-Theater-Ensemble unter Ernst Kurt Weigel das freilich sehr frei und flüssig. Tote haben ebenso ihre Auftritte wie ignorante Kollegen und leidende Mütter. Zur Choreografie von Leonie Wahl bewegen sich die fünf Darstellerinnen und Darsteller auch oft zu einem schaurigen Totentanz. Wissenschaft kann ja auch Spaß machen.

Gelungene 100 Minuten.


Infos & Karten: www.off-theater.at

Balladen von Schiller

Otto Brusatti im Spektakel


Balladen von Schiller – ganz anders dargebracht von Otto Brusatti & Friends im Spektakel.
Text: Helmut Schneider


Es gab eine Zeit, da mussten in den österreichischen Gymnasien im Deutschunterricht mehrere Balladen von Friedrich Schiller auswendig gelernt werden. Nun will ich ja nicht behaupten, dass mir das die Liebe zur Literatur eingeimpft hätte. Doch selbst heute noch – Jahrzehnte später – hallt der Klang der Verse – etwa in der Bürgschaft – in mir nach. Ein Effekt, der bei einmaligem Lesen wohl nicht aufgetreten wäre. Das Metrum des antiken Daktylus und vor allem die einfachen Reime üben natürlich eine ziemliche Suggestionskraft aus. Viele Reime wurden ja geradezu zu Sprichwörter (Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte usw.).

Der Autor, Regisseur, Moderator und Wienlive-Kolumnist Otto Brusatti wird sich mit seinem „Armen Theater“ nun am 30. März im Spektakel in der Hamburgerstraße gemeinsam mit Julia Prock-Schauer den Balladen von Friedrich Schiller annehmen. Es spielen dazu Timotej Kosovinc (virtuose Gitarre) und Andreas Berhmani. Brusatti: „diesmal: Balladen (ja, tatsächlich, solche von Friedrich Schiller, die Elefanten aus der deutschen Bildungs-Literatur – oder?“

Details

Anmelden (oder auch direkt kommen) unter:
theaterundmehr@gmx.at  /  otto.brusatti@chello.at  /  office@spektakel.wien

(Bürgschaft und Taucher, Kassandra und die Kraniche des Ibykus, eventuell sogar noch ein Handschuh und eine Freuden-Ode, auf jeden Fall aber – zur Gänze ! – Das Lied von der Glocke; gelesen, gespielt, dargestellt, möglicherweise alles auch etwas anders)

Mittwoch, 30. März 2022, 19.00
freier Eintritt, ein bisschen Spenden (nicht zu viel)

Theater Spektakel, Hamburgerstraße 14, 1050 Wien (entsprechend den aktuellen Corona-Vermeidungs-Vorschriften)

Theaterkritik – Shakespeare am Burgtheater

Der Sturm ist nur ein weiches Lüfterl


Shakespeares „Der Sturm“ am Wiener Burgtheater. Eine Theaterkritik.
Foto: Burgtheater/Horn


Die Drehbühne dreht sich, die Darsteller schleichen auf der dunklen Bühne herum und singen sich ein, das Orchester spielt ein Medly aus Jazz-Standards, Schlager und Rolling-Stones-Hits, während es im Zuschauerraum anfangs noch hell bleibt. Es vergeht eine Viertelstunde, bevor das erste Wort gesprochen wird. Der isländische Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson macht im Wiener Burgtheater aus Shakespeares „Der Sturm“ einen Liederabend mit eingestreuten Szenen aus dem berühmten Theaterhit. So wirklich Interesse zeigt Arnarsson an dem vielgespielten Stück aber nicht.

Das Bühnenbild von Elín Hansdóttir bietet viel Platz zum Verstecken. Während eines Dialogs rieselt von oben leichtes Material auf die Sprechenden herab und versenkt sie schließlich. Das ergibt ein schönes Bild, aber eben wofür? Dabei ist das achtköpfige Ensemble durchaus erstklassig. Maria Happel verkörpert zwar souverän den Prospero, so wirklich reinziehen kann sie uns aber auch nicht in die Geschichte. Michael Maertens und Roland Koch sind als Blödelpaar Trinculo und Stephano natürlich lustig und Mavie Hörbiger scheint als fragiler Luftgeist das Geschick in Händen zu halten. Florian Teichtmeister spielt den bösen Caliban.

