Die heimische Literatur ist auf der Überholspur: Soeben wurde die in Belgrad geborene, seit 2016 in Wien lebende und deutsch schreibende Autorin Barbi Markovic für „Minihorror“ mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. In dem comichaften Roman geht es um ein junges Paar – Mini und Miki – in Wien. Und Julia Jost erhielt für ihr Debüt „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“ hymnische Kritiken. Beide Autorinnen lesen am Freitag, 10. Mai, bei „Rund um die Burg“. Ebenfalls vielbeachtet: Valerie Fritsch erzählt in ihrem Roman „Zitronen“ wie eine Mutter ihren Sohn mit Medikamenten krank macht, um sich dann liebevoll um ihn kümmern zu können. Der völlig weltfremde junge Mann ist dann unfähig, eine Beziehung zu einer Frau aufzubauen.
Eröffnung
TV-Star Dirk Stermann präsentiert sein Buch über die weltberühmte Wiener Psychoanalytikerin Erika Freeman, die Patienten wie Marilyn Monroe und Marlon Brando betreute. Und Singer-Songwriter Nino aus Wien ist ebenfalls unter die Buchautoren gegangen. Er wird mit seinem Kochbuch ohne Rezepte das Festival am Freitag um 16 Uhr im Vestibül eröffnen.
Zeit für ein Gedicht heißt es auch bei „Rund um die Burg“: Erstmals wird die Wiener Poesiegalerie vier Lesungen gestalten (mit Kirstin Breitenfellner, Franz Josef Czernin, Isabella Krainer sowie Nikolaus Scheibner). Und die Grande Dame der heimischen Literatinnen, Renate Welsh, bereitet ebenfalls Gedichte vor.
„Für K.“ heißt ein Band mit neuen Kurzgeschichten in Gedenken an den Jahresregenten Franz Kafka (100. Todestag), das Herausgeber Otto Brusatti vorstellen wird. Autor, Filmemacher und Sänger („Des Ano“) Max Gruber wird seine Kurzgeschichte aus dem Buch lesen.
Moderation: Ani Gülgün-Mayr (ÖRF 3) und Helmut Schneider (wienlive)
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2024/04/BarbiBB.png11001800wienlive Redaktionhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngwienlive Redaktion2024-04-12 07:00:002024-04-10 08:22:19Rund um die Burg heuer am 10./11. Mai mit 3 Locations und jeder Menge Stars
Der Nino aus Wien ist seit Jahren eine feste Größe in der heimischen (Alternativ)Musikszene. Seine Heimat ist der Sender FM4, gerne wird er aber auch auf Ö1 gespielt, denn Alben wie „Bäume“, „Ocker Mond“ oder zuletzt „endlich Wienerlieder“ bestechen durch poetische Texte in Wienerisch, oft wurde er schon als der „Bob Dylan vom Praterstern“ tituliert. Aktuelle Hit-Single „Alles 1 Scheiss“.
Autor
Vor kurzem hat Nino Mandl – wie er bürgerlich heißt – aber sein erstes literarisches Buch veröffentlich, ein weißes Bändchen mit dem Titel „Kochbuch Take 16“. Darin zu finden sind Beobachtungen, Zustandsbeschreibungen, Stimmungen. Jede Menge Zeilen zum Nachdenken finden sich darin. „Musikalisch komm ich vom Karaoke. Lyrisch vom Chat. Ich bewundere Menschen für vieles“, heißt es da etwa.
Das Kapitel „Adria“ klingt wie der Nachruf von einem Italien-Urlaub, der schon mit „Caorle my friend“ ansetzt.
