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Aufwachsen in Wien und München – Ljuba Arnautovićs bewegender Roman „Erste Töchter“

Aufwachsen in Wien und München – Ljuba Arnautovićs bewegender Roman „Erste Töchter“

Der Vater gehörte zu jenen Unglücklichen, die nach der Zerschlagung der Demokratie durch die Austrofaschisten unter Dollfuß aus Wien nach Moskau geflohen waren, um dort in die Fänge des Diktators Stalin zu geraten. Karl wandert in den Gulag und kommt erst 1953 nach Wien zurück. Mit einer russischen Frau und de facto heimatlos, denn auch Deutsch spricht er nur noch schlecht. Dafür findet er immer wieder junge Frauen, die ihn heiraten. Die beiden Töchter parkt er zwischendurch in Waisenheimen – das scheint nicht nur heute ziemlich grausam. Und diesen beiden Töchtern – Lara und Lund – widmet Ljuba Arnautović, 1954 in Kursk geboren und seit 1987 in Wien lebend, im dritten Teil ihrer autobiografisch geprägten Trilogie ihr Hauptaugenmerk. Die Jüngere wächst in Wien auf, die Ältere gutbürgerlich in München. Die Jüngere wäre fast am Praterstrich verkommen, die Ältere wird von der Alternativszene geprägt. Sie bleiben aber mittels Briefe miteinander verbunden und finden als Erwachsene wieder zueinander. Arnautović erzählt eher nüchtern, wenngleich nicht chronologisch – die Ereignisse sprechen aber auch für sich. Nur ein schmaler Roman, aber trotzdem können wir die schwierigen Verhältnisse, in denen die Figuren – etwa auch Karls erste russische Frau in Wien – gut nachempfinden. Ein berührendes Buch. 


Ljuba Arnautović: Erste Töchter
Zsolnay
160 Seiten
€ 24,50

D-Day für Doderer: Am 21. September diskutieren Otto Brusatti und Helmut Schneider über Musik im Werk des Großschriftstellers. Chris Pichler liest ausgewählte Stellen.

D-Day für Doderer am 21. September – Heimito von Doderers „Divertimenti“

Heimito von Doderer entstammte einer wohlhabenden Familie, sein Großvater und Vater waren Architekten und Techniker, sie wurden etwa mit dem Bau von Eisenbahnen und Wasserregulierungen reich, ein Gutteil ihres Vermögens ging allerdings im 1. Weltkrieg verloren. Sohn Heimito geriet als Leutnant im Weltkrieg bald in russische Gefangenschaft und konnte erst nach 4 Jahren über St. Petersburg in den Wirren der russischen Revolution nach Wien fliehen. In Sibirien hatte er den Entschluss gefasst, Schriftsteller zu werden und so nahm Doderer in Wien nicht nur ein Studium (Geschichte) auf, sondern versuchte auch – meist vergebens – in Zeitschriften zu veröffentlichen. Finanziell war er nach wie vor von seinen Eltern abhängig. Und das blieb er auch bis zum Erscheinen der „Strudlhofstiege“ 1951.

Doderer wollte anders schreiben als die anderen und folgte – bezugnehmend auf musikalische Formen – einem strengen Konzept. Darüber wird heuer am 21. September der Musikwissenschaftler und Autor Otto Brusatti im Café Landtmann sprechen. Die Schauspielerin Chris Pichler wird entsprechende Szenen aus Doderers Werk vorlesen.