Fast zweieinhalb Stunden nettes Musikhören in sehr unterschiedlicher Gesangsqualität und dazu ein halbgares Theater. Schade um die vielen vergebenen Chancen, die gerade dieses Drama bieten würde.


Informationen & Details auf: burgtheater.at

Vorlesetag 2022

 „Vorlesen für den Frieden“ – am 24. März ist der Österreichische Vorlesetag


Ganz im Zeichen des Friedens findet am 24. März der Österreichische Vorlesetag statt. Er ist auch der erste mit internationalem Zugang: Ein Teil davon ist die Kick-off-Veranstaltung, der European BookDay.
Foto: Stefan Joham


Beim European BookDay werden Autor:innen aus mehreren Ländern im Wiener Rathaus ihre Geschichten vorlesen. Zusätzlich ruft der Verein „Auslandsösterreicher Weltbund“ tausende Österreicher:innen, die im Ausland leben, zum Mitmachen auf. Der Österreichische Vorlesetag umfasst bundesweit zahlreiche öffentliche Veranstaltungen und Online-Vorlesungen mit Prominenten, die viertelstündlich auf der Website www.vorlesetag.eu freigeschaltet werden.

Das Motto des Österreichischen Vorlesetages am 24. März wird heuer entsprechend der derzeitigen Weltlage erweitert: „Vorlesen für den Frieden“ soll überall stattfinden. An einer Straßenecke, im Park, im Wirtshaus, zu Hause. Egal wie wir vorlesen, ob privat, öffentlich, digital oder hybrid. Wir bündeln unsere geistigen Kräfte für ein stabiles Weltgefüge.

„Lesen bildet. Vorlesen verbindet. Gemeinsam sind wir stärker.“ – Dafür braucht es Menschen, die Vorbild sein wollen, sich ein Herz und die Zeit nehmen, und für ihre Mitmenschen aus einem Buch vorlesen. Zeit, Bücher hör- und verstehbar zu machen, um daraus neue Geschichten entstehen zu lassen. Geschichten für den Frieden.

Auf der Website www.vorlesetag.eu gibt es heuer einen eigenen Button, unter dem man „Friedensgeschichten“ downloaden kann. Es sind Geschichten und Gedichte, die sowohl Kinder, junge Erwachsene als auch Erwachsene ansprechen können.

PROGRAMM:

Der Österreichische Vorlesetag beginnt um 9:00 Uhr mit dem EUROPEAN BOOK DAY im Wiener Rathaus. Vier internationale Autor:innen werden ihre persönlichen Geschichten vorlesen:

aus Schweden: JONA ELINGS KNUTSSON

aus Rumänien: ION ANDREI PUICAN

aus Deutschland: ANDREA PENKUES

aus Österreich: CHRISTOPH MAUZ

Prominente Vorleser in Österreich:

ORF-Generaldirektor Roland Weißmann, Jugendstaatssekretärin Claudia Plakolm, WKO-Präsident Harald Mahrer, Burgschauspieler Peter Simonischek, Sängerin Elisabeth Engstler, Kabarettist Thomas Maurer, Vorturner„der Nation“ Philipp Jelinek, Moderatorin Vera Russwurm, Moderator Dominik Heinzl, Talkerin Barbara Karlich, Dompfarrer Toni Faber, Schauspielerin Lilian Klebow, Style-Expertin Martina Reuter, Sängerin Missy May, Schauspieler Christian Dolezal, Autor Bernhard Aichner, Moderatorin Eser Akbaba

Alle Infos gibt es auf: www.vorlesetag.eu

Theaterkritik – „Karoline und Kasimir“ im Volkstheater

Horváths letzte Stunden in Paris


Helmut Schneiders Theaterbesuch: „Karoline und Kasimir – Noli me tangere“ im Volkstheater.
Foto: Marcel Urlaub


Das US-Duo Nature Theater of Oklahoma (Kelly Copper und Pavol Liška) hat sich mit seinen anarchistischen Theaterinterpretationen einen gewissen Ruf erspielt. Dass man die Zuschauer mit einem bekannten Horváth-Stück ins Theater locken wollte, bekennen die beiden Performance-Künstler gleich zu Beginn im lockeren, auf Englisch geführten Dialog. Was soll Theater heute überhaupt noch, wird gestenreich gefragt und dabei gleich eingeräumt: „It could be a big failure – and probably will be. But big!“ Bei soviel Charme verzeiht man den Herren gerne, zumal sie ein sehr einfaches, leicht verständliches Englisch sprechen. Immerhin: Eine Szene aus Horváths Stück bekommen wir ja doch noch zu sehen, wenngleich die Darsteller (hervorragend: Frank Genser, Lavinia Nowak, Julia Franz Richter, Samouil Stoyanov und Jürgen M. Weisert) stumm bleiben und das Drama samt Regieanweisungen nur vorgelesen wird. Das ist zunächst witzig und erfrischend.