Im Interview sagt Nino freilich dazu: „Für mich ist das Buch nicht persönlich. Es ist viel mehr ein distanziertes Buch aus der Beobachtung heraus. Ich persönlich spiele in dem Buch kaum eine Rolle. Für ein wirklich persönliches Buch bin ich zu feig.“
Auch die Kritik, es wäre kein Kochbuch, da es ja keine Rezepte enthält, lässt er nicht gelten: „Es wird alles in einen Topf geworfen und köchelt vor sich hin, ja. Aber ich unterscheide es gar nicht so stark, für mich ist alles zusammen ein Gericht. Ob es dir schmeckt oder nicht ist deine Sache. Geschmäcker sind verschieden. Der Druck im Kochtopf kann stark werden.“
Am 10. Mai wird der Nino aus Wien um 16 Uhr im Vestibül des Burgtheaters „Rund um die Burg“ eröffnen.
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2024/04/NinoBB.png11001800Helmut Schneiderhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngHelmut Schneider2024-04-10 08:10:042024-04-10 08:10:05„Ich habe Adria am Unterarm tätowiert“ – Der Nino aus Wien und sein „Kochbuch Take 16“
Hätten Sie es gewusst? Frustriert von den öden, herzlosen Vorstädten in den USA sehnte sich in den 50er-Jahren der 1903 in Wien geborene Victor Gruen nach dem pulsierenden Leben in seiner Heimatstadt zurück und erfand kurzerhand die Shopping Mall. Als Ort zum Einkaufen, aber vor allem auch als einen Ort der Begegnung mit Cafés, einer Piazza, Unterhaltungseinrichtungen wie Theater und Kinos, wo sich auch Menschen außerhalb ihrer Jobs – damals vor allem Frauen und Jugendliche – treffen konnten. Natürlich gelten Einkaufszentren mit den unvermeidlichen Parkplätzen davor jetzt nicht mehr als zeitgerecht, aber erfunden wurden sie 1956 von Gruen vor allem auch als autofreie Zonen zum Schlendern, Tratschen und gelegentlichen Einkaufen.
Innovation
Gruen war auch einer der ersten Verfechter von Fußgängerzonen – bei der Eröffnung der Kärntner Straße war Gruen wieder nach Wien zurückgekehrt und beriet die Stadtregierung bei der Planung. Und für manche gilt er auch als Ahnherr der „Stadt der kurzen Wege“. Das Konzept der Shopping Mall war so erfolgreich, dass es bereits 4 Jahre später 4.500 Malls in den USA gab. Wie viele heute weltweit existieren, lässt sich kaum schätzen.
Victor Gruen (geboren als Victor David Grünbaum) ist nur einer der vielen Menschen aus Wien, die unser heutiges Leben maßgeblich beeinflusst haben und die der britische „Economist“-Journalist und Historiker Richard Cockett in seinem Ende des letzten Jahres erschienenen Buch „Vienna. How the City of Ideas Created the Modern World“ sehr detailliert auflistet und beschreibt. Es ist wirklich beeindruckend, auf wie vielen Gebieten Wienerinnen und Wiener bei der Schaffung und Definition der modernen Welt an vorderster Front standen.
Gute Voraussetzungen
Zwar gibt es von den meisten der von Cockett Genannten schon Biografien, aber bisher hat noch niemand die Fülle der aus Wien stammenden Kreativen in ihrer Gesamtheit gewürdigt. Wobei Cockett natürlich nicht nur die in Wien geborenen Menschen berücksichtigt. Er richtet seinen Blick auf Persönlichkeiten, die in Wien geprägt wurden – meist durch ein Studium an der Universität oder als Schülerinnen oder Schüler hier bereits berühmter Menschen. Und er gibt auch die Gründe an, warum gerade die letzten Jahre der Donaumonarchie und das Rote Wien so fruchtbar für Neuerungen waren:
Sehr viele der Wiener Geistesgrößen wie Sigmund Freud, Victor Gruen, der Architekt der Westside Villa Richard Neutra oder Paul Lazarsfeld, der Pionier der Sozialforschung, stammten aus jüdischen Familien. In diesen herrschte eine große Hochachtung vor Bildung, in den oft armen Familien die einzige Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs. Als die Nazis dann 1938 die medizinische Fakultät an der Wiener Uni von Juden „säuberten“, wurde 78 Prozent der Lehrenden entlassen.