Zu den ersten Texten, die Doderer nach seiner Heimkehr schrieb, gehören seine „Divertimenti“. Entgegen Doderers Absicht scheinen sie ungeordnet. Freilich behauptete der Autor stets mehr an der Form und weniger am Inhalt, an der Thematik, interessiert zu sein. In den 7 Divertimenti – das letzte erschien allerdings sehr viel später nach dem Krieg unter dem Titel „Die Posaunen von Jericho“ – geht es etwa um ein blindes Mädchen, das zur Pianistin und dann sehend wird, um den Traum eines Unfallopfers vom Kampf  Überlebender nach einem Weltuntergang, um einen jungen Mann, dessen Probleme sich ohne sein Zutun lösen, um einen Professor, dessen Frau bei der Geburt der Tochter stirbt oder um eine Sitzkassierin in einem Café, die verrückt wird und sich verantwortlich für eine Hungerrevolte fühlt. Doderer hat zweimal jeweils einen Text öffentlich vorgetragen und dabei kein Manuskript gebraucht. Die Zuhörer sollen begeistert gewesen sein. Und er dachte sogar an die Ablöse des Buches durch die Schallplatte und das Radio. Am 21. September werden wir über Musik und Literatur bei Doderer viel zu diskutieren haben.

Samstag, 21. September – 4. D-Day für Doderer, 19 Uhr, Café Landtmann, Eintritt frei!

Colson Whiteheads Debütroman „Die Intuitionistin“ über eine Fahrstuhlinspektorin in neuer Übersetzung.

Rauf und runter, schwarz und weiß – Colson Whiteheads Debütroman

Colson Whiteheads Debütroman „Die Intuitionistin“ über eine Fahrstuhlinspektorin in neuer Übersetzung.

Als 1999 der Debütroman von Colson Whitehead erschien, ahnte natürlich noch niemand, dass aus dem New Yorker ein vielbeachteter Bestsellerautor werden würde. Sein Vater – verriet er mir bei einem Interview in Wien – schlug die Hände zusammen, weil sein bestens ausgebildeter  (Harvard) Sohn, Schriftsteller werden wollte. Colson Whitehead ist zwar schwarz, aber entstammt der oberen Mittelschicht – sein Vater verdiente gut an der Börse. Glücklicherweise blieb Whitehead bei seiner Berufswahl und seit „The Underground Railroad“ gehört der 1969 Geborene zu den US-Bestsellerautoren. Dass Hanser jetzt diesen Erstling, der ursprünglich auf Deutsch bei Hoffmann und Campe erschienen ist, jetzt neu übersetzen ließ, erweist sich als ein Glücksfall. Denn 2024 liest man diesen vielschichtigen Roman anders als vor der Jahrtausendwende.

„The Intuitionist“ weist noch Elemente des postmodernen Romans auf, in seinen Themen ist er allerdings brandaktuell. Wir sind in einer sehr großen Stadt in den USA, die nicht genannt wird und in einer Zeit, als es noch keine Handys gab. Auch fotografiert wird noch analog, wahrscheinlich sind wir gar erst in den 50er-Jahren. Es geht um den Kampf zwischen zwei Richtungen innerhalb der Fahrstuhlinspektoren, den Empirikern und den Intuitionalisten. Erstere prüfen brav Motor, Aufhängung und Sicherheitseinrichtungen, zweitere führen eine Art Zwiegespräch mit dem Fahrstuhl, lauschen auf die Geräusche beim Anfahren und Bremsen und haben damit eine um 10 Prozent bessere Quote beim Aufspüren von Mängeln. Trotzdem gelten sie als Spinner und sind geächtet. Wer denkt da heute nicht an die Gläubigen der reinen Wissenschaft und die Anhänger alternativer Medizin. Lila Mae gehört den Intiutionalisten an und sie ist nicht nur die allererste weibliche Inspektorin, sondern auch noch schwarz. In der rassistischen Matschowelt hat sie daher einen doppelt schweren Stand – da nützt es nichts, dass sie bei der Arbeit keine Fehler macht und auch sonst nur durch Leistung auffällt.