Der Hauptteil des mit Pause dreistündigen Abends gilt dann freilich dem Dichter Ödön von Horváth selbst. In verschiedenen Szenen und mit verschiedenen theatralischen Mitteln werden die letzten Stunden des Autors vor seinem Tod in Paris nachgespielt. Horváth wird von Todesahnungen gequält, eine Wahrsagerin hat ihm in Paris etwas Gewaltiges prophezeit, er hofft auf einen Geistesblitz für seinen geplanten Roman „Adieu, Europa“, geht spazieren und muss dringend aufs Klo. Um sich zu erleichtern, sucht er schließlich ein Kino auf, wo gerade Walt Disneys „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ gespielt wird. Das gibt dem Ensemble die Gelegenheit, das Märchen voll ironisierend auf blinkenden Rollschuhen fahrend sehr frei zu realisieren.

Später sind wir in einem Straßencafé, wo der Autor den Regisseur Robert Siodmak trifft, um mit ihm über die Verfilmung seines Romans „Jugend ohne Gott“ zu sprechen. In Wirklichkeit quatsch aber fast ununterbrochen seine Assistentin, eine geborene Österreicherin, die eine Rede auf die Verkommenheit der Wiener und deren Besessenheit von ihrer Verdauung hält.

Bis Horváth dann am 1. Juni 1938 bei einem Gewitter auf den Champs-élysées von einem Ast erschlagen wird, ergeben sich noch zahlreiche Möglichkeiten für Tanzeinlagen und Gags. Dem Publikum scheint dieser literatur- und theaterkritische Abend – trotz einiger Leerläufe und Längen – durchaus gefallen zu haben, denn der Premierenapplaus war stürmisch.


KAROLINE UND KASIMIR – NOLI ME TANGERE, Uraufführung nach Ödön von Horváth
Ein Stück von Nature Theater of Oklahoma
Deutsch von Ulrich Blumenbach

Theaterkritik – Burgtheater, Jean-Paul Sartres Geschlossene Gesellschaft

Wo sind die Folterinstrumente?


Eine Theaterbesprechung zu Jean-Paul Sartres „Geschlossene Gesellschaft“ am Burgtheater.
Text: Helmut Schneider / Foto: Burgtheater/Horn


„Wo sind die Folterinstrumente?“ fragt Garcin den befrackten Einweiser, als er in den von einer Mauer umschlossenen Raum kommt, in dem sich nur ein langer Tisch, ein leeres Buffet und eine mannshohe weiße Gurke in der Anmutung einer Erwin-Wurm-Skulptur befindet. Der Kellner, der nie etwas bringen wird und sich mittels der meistens kaputten Klingel auch nicht rufen lässt, kann da nur grinsen ob der Naivität des Neuankömmlings. Sartres Hölle, in die nach und nach der Journalist Garcin, die Lesbe Inès und die reiche Gattin Estelle kommen, ist bekanntlich kein mittelalterliches Schauerbild. Die reinsten und schmerzhaftesten Qualen schaffen sich die Menschen immer noch am besten selbst oder im Austausch mit Leidensgenossen. „Die Hölle, das sind die anderen“ ist jener Satz aus Sartres „Geschlossene Gesellschaft“ den auch jene kennen, die das Stück nie gesehen haben.