Der Habsburger-Staat mag zwar nicht wirklich modern gewesen sein, aber Bildung war doch leichter zu erlangen als etwa in Deutschland oder gar in noch strikteren Klassengesellschaften wie in England und Frankreich. Seit 1867 galt per Verfassung: „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei“. Die Wiener Uni war in den Zeiten der Monarchie die viertgrößte der Welt.
Die Wiener Gymnasien und Realschulen waren zwar in den Lehrplänen nicht liberaler als die Berliner, die Schülerinnen und Schüler trafen sich aber sowieso lieber in den zahlreichen Wiener Kaffeehäusern, um dort über Gott und die Welt zu diskutieren.
In ebendiesen Cafés saßen auch sogenannte Privatdozenten, die mit ihren Studenten die jeweiligen Forschungsfelder vertieften – denn sie wurden dafür ja nicht von den Universitäten bezahlt und brauchten eine Einnahmequelle. Daraus erklären sich die vielen Zirkeln, geordnet nach Interessen. Die berühmte „Mittwoch-Gesellschaft“ von Freud und seinen Adepten traf sich etwa im Café Korb.
Die – meist aber nicht nur jüdischen – Bürgerhaushalte betrieben oft aus Liebhaberei Privatstudien – in manchen Wohnungen der Ringstraßenpalais befanden sich Terrarien oder Gewächshäuser. Bildung hatte einen großen Wert und war keineswegs eine Klassenfrage.
Anders als in Deutschland herrschte in Wien – spätestens aber im Roten Wien – eine Bevorzugung der exakten Wissenschaften (im Gegensatz zum deutschen Idealismus) – siehe Wiener Kreis.
Wien war in der Monarchie die Stadt der Einwanderer aus allen Teilen des Kaiserreiches. Die meisten Wissenschaftler kamen aus Galizien, aus den heutigen Teilen der Ukraine oder Ungarn, die Hälfte der Wiener Bevölkerung war nicht in Wien geboren.
Und nicht zuletzt war Bildung für das Rote Wien ein zentrales Gut. Man denke nur an Einrichtungen wie die Volkshochschulen oder die Städtischen Büchereien, deren Platzbedarf sogar schon bei der Planung der neuen Gemeindewohnungen berücksichtigt wurde.
Umbruch
Besonders genau geht Cockett auf die „wissenschaftliche Weltauffassung“ des Wiener Kreises ein, die viele der dann vom Austrofaschismus und den Nazis Vertriebenen im Gepäck hatten, als sie in England und den USA ihre Karrieren fortsetzten. Dollfuß, Schuschnigg und Hitler einte der Hass auf Juden und die Roten, sie stellten Heimat, Rasse und Brauchtum über die Wissenschaft. Das Deutsche Reich war tendenziell wissenschaftsfeindlich. Karl Popper entwickelte in England seine Definition von wissenschaftlichen Theorien – sie sollte grundsätzlich widerlegbar sein (Alle Schwäne sind weiß gilt solange als wahr, bis ein schwarzer Schwan auftaucht).
Sehr differenziert schildert Cockett auch den Kampf um die Deutungshoheit in der Ökonomie, den drei Wiener global beobachtet gegeneinander führten und der auch heute noch unser Denken von wirtschaftlichen Prozessen bestimmt.
Gegensätze
Das Rote Wien – mit Otto Neurath an der Spitze – verstand die Wirtschaft, vereinfacht dargestellt, als Diener des Volkes, die zur Wohlfahrt verpflichtet werden muss (Wohnbausteuer von Hugo Breitner). Auch Roosevelts „New Deal“ nahm etwa nach dem Börsencrash die Wirtschaft in die Pflicht. Der ebenfalls in Wien geborene Friedrich August von Hayek predigte stattdessen einen Staat, der sich in Sachen Wirtschaft völlig zurücknimmt. Die Gesetze des freien Marktes würden automatisch Wohlstand für alle (zumindest die Fleißigen) bringen. Er gilt somit als Erfinder des Neoliberalismus, der spätestens seit den 80er-Jahren (Thatcher, Reagan) die Weltwirtschaft bestimmt. Cockett verweist aber auch noch auf den Wiener Karl Polanyi, der zu Lebzeiten wenig beachtet wurde, in den vergangenen Jahren aber wieder viel diskutiert wird. Polanyi definiert die menschliche Arbeit, aber auch die Natur als ein nicht handelbares Gemeingut und fordert einen Staat, der zwar nicht wie im Kommunismus alle wirtschaftlichen Geschehnisse diktiert, der aber sowohl mit einem moralischen Blick aus Sicht aller Bürger Eingriffe vornimmt.