Da stürzt just ein Lift in einem Regierungsgebäude, den sie kurz vorher inspiziert hatte, in die Tiefe. Etwas, das es nicht geben dürfte. Noch dazu ist gerade Wahlkampf für den Vorsitz der Inspektorengilde und der Fauxpas einer Intuitionistin kommt den überheblichen Empirikern gerade Recht. Die Intuitionisten sind indes schon lange auf der Suche nach den letzten Notizen ihres verstorbenen, legendenumwogten Theoretikers, der vor seinem Tod einen Fahrstuhl ganz ohne Mechanik entwickelt haben soll. Lila Mae sucht nach diesen Aufzeichnungen, zumal sie in den Schriften erwähnt sein soll. Spätestens hier ist der Roman mit seinen vielen Wendungen – Hausdurchsuchungen, Gefangennahmen, sogar Folter – zum Krimi geworden. Und man merkt bei jeder Zeile, dass Whitehead viel Spaß daran hatte, seine Leser rätseln zu lassen. Am Ende gibt es noch eine gute Pointe.


Colson Whitehead: Die Intuitionistin
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
Hanser
272 Seiten
€ 26,80

BURGER, BÜCHER, BIER & BIRON im Hawidere

BURGER, BÜCHER, BIER & BIRON im Hawidere

Foto: ©Elisabeth Lechner

„Vogelkopf“ ist nach „Eisenschädel“ und „Frischfleisch“ der dritte Teil der Georg-Biron-Trilogie, die im Wieser Verlag erscheint. Der autobiografische Roman blickt zurück in die 1990er und an den Beginn der 2000er Jahre. Das Buch zaubert Filme ins Kopfkino, die spannend, romantisch und humorvoll sind.

„Die 1990er begannen für mich definitiv anders, als die 1980er zu Ende gegangen waren. Ich besaß ein mobiles Telefon mit der Vorwahl 0663. Es war so groß wie ein Ziegelstein und hatte eine Antenne. Ich steckte es in die Hosentasche; und es ragte zur Hälfte raus. Wenn ich am Bahnhof war, um Zeitschriften zu kaufen, nahmen die Bettler, die Huren und die Kiffer Reißaus, weil sie mich für einen Kriminalbeamten mit Funkgerät hielten. Man konnte damit nur telefonieren. Niemand rief an, weil niemand meine Nummer hatte.“

Georg Biron (* 18. Oktober 1958 in Wien) ist ein österreichischer Schriftsteller, Reporter, Drehbuchautor, Schauspieler, Regisseur und Kulturproduzent. Er wuchs in Wien-Penzing auf. Ab 1977 studierte er an der Universität Wien Jura, später Publizistik und Theaterwissenschaften. In Wien bewegte er sich in der alternativen Wiener Kulturszene und lernte Elfriede Jelinek, Hermann Schürrer, Joe Berger, Helmut Qualtinger (über den er ein Buch schrieb), Oskar Werner, Wolfgang Bauer, Heinz R. Unger, Franz Ringel, Peter Turrini, Hari Schütz u. v. a. kennen.

Am 9. September wird Georg Biron im Hawidere, Ullmannstraße 31, 1150 Wien, um 19 Uhr „Vogelkopf“ präsentieren. Der Eintritt ist frei!

Georg Biron wird auch bei der Kriminacht am 29. Oktober einen Auftritt haben und seine Begegnungen mit Jack Unterweger erzählen. UND: Im nächsten wienlive-Magazin finden Sie ein Interview mit dem Autor.

Die letzten Tage des Weltenkaisers – der ungewöhnliche Historienroman „Reise nach Laredo“ von Arno Geiger

Die letzten Tage des Weltenkaisers – der ungewöhnliche Historienroman „Reise nach Laredo“ von Arno Geiger