Im Burgtheater lässt Hausherr Martin Kušej Sartres im Weltkrieg entstandenes Drama fast wie eine Komödie spielen – besonders Christoph Luser als Höllenknecht kann mit seiner trockenen distanzierten Spielweise souverän Lacher abstauben. Tobias Moretti als frauenverachtender Verräter der Widerstandsbewegung, Dörte Lyssewski als manipulative Geliebte und Regina Fritsch als Kindsmörderin müssen natürlich immer wieder ihre Sünden aufarbeiten. Aber auch sie entblößen sich bis zur Lächerlichkeit. Zumal sie längst nicht von ihrer Schuld überzeugt sind – Sartre kannte die Mechanismen der Selbsttäuschung zur Verhinderung jeglicher kognitiver Dissonanz nur zu gut. Kušej kann sein Publikum damit aber gut unterhalten, zumal er genügend Spannungsverstärker eingebaut und den Text gekürzt hat. Die Darsteller müssen etwa auf Kies gehen, was schön knirscht und immer wieder lässt sich ein bedrohliches Brummen vernehmen, das von Maschinen zu kommen scheint. Oft wird die Bühne um den Zuschauerraum erweitert, zumal während der gesamten Vorstellung das Saallicht aufgedreht bleibt. Der spannendste Moment ist jener als Garcin bemerkt, dass die Türe offen ist, er also gehen könnte. Natürlich bleibt er da, längst haben sich alle ihrem Schicksaal ergeben – die Hoffnung ist nicht einmal mehr eine Erinnerung.


John Irving

John Irving wird 80


John Irving wird 80 – wir bringen ein Interview, das in Vorbereitung auf seinem Wien-Besuch 2005 bei „EineStadt.EinBuch.“ entstand.
Text: Helmut Schneider / Foto: Basso Cannarsa


John Irving, geboren 1942 in Exeter, New Hampshire, ist einer der erfolgreichsten Autoren weltweit. Viele seiner Romane wurden zu Weltbestseller, vier davon wurden verfilmt. 2000 erhielt er einen Oscar für die beste Drehbuchadaption für die Verfilmung seines Romans Gottes Werk und Teufels Beitrag.

Seit Jahren lebt Irving mit seiner kanadischen Frau in Toronto, wo ich ihn anlässlich der Wiener Gratisbuchaktion „EineStadt.EinBuch.“ auch besuchen durfte. 2005 wurde nämlich sein Erstlingsroman „Laßt die Bären los!“ in 100.000 Exemplaren in Wien verteilt. Irving lebte nämlich nach dem Weltkrieg eine Zeitlang in Wien und „Laßt die Bären los!“ ist eine Wiener Geschichte. Wie es zu diesem Buch kam, erzählte er mir im Interview – siehe unten. Wir gratulieren John Irving zu seinen 80. Geburtstag am 2.3.2022. 2023 soll wieder ein umfangreicher Roman von John Irving erscheinen.

Interview mit John Irving, geführt am 21. Dezember 2005 in Irvings Wohnung in Toronto

Das erste Buch eines Schriftstellers ist ja immer etwas Besonderes. Was sind Ihre Gefühle, wenn Sie an „Laßt die Bären los!“ zurückdenken?

IRVING: Es war ein Glücksfall für mich. Denn ich wählte zufällig eine Geschichte, die ich kannte, und somit hatte ich für meinen Roman sozusagen ein Fundament in der Faktenwelt. Eine der Geschichten, die ich in Wien erfuhr, war nämlich, dass während des Krieges die Tiere im Zoo sicher waren. Niemand bedrohte sie. Aber als die Wiener wussten, dass die Stadt fallen und von den Russen eingenommen werden würde, waren die Tiere des Zoos plötzlich verschwunden. Die Wiener waren sicher schon vorher hungrig und verzweifelt – aber sie beschützten den Zoo. Als sie hörten, dass die Sowjets kämen, wollten sie ihnen anscheinend die Tiere nicht überlassen. Es gibt allerdings keine schriftlichen Aufzeichnungen von dieser Geschichte, sondern das war etwas, was sich die Menschen in Wien erzählt haben. Ich habe mit Überlebenden darüber gesprochen; auch mit Menschen, die im Zoo arbeiteten, als die Stadt bombardiert wurde, und die die Tiere damals in Sicherheit gebracht haben.