Berühmt & Berüchtigt
Cockett behauptet aber keineswegs, dass nur Gutes aus Wien kam. Karl Lueger war einer der ersten, der den Antisemitismus als politische Waffe einsetzte („Wer a Jud is, bestimm i“) obwohl er viel mit Juden verkehrte. So gesehen war er vielleicht der erste Populist, der sich nicht um Fakten scherte. Der Ökonom Othmar Spann schuf mit seinem Buch „Der wahre Staat“ die Grundlagen für den Faschismus in Österreich und Deutschland (er wurde auch NSDAP-Mitglied). Und ausgerechnet der Jude Otto Weininger schrieb mit „Geschlecht und Charakter“ ein Werk des Antisemitismus und der Frauendiskriminierung, das viel Beachtung fand – auch weil es einen Geniekult huldigt nach dem sich geniale Menschen keiner Verantwortung zu stellen haben. Zudem war die Wiener Universität keineswegs immer ein Hort der liberalen Weltauffassung. Rechte Schlägertrupps waren eine ständige Gefahr für Studierende und Lehrende. So wurde Moritz Schlick bekanntlich auf der Universitätsstiege ermordet.
Nevertheless, wie Cockett am Ende schreibt: „We are all in their debt“.
Interessant auch, dass eine so eindrucksvolle Aufarbeitung des Wiener Geisteslebens auf die moderne Welt von einem Briten kommt. Man wird sehen, ob das einen ähnlichen Effekt hat wie die Darstellung Wiens des US-Amerikaners Carl E. Schorske in seinem wegweisenden Klassiker „Fin-de-siècle Vienna “(1979). Schorske markiert immerhin den Beginn des kulturellen Massentourismus nach Wien. Ein Grundpfeiler des wirtschaftlichen Erfolgs unserer Stadt.
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2024/04/ViennaBB.png11001800Helmut Schneiderhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngHelmut Schneider2024-04-03 12:32:012024-04-03 12:32:02Wie die moderne Welt von Wiener Wunderwuzzis erfunden wurde – „Vienna“, das erstaunliche Werk des „Economist“-Journalisten und Historikers Richard Cockett
Dystopien – also düstere Science-Fiction meist nach einer globalen Katastrophe spielend – sind der neue Zeitroman. Sehr viele aktuelle Bücher spielen in einer Zukunft, die so fern nicht scheint, die wir aber nicht erleben wollen. So auch der neue Roman von C Pam Zhang, dessen Titel „Wo Milch und Honig fließen“ eher das Gegenteil vermuten ließ. Denn wir befinden uns da in einer Welt, die nach einem Supergau in der Landwirtschaft, von einer Smogwolke bedeckt ist. Nur noch sehr genügsame Pflanzen wachsen in der dunklen Atmosphäre, die Menschen ernähren sich hauptsächlich von Mungomehl, einer grauen Pappe.