Obwohl keine 300 Seiten lang, ist Arno Geigers Roman über das Sterben Kaiser Karls V. im 16. Jahrhundert – das ist jener Habsburger, in dessen Reich niemals die Sonne unterging, wie es so schön heißt – ein Text, auf den man sich einlassen muss. Geiger wirft uns auf den ersten Seiten keine literarischen Häppchen hin, die uns den Sinn dieser Unternehmung gleich verraten würden. Der gichtkranke, fettleibige und hässliche – seine Kinnlade steht immer offen – alte Mann – damals war man mit 58 eben schon wirklich alt – lässt sich von seinen Bediensteten mittels einer eigens dafür konstruierten Apparatur in einen Waschzuber heben, weil er sich selbst nicht mehr waschen kann. Am liebsten dämmert er, betäubt von Laudanum vor sich hin. Er hat abgedankt, die Macht ist nicht mehr bei ihm in diesem spanischen Kloster Yuste, wo er sich mit seinem Beichtvater und einem kleinen Hofstaat zurückgezogen hat. Was will er noch vom Leben ist die Frage, die ihn bewegt, als ihn ein elfjähriger Knabe – ein illegitimer Sohn, der seine Herkunft aber nicht kennt – besucht und er wie zum Scherz mit ihm ausmacht, aus dem Kloster zu fliehen. Man könnte doch den Wallfahrtsort Laredo an der Küste aufsuchen – und das seltsame Abenteuer beginnt.

Geronimo und Karl treffen bald schon auf zwei Ausgestoßene – Cagots – die Geschwister Honzo und Angelita, die gerade furchtbar misshandelt werden, denn jede Gesellschaft hat ihre Minderheiten als Prügelknaben. Mit einer Pistole kann Karl die Angreifer vertreiben und so sind sie bald schon zu viert auf den Weg.

Und es wird zunehmend märchenhafter: Zwischen Yuste und Laredo liegt ein Gebirge und ganz oben die tote Stadt, wo die Reisegesellschaft in einem Wirtshaus einkehrt. Dort wird ein riesiger Greif gehalten – das Fabeltier haust ganz jämmerlich im Keller, während Karl nichts Besseres zu tun hat als zu saufen und sein Geld zu verspielen. Wer denkt da nicht an Goethes Auerbachs Keller? Schließlich müssen sie gar fliehen, wobei Honzo ums Leben kommt – er wollte seine Schwester überreden, im Tausch für den Greif beim widerlichen Wirt zu bleiben, stürzt freilich bei der Greifbefreiung vom Turm. Karl muss da an seine vielen Verwandten denken, die er gegen ihren Willen verheiratet hat. Das Ende wird nach den Abenteuern dann fast idyllisch. Karl schein beim Baden im Meer einen friedlichen Abschied vom Leben zu finden. Jeder Mensch ist ein zurückgetretener König, denkt Karl und wir denken an Geigers wunderbares Buch über seinen alzheimerkranken Vater „Der alte König in seinem Exil“.

„Reise nach Laredo“ ist nicht wirklich ein Historienroman, Geiger nimmt sich aus der Geschichte, was er braucht, um das Elend einst mächtiger Männer nach ihrem Ausscheiden aus den Ämtern zu beschreiben (Frauen tun sich da meist leichter). Das kann man täglich beobachten – nicht nur in der Politik und Wirtschaft. Was bleibt, wenn der Schein verblasst? Geiger spielt geschickt mit literarischen Vorbildern und findet eine Sprache, die dem Stoff angemessen ist. Ja, es zahlt sich aus, wenn man sich auf diesen Roman einlässt.


Arno Geiger: Reise nach Laredo
Hanser
272 Seiten
€ 27,50

D-Day für Doderer: Am 21. September diskutieren Otto Brusatti und Helmut Schneider über Musik im Werk des Großschriftstellers. Chris Pichler liest ausgewählte Stellen.

D-Day für Doderer: Am 21. September diskutieren Otto Brusatti und Helmut Schneider über Musik im Werk des Großschriftstellers

D-Day für Doderer: Am 21. September diskutieren Otto Brusatti und Helmut Schneider über Musik im Werk des Großschriftstellers. Chris Pichler liest ausgewählte Stellen.

Heimito von Doderer, 1966 verstorben, war gewiss einer der eigenständigsten Autoren, die Wien je hervorgebracht hat. Wienlive und das echo medienhaus erinnern seit 2021 alljährlich am 21. September – das ist der Tag, an dem sein bekanntestes Werk, „Die Strudlhofstiege“, spielt und mit einem brutalen Unfall mit einer Straßenbahn beginnt – an diesen Schriftsteller, der in der Nachkriegszeit als der Dichter Österreichs galt. Heuer, beim 4. D-Day für Doderer, geht es mit dem Autor, Regisseur, Ausstellungsmacher und Musikexperten Otto Brusatti um „Musik, Lärm und Stille“ im Werk von Heimito von Doderer. Die Schauspielerin Chris Pichler wird ausgewählte Stellen lesen, wienlive-Chefredakteur Helmut Schneider wird moderieren.