Diese Zoo-Geschichte hat mich bewegt. Daneben zog ich Parallelen zu meiner Generation in den USA. Meine Generation wuchs auf, als Krieg in Vietnam war; aber sie wuchs auch auf mit den Erinnerungen an die Vätergeneration, die in einem anderen Krieg – dem Zweiten Weltkrieg – gewesen war. Die Vätergeneration konnte ja stolz sein auf ihren Einsatz im Weltkrieg. In meiner Generation war aber niemand mehr stolz darauf, im Vietnamkrieg zu kämpfen. Ich sah die österreichischen Studenten, die eine ähnliche, aber auch unterschiedliche Erfahrung wie ich hatten. Sie waren stolz auf einige Geschichten, die sie über ihren Krieg gehört hatten, aber ganz sicher nicht auf alle. Sie hatten das Gefühl, dass sich ein wichtiger Moment in der Geschichte bereits ereignet hatte, bevor sie auf die Welt gekommen waren. Aber für sie war das bereits Vergangenheit und sie fühlten sich nicht mehr dafür verantwortlich.

Was mich damals bewegte, war nun Folgendes: Ich fand zwar, dass es gute Beweggründe für einen Protest gegen den Vietnamkrieg gab, aber persönlich habe ich nie daran geglaubt, dass das irgendetwas bewirken könnte. Wir – die Amerikaner – sind letztendlich aus Vietnam abgezogen, weil wir verloren hatten und nicht weil wir auf irgendeine Meinung gehört hätten. Ich wollte dazu eine Geste finden, die ähnlich gut gemeint war, aber völlig dumm ist. Diese Jugendlichen in „Laßt die Bären los!“ haben ein gutes Herz, aber sie irren sich ja vollkommen – die Befreiung des Zoos endet in einem Desaster.

Ich hatte das Gefühl, die Frustrationen meiner Generation beschreiben zu müssen, obwohl ich persönlich mit Glück dem Vietnamkrieg entkommen bin. Ich war 1961 zu einer Offiziersausbildung vorgemerkt, weil ich damals Ringer war, und ich dachte, falls ich einen Einbruch hätte und nicht mehr ringen könnte, würde das Militär für mich die restliche Universitätsausbildung bezahlen. Das war für mich eine Absicherung. Ich wäre 1965 als Leutnant sicher nach Vietnam gekommen. Die Armee dachte damals, es wäre gut, wenn ich mein Deutsch verbessern würde und in ein deutschsprachiges Land käme. Aber als ich von Wien zurückgekommen war, habe ich gesehen, dass niemand mit meiner Ausbildung zum Dienst nach Berlin kommen würde. Ich bin da einer Katastrophe entkommen.

Darüber zu schreiben, war für mich nicht sinnvoll – weil das damals ja jeder tat. Jeder wurde auf die eine oder andere Weise vom Vietnamkrieg vereinnahmt. Ich dachte daher, dass ich einige Aspekte der Verunsicherung meiner Generation besser darstellen könnte, wenn meine Helden Österreicher und nicht Amerikaner wären. Und wenn sie gegen eine andere Historie rebellieren würden. Meine persönliche Biografie war hingegen wieder vom Zufall bestimmt. Ich heiratete, bevor ich Europa verließ, und mein erster Sohn wurde geboren, als ich noch an der Uni war. Das machte mich unantastbar für das Militär, denn sie nahmen keine Väter.

Sie hatten also einfach Glück.

Ja, das hatte ich. Denn dadurch sind mir die ganzen Überlegungen, was ich tun soll, erspart geblieben. Damals haben die jungen Menschen ja viele Dinge angestellt, um nicht nach Vietnam zu kommen – von Finger abschneiden bis sich ins Bein schießen. Aber ich hatte sozusagen eine Freikarte und schrieb stattdessen meinen ersten Roman „Laßt die Bären los!“

„Laßt die Bären los!“ ist also doch auch ein amerikanischer Roman.

Der Vietnamkrieg und die Generation, die mit diesem Krieg leben musste, waren der Hintergrund für das Buch. Denn man kann die Geschichte manchmal nicht richtig beurteilen, wenn sie gerade passiert. Aber es war leicht für mich, eine geschichtliche Periode zu beschreiben, die bereits vorbei war – konkret eben all die Verrücktheiten in Jugoslawien während des Zweiten Weltkrieges. Und es war leichter, diese Geister zum Leben zu erwecken und die zwei jungen, naiven österreichischen Studenten zu erschrecken. Und ich konnte es so aus dem amerikanischen Kontext nehmen, gleichzeitig aber das Thema behandeln.