Eine junge, amerikanische Köchin heuert – gestrandet in Europa nach dem Einreiseverbot in die USA – bei einer Forschungsgruppe um einen geheimnisvollen Millionär auf einem Berg nahe Mailand an, weil sie schon seit Monaten kein frisches Grün mehr essen konnte. Denn oben im Gebirge ist man über dem Smog – die Wissenschaftler züchten alles, was es auf der Erde schon lange nicht mehr gibt. Mehr noch – der reiche Betreiber der Kolonie ist von seinen noch reicheren Sponsoren abhängig, denen er jede Woche ein opulentes Menü aus exquisiten Lebensmitteln servieren muss. Die Köchin ist zwar weit nicht so gut wie sie behauptet hat, sie hat jedoch einen wichtigen Bonus: sie sieht der verschwundenen asiatischen Frau des Magnaten ähnlich und soll sich bei den Dines im Seidenkleid als seine Frau ausgeben. Aber weil sie sich in dessen Tochter, einer exzentrischen Forscherin, verliebt, bleibt sie vorerst im „Land, wo Milch und Honig fließen“.
C Pam Zhang, 1990 in Peking geboren, wuchs in den USA auf und wurde 2020 mit ihrem Debütroman, den fulminanten Western „Wie viel von diesen Hügeln ist Gold“ berühmt. Ihr neuer Roman liest sich etwas sperriger, aber durchaus ebenso gut. Ihre Köchin ist durchaus ein interessanter Charakter, auch die Tochter des Magnaten ist gut gezeichnet. Die Superreichen bleiben im Gegensatz dazu leider etwas flach.
Der Roman ist freilich durchaus eine realistische Beschreibung möglicher Zukunftsperspektiven. Der Ausbruch eines Supervulkans (unter dem Yellowstone Park oder im Atlantik bei den Kanaren befinden sich derartige), der ähnliche Auswirkungen wie der beschriebene Smog zeigen würde, ist ja denkmöglich. Gespenstisch sind C Pam Zhangs Schilderungen der Besuche der Köchin im darbenden Mailand samt tödlichem Unfall. Die längst vom Einheitsbrei abgestumpften Gaumen der Kinder finden den Geschmack eines Apfels nur noch widerlich. Wer denkt da nicht an die heute grassierende Fast-Food-Unkultur.
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2024/03/MilchBB.png11001800Helmut Schneiderhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngHelmut Schneider2024-03-29 09:28:332024-03-29 09:28:35Essen nach der Katastrophe – C Pam Zhangs Roman „Wo Milch und Honig fließen“
Ein großes Zeichen für das Lesen: Heuer gab es beim österreichischen Vorlesetag mehr als doppelt so viele Anmeldungen wie im Vorjahr.
Mit rund 9.000 Lesungen an einem Tag – mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr – brach der österreichische Vorlesetag gestern am 21. März alle Rekorde. Zahlreiche Prominente aus Politik, Kunst und Kultur lasen in ganz Österreich vor und sorgten so für ein buntes und abwechslungsreiches Vorleseprogramm unter dem Motto „Lesen. Deine Superkraft“.
Der Österreichische Vorlesetag 2024
Mit dabei waren unter anderem der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig, Bildungsminister Martin Polaschek, Schauspieler und Regisseur Michael Schottenberg, die TV-Moderatorinnen Barbara Stöckl und Arabella Kiesbauer, Boxer Marcos Nader, Dompfarrer Toni Faber und viele mehr. Gemeinsam mit allen Unterstützer:innen ist es einmal mehr gelungen, auf die Bedeutung des Vorlesens aufmerksam zu machen und die Freude am (Vor-)Lesen zu wecken.
Bundesweit
Am Österreichischen Vorlesetag um 10 Uhr schien die Zeit still zu stehen: Denn im ganzen Land wurde zugehört und vorgelesen. Mit mehr als 8.600 Lesungen an nur einem Tag wurden gestern alle Rekorde gebrochen und gezeigt, wie groß die Bereitschaft der Menschen in Österreich ist, das (Vor-)Lesen zu fördern und die Freude am Lesen wieder zu wecken, um allen Kindern bessere Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Damit sind die Weichen für die kommenden Jahre gestellt. Denn Lesen ist der Grundstein für unsere Kultur, für eine gute Ausbildung und einen erfolgreichen Berufsweg. „Wir sind überwältigt vom diesjährigen Erfolg und bedanken uns bei allen, die uns unterstützt und mit uns gemeinsam die größte Vorlesegemeinschaft Österreichs aufgebaut haben. Unsere Vision ist es, möglichst viele Menschen für das Vorlesen zu begeistern, und es hat sich wieder einmal gezeigt, wie sehr sich die Anstrengungen lohnen“, freut sich Werner Brunner, Mitinitiator des Österreichischen Vorlesetags und Herausgeber des Vorlesebuchs.