Musik. Doderer war ein großer Bewunderer Beethovens, auf seinem Schreibtisch stand stets eine Partitur der 7. Symphonie. Sein letztes, unvollendet gebliebenes Romanprojekt nannte er im Tagebuch nach seiner Lieblingssymphonie
„Roman No 7“ – davon wurde nur der Teil „Die Wasserfälle von Slunj“ veröffentlicht, „Der Grenzwald“ erschien posthum als Fragment. Nach dem Erscheinen des Monumentalwerks „Die Dämonen“ war Doderer der bekannteste Schriftsteller Österreichs, sogar der SPIEGEL widmete ihm ein Cover.
Brusatti: „Doderer war auch ein heimlicher Musikstrukturalist – wie viele andere und vor allem in der öster-reichischen Literatur, wie Ingeborg Bachmann oder Thomas Bernhard. Er baute musikalische Formen ein, in seine Texte. Man merkt es vorerst kaum, man soll es zumeist auch gar nicht merken.“ Dazu gibt es passende Musik aus der Konserve. Die Buchhandlung analog wird vor Ort einen Büchertisch aufstellen.

INFO: 21. 9. 24, 19 Uhr, Café Landtmann, freier Eintritt, keine Reservierung möglich

Bodo Hell. – ©Stefan Joham

Schriftsteller Bodo Hell verschollen

Foto: Stefan Joham

Der österreichische Schriftsteller Bodo Hell wurde das letzte Mal am 9. August frühmorgens im Gebiet des Dachsteins gesehen. Seither fehlt von ihm jede Spur, die großangelegte Suche nach ihm wurde wiederholt abgebrochen. Hell arbeitete seit Jahrzehnten dort immer im Sommer als Senner und Hirte, es ging ihm nicht um den bescheidenen Lohn – die Arbeit im Gebirge, der Aufenthalt in der Natur, war für den 1943 in Salzburg geborenen Autor ein Lebenselixier. Nie vergaß er bei unseren Treffen auch in Wien Kostproben vom Berg mitzubringen. Überhaupt kann man sich keinen lebensfroheren und offeneren Schriftsteller vorstellen – eine Begegnung mit ihm war immer eine Freude.

Wir hoffen natürlich noch immer auf eine glückliche Wendung.

Anlässlich seines 80. Geburtstags erschien im wienlive 2023 folgendes Porträt: 

Beim letzten Treffen zeigte mir Bodo Hell, wie er beim Melken in die Hocke gehen müsse – und das im Sommer täglich am Dachstein auf der 1.300 Hektar großen Alm mit weit mehr als 100 Kühen und einigen Ziegen. Auf die Frage, wie es ihm kurz vor seinem 80er gehe, antwortet er: „Die Frage ist nicht, wie es mir geht, sondern wie meine Beine gehen. Solange die gehen, gehe ich mit.“

Auch heuer will er daher wieder den Sommer auf der Grafenbergalm verbringen – sein 45. Einsatz im Dienste der Almwirtschaft. Hell: „Es ist mein Jungbrunnen, obwohl ich das Jahr zweimal erlebe, denn wenn ich im Juni raufkomme, ist dort noch Frühling.“

Dieses karge Leben – anfangs noch ohne Strom und auch heute noch nicht durchgehend mit Handyempfang – voller körperlicher Arbeit in der Natur und mit den Tieren, hat natürlich auch das Werk des in Salzburg geborenen und in Wien lebenden Autors beeinflusst. Hell studierte zunächst Orgel beim Salzburger Domorganisten Franz Sauer, sah dann aber, dass eine professionelle Musikkarriere mit seiner Leidenschaft für Literatur unvereinbar wäre. In Wien landete er an der Uni und in der damals noch erzkonservativen Filmakademie. Er machte auch einige Filme – etwa den kurzen Streifen „13A“. Der 13A war damals noch ein Doppeldeckerbus.