Als das Buch zum ersten Mal erschien, bekam es gute Kritiken, wurde aber von den Lesern nicht viel beachtet. Aber ich verkaufte die Taschenbuchrechte und jemand wollte sogar einen Film daraus machen. Ich ging sogar zurück nach Wien, um am Drehbuch zu arbeiten. Es passierten interessante Dinge, aber nicht ein Kritiker von „Laßt die Bären los!“ sah Parallelen zum Vietnamkonflikt. Erst als das Buch in einige europäische Sprachen übersetzt wurde – speziell ins Französische und ins Deutsche –, erkannten die jeweiligen Kritiker, dass die Fatalität und Verzweiflung viel mit Vietnam zu tun hat. Die Franzosen und Deutschen sahen das als eine Art Parodie auf Vietnam. Allerdings wurde „Laßt die Bären los!“ eben erst zehn Jahre später, nämlich nach meinem Erfolg mit „Garp“, übersetzt.

Sie müssen für „Laßt die Bären los!“ viel  österreichische und jugoslawische Geschichte studiert haben.

Mein Vater war Geschichtslehrer und so wusste ich von ihm, wie man sich Geschichte aneignet. Und ich wusste auch, dass die interessantesten Aspekte der Geschichte nicht die großen sind, sondern die eng umrissenen. Spannend ist sozusagen eine Art Tunnelblick auf die Geschichte. Man muss ganz tief in ein sehr begrenztes Feld gehen, um den Schlüssel für eine Zeit oder Epoche zu finden. Beispielsweise den Prozess studieren, in dessen Verlauf Mihailovic´ von einem Helden zu einem Schurken wurde und dann wieder zu einem Helden. Das ist ja noch immer nicht abgeschlossen im früheren Jugoslawien. Offensichtlich haben aber die Deutschen im Zweiten Weltkrieg mit ihrem Überfall auf Jugoslawien ahnungslos einen bereits bestehenden Krieg unterbrochen.

Weiters war für mich jene Zeit interessant, als Wien geteilt war. Einer meiner Lieblingsfilme als Jugendlicher war „Der dritte Mann“, mit den Szenen auf dem Schwarzmarkt und dem Leben im Untergrund. Das hat mich fasziniert.

Ich hatte jedenfalls schon mit dem Schreiben angefangen, als ich nach Wien gekommen bin, und der Lehrer, den ich hatte – auch ein Schriftsteller – riet mir, dass ich ins Ausland gehen solle. Denn all die Dinge, die einem in all den Jahren als normal vorkommen – so simple Sachen wie eine Milchflasche oder eine Zahnpastatube –, sieht man dann ganz anders. Wenn man ins Ausland geht, heißt das automatisch, dass einem die Augen geöffnet werden für  einfachste Dinge – wie etwa dass der Kaffee in einem anderen Häferl serviert wird. Völlig unbedeutende, alberne Sachen. Aber die Erfahrung, wenn man in einem fremden Land lebt, ist die, dass man dort zunächst jedes Detail bewusst wahrnimmt. Und das gehört ja zum Handwerkszeug eines Schriftstellers, etwas, das ich durch meine erste Reise erfahren habe.

Ich habe hier in Wien zum ersten Mal begriffen, dass ich mein Leben lang immer wieder aus meiner Heimat herauskommen muss. Ich würde immer reisen müssen. Eine Zeit lang ging ich mindestens zwei bis drei Mal im Jahr nach Europa. Ich lebe sehr gerne einen Teil des Jahres in Kanada, nicht nur weil es das Heimatland meiner Frau ist, sondern weil es immer wichtiger wird, sein eigenes Land von außen zu sehen. Wenn man immer nur als Inländer sein Land betrachtet, sieht man gar nichts. Ich behaupte: Wenn mehr Amerikaner ihr Land mit den Augen anderer sehen würden, könnte Bush niemals ihr Präsident sein.

Ich lernte in Wien viel über eine bestimmte Phase der österreichischen und jugoslawischen Geschichte. Das sieht man ja auch im Roman. Aber im Rückblick war die Zeit in Wien nicht deshalb so wichtig für mich, weil ich so viel über Wien erfahren habe, sondern weil es meine erste Erfahrung damit war, meine Heimat aus der Distanz zu sehen. Ich verbringe heute noch viel mehr Zeit mit meinen europäischen Verlegern als mit meinen Verlegern in New York. Dort ist das, offen gesagt, einfach eine Geschäftssache, es gibt da keine persönliche Beziehung. Ich mache in den USA auch viel weniger in den Medien als in Europa. Und ich habe auch mehr mit meinen kanadischen Verlegern als mit meinen amerikanischen zu tun. Und natürlich ist es auch viel interessanter für mich und meine Familie, nach Berlin, Hamburg oder Wien zu fahren als nach Kansas City.