Von Tandemlesen, Book-Dating, Kamishibai-Erzähltheater bis zu Lyrikwanderungen
Der Kreativität waren am Österreichischen Vorlesetag keine Grenzen gesetzt: Ob jung oder alt, ob privat oder öffentlich, im eigenen Wohnzimmer oder an einem speziellen Ort: Menschen in ganz Österreich organisierten kreative Leseaktionen und luden unter anderem zum Tandemlesen, Book-Dating, Kamishibai-Erzähltheater, zu Lyrikwanderungen durch Weingärten, zur mystischen Lesenacht, zum gemeinsamen Kochen mit Küchensprüchen und zum Lesekino ein. Schulen verwandelten sich in Lesecafés, Texte in verschiedenen Sprachen sowie aus diversen Literaturwettbewerben wurden zum Besten gegeben und Märchen aus aller Welt entführten die Zuhörer:innen in das unendliche Reich der Fantasie.
Prominente Gesichter beim Vorlesetag
Neben den regionalen Programmhighlights erfreute sich der Österreichische Vorlesetag auch vieler prominenter Unterstützer:innen. Vorlesen hat Vorbildwirkung: Der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig lud auch in diesem Jahr Volksschulkinder ins Wiener Rathaus ein und las ihnen aus Wiener Sagen vor. Weitere Lesungen fanden unter anderem im Bildungsministerium mit Bildungsminister Martin Polaschek, im Prater mit Wiesn-Kaiser Johann I. und in der Volksschule Judengasse mit Dompfarrer Toni Faber statt. Zum Ausklang des erfolgreichen Tages lasen die österreichischen Schriftsteller:innen Ursula Heinrich aus „Mord im Astoria“ und Thomas Sautner aus „Nur zwei alte Männer“ sowie Autor, Schauspieler und Regisseur Michael Schottenberg aus „Vom Entdecken der Welt“ auf der Summer Stage vor.
Am Vormittag wurden außerdem Lesungen von Bildungsminister Martin Polaschek, Jugendstaatssekretärin Claudia Plakolm, Bildungsdirektor Heinrich Himmer, Präsident des Pensionistenverbandes Peter Kostelka, Vorstandsdirektorin der Wiener Städtische Versicherung Doris Wendler, den TV-Moderatorinnen Barbara Stöckl und Arabella Kiesbauer und Schauspieler Hans Sigl auf der Website des Österreichischen Vorlesetags freigeschaltet.
Die Highlights in Wien
Das Bundesministerium war dieses Jahr Schauplatz mehrerer Lesungen: Dort lasen Bundesminister Martin Polaschek aus „Kleine und große Wunder der Natur“ von Gabby Dawnay, Boxer Marcos Nader aus „Liebesgeschichten vom Franz“ von Christine Nöstlinger, Miss Europe Beatrice Turin aus „Reisen Reisen: Wie wir die Welt entdecken wollen“ von Michael Dietz und Jochen Schliemann, der Präsident des Niederösterreichischen Gemeindebundes Johannes Pressl aus „Schau durchs Fenster“ von Katerina Gorelik und die Autorin Lena Raubaum aus ihrem Werk „Mit Worten will ich dich umarmen“ für Volksschulkinder aus Neusiedl vor.
Am Vormittag besuchten zudem Volksschulkinder den Wiener Bürgermeister Michael Ludwig im Rathaus, wo er ihnen aus seinem großen Wiener Sagenschatz vorlas. Anschließend gab es für die jungen Besucher:innen noch eine kleine gemeinsame Jause. Altbürgermeister Michael Häupl las in der Volksschule Brüßlgasse im 16. Bezirk gemeinsam mit Fußballern des FK Austria Wien sowie Tino Schlench vom Literaturpalast und Dompfarrer Toni Faber in der Volksschule Judengasse vor.