Hell: „Der 8-Minuten-Film, der auch in Saarbrücken gezeigt wurde, hatte schon den Zusammenhang mit Lesen und der Bedeutung von Wörtern, die ich im Stadtbild vorgefunden habe.“ Gerne bezeichnet er sich nämlich selbst als „Schriftenleser und Wortklauber“ – der Übergang von der fast schriftlosen Alm zum schriftüberfluteten Wien ist jedesmal eine Herausforderung. Aber Spuren und Zeichen findet Hell natürlich auch in der Natur. Carl von Linnés „Lappländische Reise“ von 1737, in der Übersetzung von H. C. Artmann, ist ihm da ein wichtiger Führer. Hell: „Heute findet man ja viel im Netz und in Buchhandlungen, aber früher war ich Tage in den Bibliotheken.“ Auch sein neuestes Buch „begabte Bäume“ ist alphabetisch geordnet – von Ahorn bis Zirbe.

Ausgehend von den Pflanzen entspannen sich da auch viele Geschichten – in der letzten wird etwa der traurige Fall eines Kindesmissbrauchs durch einen Mönch berichtet.

Neben hunderten Büchern – meistens erscheinen 2 pro Jahr! – verwirklichte Bodo Hell auch Opern- und Theaterprojekte. Markus Kupferblum realisierte etwa die Dschungeloper „Anfechtungen! San Ignacio“. Basierend auf einer originalen bolivianischen Barockoper schrieb Hell einen neuen Text um einen Tiroler Pater, der den Indios zeitgenössische Musik vermitteln wollte.

Obwohl Hell vielgereist ist, findet er auch auf seiner Alm immer wieder Plätze, wo er noch nie hingekommen ist. Meist auf der Suche nach einem ausgebüchsten Vieh. In der Hütte trifft man ihn daher nur selten an, denn er ist meistens unterwegs. Beobachten kann er dort oben auch die Auswirkungen der drohenden Klimakatastrophe. Der Gletscher ist etwa schon fast weg, die früher begehrten Loipen für’s Sommer-Höhentraining werden immer kürzer. Und die Stützen für den Lift werden mit Schnee bedeckt, damit sie nicht den Halt verlieren.

Ab und zu kreuzen verirrte Touristen seinen Weg, die in die falsche Richtung unterwegs sind. Dafür wird sein Grätzel in Wien in der Josefstadt immer mehr zum Dorf. Hell: „Es werden mehr Bäume gepflanzt – mit den Stadtbäumen müsste ich mich auch einmal beschäftigen.“ Sein Lieblingsbuchhändler Reinhold Posch war ursprünglich Botaniker und macht im Winter für Interessierte Knospenspaziergänge durch Wien, weiß der Autor schon eine Wissensquelle.


bodohell.at


Bodo Hell: begabte Bäume, mit Zeichnungen von Linda Wolfsgruber
Literaturverlag Droschl
216 Seiten
€ 25,-