Und nicht zuletzt lernte ich in Wien viel über Musik. Ich habe damals schon gerne Opern gehört – obwohl ich nie eine im Theater gesehen habe. Aber viele meiner Romane haben auch etwas Opernhaftes. Man könnte sagen, dass meine Geschichten viel mehr Gemeinsamkeiten mit Opern haben als mit Romanen anderer Autoren.

Auch meine ersten Erfahrungen im Drehbuchschreiben habe ich in Wien gemacht. Ich hatte keine Ahnung, wie man ein Drehbuch schreibt, als mich Direktor Irvin Kershner einlud, mit ihm das Drehbuch zu „Laßt die Bären los!“ zu schreiben. Ich hatte absolut keine Idee, wie man diesen Roman verfilmen könnte. Aber gefreut hat mich vor allem, dass ich dafür nach Wien geschickt wurde.

Sie waren ja im Schloss Eichbüchl untergebracht – einem für die österreichische Geschichte wichtigen Ort –, also gar nicht in Wien.

Ja, aber ich kam fast jeden Tag nach Wien und war viel im Theater. Aber auch das Schloss habe ich sehr geliebt. Da wohnte mein ehemaliger Professor, den ich von meiner Studienzeit her kannte.

„Laßt die Bären los!“ ist gekennzeichnet durch die für Sie sehr spezielle Mischung aus Komödie und Tragödie. Wir lernen da zwei junge Menschen kennen und lieben und dann stirbt einer ganz unvermutet. So etwas erwartet man nicht – es sei denn, man ist ein gelernter Irving-Leser.

Ja, das wurde sehr charakteristisch für mich. Die Figuren in meinen Romanen tun oft etwas, weil Menschen verloren gehen. Hannes Graff hat nicht einmal die Hälfte von Siggis Vorstellungsvermögen und er hat auch nicht annähernd so viel historischen Hintergrund. Graff ist ein Gefolgsmann. Es war meine erste Erfahrung als Autor mit dem Thema Verlust eines geliebten Menschen. Ich habe das später noch ausführlicher dargestellt.

In der Figur von Graff spiegelt sich aber auch so etwas wie die naive erste Annäherung eines Amerikaners an die europäische Kultur wider. Da sind auch meine Erfahrungen als Amerikaner in Wien drinnen. Ich stieß hier in Wien auf eine Kultur, die bis zum Römischen Reich zu-rückreicht, während unsere eigene ja gerade einmal ein paar hundert Jahre ausmacht. Dabei kam ich ja vom einzigen Teil Amerikas, wo es wirklich so etwas wie eine Historie gibt. Wir waren ja zumindest eine englische Kolonie. Dabei stellt sich Neuengland höchst unterschiedlich zum Rest von Amerika dar. Es war etwa definitiv keine gute Wahl, John Kerry gegen Bush ins Rennen zu schicken. Weil Kerry den ältesten, am besten gebildeten und geschichtsbewusstesten Teil der USA repräsentiert. Die meisten Amerikaner fühlen sich da nicht angesprochen.

Komödie und Tragödie waren in meinem Denken immer beisammen. Das hängt auch mit meinen Leseerfahrungen als Heranwachsender zusammen. Meine erste Liebe als Leser war Charles Dickens. Dickens ist auch in einer Minute tragisch und in der nächsten voll Komik. Und in meiner Zeit in Wien habe ich die „Blechtrommel“ von Günter Grass gelesen. Keine Frage, dass Grass auf mein erstes Buch Einfluss hatte. Und auch bei Grass gibt es diese Kombination von Tragödie und Komödie – da stirbt auch jemand von einer Minute auf die andere. Grass ist eben auch sehr „dickenshaft“. Auch in dem Punkt, dass er eine soziale Intention hat. Grass ist ein Moralist – genauso wie ich. 

Wie entwickeln Sie Ihre manchmal ja sehr ungewöhnlichen Ideen?