Foto: Stefan Joham

Ein Autor sucht nach seiner Herkunft – Kurt Palm: Trockenes Feld

Ein Autor sucht nach seiner Herkunft – Kurt Palm: Trockenes Feld

Kurt Palm kennt man als umtriebigen Regisseur – er machte mit Phettberg etwa die „Nette Leit Show“, Sachbuchautor und erfolgreichen Krimiautor – „Bad Fucking“ wurde auch verfilmt und für seinen ungewöhnlichen Krimi „Der Hai im System“ erhielt er den Leo-Perutz-Preis. Schon lange in Wien Neubau lebend, stammt er aus dem oberösterreichischen Neukirchen an der Vöckla. Seine Eltern waren da aber als Vertriebene lange Zeit staatenlos, sie gehörten einer Minderheit im heutigen Kroatien an und lebten im heute verfallenen Ort Kapan, was damals Slawonien genannt wurde, der größere Ort daneben Suhopolje heißt übersetzt „Trockenes Feld“ – das ist der Titel von Palms Familienbuch. Als die Deutschen Ende des Weltkrieges vor den Partisanen zurückwichen, mussten Pals Verwandte „Heim ins Reich“, kamen aber nur bis Oberösterreich, wo sich Palms Vater als Hilfsarbeiter durchschlagen musste. Der Roman ist jetzt eine Art Spurensuche, denn die meisten Angehörigen und Zeitzeugen sind bereits gestorben. Und nach dem Krieg waren bekanntlich alle daran interessiert, die Jahre der Katastrophen zu vergessen – das Thema war für Nachkommen tabu.

„Trockenes Feld“ ist bestimmt keine Autobiografie, Kurt Palms Werdegang kommt zwar vor, steht aber nicht im Mittelpunkt. Vielmehr fragt sich der Autor, wie seine Eltern die schweren Schicksalsschläge meistern und dabei ihren Kindern eine beste Ausbildung ermöglichen konnten. Vieles aus der Kriegszeit muss dabei im Dunklen bleiben. Palms Vater wurde für die SS Polizei zwangsrekrutiert, hatte aber das Glück, nicht an der Ostfront kämpfen zu müssen. Eine relativ leichte Verwundung rettete ihm wahrscheinlich das Leben. In Kapan wäre er hingegen von den Partisanen ermordet worden. In Österreich tut die Familie alles, um möglichst schnell als Einheimische zu gelten. Bis zum Speiseplan orientiert man sich an den Nachbarn. Das Buch ist auch die Geschichte einer Assimilation von Staatenlosen in Österreich und erzählt viel über die politische Stimmung nach dem verlorenen Krieg.

Eine zentrale Rolle spielt auch die Tragödie von Kurt Palms Bruder Reinhard. Der erfolgreiche Dramaturg und Übersetzer nahm sich 2014 im Alter von 56 Jahren im Wald von Neuwaldegg das Leben – der Selbstmord schien sorgfältig vorbereitet.

„Trockenes Feld“ ist der Versuch, Herkunft aufzuarbeiten. Besonders spannend ist etwa der Besuch des Autors mit seiner Schwester in Kapan, das heute kaum mehr besteht. Sie treffen da auf einen Einheimischen, der ihnen Gräueltaten der Wehrmacht erzählt. Ein wichtiges und interessantes Buch für alle, die an der verdrängten Geschichte Österreichs und Jugoslawiens interessiert sind.


Kurt Palm: Trockenes Feld
Leykam
304 Seiten
€ 25,50

Roman über eine zerbrochene Familie in England – Jahreszeiten

Ein Leben auf dem Lande, Gemüse pflanzen und verkaufen, ein ideales Umfeld für die gerade geborenen Zwillinge Sonny und Max – das erschien Tess und Richard das ideale Dasein. Doch im Süden Englands stört gar vieles das Idyll. Tess, deren Mutter aus Jamaika stammt, wenngleich sie in London aufgewachsen ist und sich als Großstädterin fühlt, ist die einzige Schwarze im Dorf, in dem die Familie von Max tief verwurzelt ist. Und dass die Söhne Zwillinge sind, ziehen manche in Zweifel, denn Sonny ist schwarz, Max weiß.

Fiona Williams lässt alle vier Familienmitglieder erzählen, wenngleich Richard nicht in der auktorialen Form. Und sie verwendet eine blumige Sprache, ergeht sich in Naturschilderungen, die freilich nur den Hintergrund für eine wenig idyllische Geschichte bilden. Denn Sonny ist im Fluss ums Leben gekommen, wobei die Tragödie nur indirekt aufscheint, denn der Ertrunkene spricht weiter und sein Bruder hält auch Zwiesprache mit ihm. Richard kapselt sich vollkommen in sein Gewächshäusern ab und trinkt zu viel während Tess ihre Heimatlosigkeit immer mehr spürt. Ihre Mutter will ihren Lebensabend in Jamaika verbringen, die Schwester rät ihr, Richard zu verlassen.

Die Autorin ist in Südlondon aufgewachsen, hat eine Farm in Australien betrieben, in Singapur gewohnt und lebt mittlerweile mit ihrer Familie in den Somerset Levels, einem Feuchtgebiet im Südwesten Englands. Es gelingt ihr in „Jahreszeiten“ ganz gut, die Stimmungen im Landhaus der Familie zu schildern. Ein bisschen mehr Klarheit hätte dem Werk aber gut getan.


Fiona Williams: Jahreszeiten
Aus dem Englischen von Maria Hummitzsch
S. Fischer
350 Seiten
€ 24,00

Wilde Jahre in L.A. – Eve Babitz: Sex & Rage

Wilde Jahre in L.A. – Eve Babitz: Sex & Rage

Die 2021 verstorbene Eve Babitz ist auf einem der berühmtesten Fotos der Kunstgeschichte zu sehen: 1963 ließ die 20-Jährige sich von Julian Wasser nackt beim Schachspiel mit Marcel Duchamp fotografieren. Der Maler ist natürlich voll angezogen – heute wäre eine solches Setting wohl undenkbar. Aber die Tochter eines Musikers und einer Künstlerin – ihr Patenonkel hieß Igor Strawinski. Sie war in den 60er-Jahren die Verkörperung einer freien Frau, das It-Girl der Hippie-Ära, wenn man so will. Sie schrieb für den »Rolling Stone«, gestaltete Plattencover, und traf Stars wie Harrison Ford, Jim Morrison, Steve Martin oder Frank Zappa und Salvador Dalí. Sie war Künstlerin, begann aber auch schon früh zu schreiben. Vor etwa 10 Jahren wurden ihre Bücher in den USA und dann auch in deutscher Übersetzung wieder aufgelegt. Babitz soll dazu gesagt haben: „Früher mochten mich nur Männer, heute sind es nur die Frauen.“ Der jetzt bei S. Fischer erschienene Roman „Sex & Rage“ aus dem Jahr 1979 erklärt vielleicht warum.

Im Zentrum steht eine junge Frau, die natürlich an die Autorin erinnert. Jacaranda wächst in L.A. auf, genauer dort am Strand, in Santa Monica – der Stadtmoloch ist schon damals eine Aneinanderreihung von Vierteln, die vielfach wie Dörfer funktionieren. Samt Misstrauen den Nachbarn gegenüber. Eine Frau erklärt etwa, sie sei noch nie südlicher als den Huntington Beach gekommen, der selbstverständlich noch zu Los Angeles gehört. Jacaranda ist begeisterte Surferin und Drogenkonsumentin, pflegt diverse Liebschaften und kümmert sich wenig um ein geregeltes Einkommen. Ab und zu bemalt sie Surfboards gegen Barzahlung oder schreibt für Szenemagazine. Die Handlung des Romans ist aber nicht wirklich entscheidend, es geht vielmehr um das Lebensgefühl dieser Zeit. Als Jacaranda plötzlich eine toughe Agentin hat, die sie in einer Bar aufgelesen hat, soll sie nicht nur ein Buch schreiben, sondern zur Promotion desselben nach New York kommen. Das erscheint ihr wie eine Reise zu einem anderen Planeten. Außerdem ist sie bereits schwere Alkoholikerin. Als sie dann tatsächlich ein Flugzeug besteigt ist das gleichzeitig ihr Entzug.

Eve Babitz erzählt witzig aber in einer Mischung aus Selbstbewusstsein und Versagensängsten – womit sie natürlich völlig ihrer Protagonistin entspricht. Ein Roman der sich natürlich besonders für den Sommer empfiehlt.


Eve Babitz: Sex & Rage
Aus dem amerikanischen Englisch von Hanna Hesse
S. Fischer
270 Seiten
€ 24,00