Was ich brauche, ist Folgendes: Ich muss jene Obsessionen meiner Charaktere kennen, die sie nicht kontrollieren können. Denn es muss etwas geben, das sie außerhalb der Norm agieren lässt, sie sogar zu Helden machen kann. Wenn ich eine Romanfigur gefunden habe, die von etwas besessen ist, weiß ich, dass ich damit arbeiten kann.

Nach meiner Erfahrung haben Sie in Wien besonders viele weibliche Fans. Überrascht Sie das?

Das ist sicher richtig, aber keine österreichische Besonderheit. Ich denke, dass einfach viel mehr Frauen Romane lesen als Männer. Wenn Männer überhaupt lesen, lesen sie eher Sachbücher. Das ist in den USA so wie auch überall sonst. Jedes Mal wenn ich in ein Flugzeug steige, sehe ich, dass wenn Männer überhaupt Romane lesen dann jene von John Grisham oder Tom Clancy. Aber meistens lesen Rechtsanwälte Bücher über Gesetze usw. Wenn mich jemand anspricht – im Flugzeug oder wie gestern beim Weihnachtseinkauf –, dann ist das in neun von zehn Fällen eine Frau. Oder – was auch vorkommt – ein Mann erzählt mir, dass ich der Lieblingsschriftsteller seiner Frau, seiner Tochter oder seiner Mutter bin.

Lesen Sie selbst aktuelle amerikanische Literatur?

Ich war ein sehr eifriger Leser als Kind und Heranwachsender. Jetzt lese ich nur dann viel, wenn ich gerade zwischen zwei meiner Romane bin. Wenn ich also gerade einen neuen Roman abgeschlossen habe und mir nur Notizen für den nächsten mache. Da schreibe ich dann zwei Stunden am Tag anstatt zehn. In dieser Phase kann ich dann auch viel lesen. Im Prozess des Schreibens arbeite ich sehr lange Zeit jeden Tag am neuen Roman und lese gar nichts. So gibt es eben nur alle drei, vier, fünf Jahre diese Periode – die ungefähr ein halbes bis ein ganzes Jahr dauert –, in der ich lesen kann. Leider habe ich aber auch mit dem Drehbuchschreiben begonnen, sodass meine Schreib-pausen immer kürzer werden. So bin ich nicht mehr der eifrige Leser, der ich einmal war. Aber es gibt natürlich Autoren, die ich lese und schätze. Nicht allzu viele amerikanische – Hemingway verabscheue ich geradezu und ich war auch nie an Faulkner oder Fitzgerald interessiert wie viele meiner intellektuellen Freunde. Am bedeutendsten sind für mich, wie gesagt, Dickens und auch Thomas Hardy.

Von den lebenden Autoren schätze ich Günter Grass, Gabriel García Márquez und Salman Rushdie. Und kanadische Autoren finde ich besonders interessant. Ich habe mehr Freude an kanadischer Literatur, weil Toronto die Stadt ist, in der ich einen Teil des Jahres lebe. Dann habe ich natürlich auch Freunde, deren Bücher ich immer lese, wie den bereits erwähnten Salman Rushdie oder Julian Barnes, mit dem ich eng befreundet bin. Ebenso verbunden bin ich mit Michael Ondaatje und Peggy Atwood. Seit dem Tod von Robertson Davies schlage ich jetzt immer Alice Munro vor, wenn mich das Nobelpreiskomitee fragt. Bei Davies bin ich ja nicht erfolgreich gewesen. Ich hoffe, dass Alice den Preis bekommt, bevor sie stirbt.

Für Freizeitbeschäftigungen haben Sie demnach – außer fürs Ringen – nicht mehr viel Zeit.

Ringen mache ich seit meiner Verletzung nicht mehr – das habe ich meiner Frau versprochen. Zumal die Verletzung einen Finger betroffen hat, mit dem ich schreibe. Das konnte ich dann sechs Monate lang nicht. Aber ein bisschen Boxen und Kickboxen mache ich wieder. Und ich bin jeden Tag im Fitnessraum. Daneben laufe ich, fahre ich Rad, aber auch Ski und spiele ich Tennis.

(Das Interview führte Helmut Schneider – Alice Munro hat 2013 dann tatsächlich den Nobelpreis für Literatur bekommen.)