Im Wiener Prater las der Wiesn-Kaiser Johann I. für Kindergartenkinder vor und in der Erlebniswelt des Wiener Flughafens brachte der Autor Christoph Mauz die Kinder mit einer Flughafenrundfahrt erst zum Staunen und dann mit seinem Werk „Geisterbahn voll abgefahren“ zum Lachen. In den Wiener Kaffeehäusern fanden Lesungen mit Schriftsteller Thomas Sautner (Café Museum), Schriftsteller Gerhard Loibelsberger (Café Feinklein), Lyrikerin Sirka Elspaß (Café Strozzi), Journalist und Autor Robert Sommer (Café Weidinger), Schauspielerin und Regisseurin Michaela Ehrenstein (Café Weimar), Schauspieler Robert Ritter(Café Alt Wien), Schauspielerin Edith Leyrer (Café Frauenhuber), Schauspieler Martin Schwanda (Hollerei), Schriftstellerin Simone Hirth (Café Kosmos) und Autor Max Gruber (Café IIN) statt.
Das Vorlesebuch 2024: Geschichten für jedes Alter
Das diesjährige Vorlesebuch wartet mit viel Tiefgang auf. Mit 25 Geschichten und Aufsätzen von renommierten Autor:innen und heimischen Jung-Autor:innen sowie Schüler:innen spricht die jüngste Ausgabe des Vorlesebuchs 2024 jedes Alter an. „Das Vorlesebuch wurde bewusst so kuratiert, dass es spannende Geschichten für Kinder, kurzweilige Aufsätze von und für Jugendliche sowie inspirierende Erzählungen für Erwachsene enthält. Alle Altersgruppen sollen auf ihre Kosten kommen und die Freude am Lesen entdecken“, sagt Werner Brunner.
Als sich der Krieg in Jugoslawien ausbreitet, flieht die Familie der Erzählerin nach Österreich – zumal ihre Identität innerhalb der Volksgruppen nicht so eindeutig ist. Die drei landen ausgerechnet in Wiener Neustadt, weil es dort – Verwandten zufolge – eine Stelle als Haushaltshilfe geben soll. Die Erzählerin ist da noch ein Kind und wir erleben so die Sozialisation eines „Ausländerkindes“ in Österreich. Wobei sich die Kleine aus Rijeka bald als Musterschülerin entpuppt, die sogar in Deutsch Bestnoten erzielte. Ewas, das die Lehrerin nur schwer akzeptieren konnte, denn „Ein Ausländerkind bekommt kein Sehr Gut in Deutsch“.
Auch das Erlangen der Staatsbürgerschaft war schon damals schwierig und nur durch einige Tricks möglich. Dabei war die Mutter ausgebildete Apothekerin. Nur durch zusätzliche Kurse konnte sie schließlich in ihrem Job arbeiten und bekam eine Stelle in einer Apotheke. Später arbeitete sie in einem großen Pharmaunternehmen. Papa hat – obschon ebenfalls Akademiker – hingegen grobe Schwierigkeiten – nicht nur mit der Sprache. Vom Schiffsbauingenieur wird er zum Hausmann in der Familie. Erst findet das die Erzählerin super, weil Papa immer Zeit für sie hat, doch später nervt sie ihr Vater immer mehr. Zur großen Tragödie ihrer Adoleszenz wird ein Schwimmwettbewerb. Die Erzählerin war zu einer Spitzenschwimmerin herangereift. Bei einem Fun-Wettbewerb sollte sie mit ihrem Vater antreten, doch der ist – trotz guter Fitness – mental unfähig, sich wirklich anzustrengen. Daraufhin ignoriert das Kind ihren Vater, der für die Sozialisation in der Fremde so gar nicht gerüstet scheint.
„Ein schönes Ausländerkind“ ist ein gut lesbarer Roman über die Wünsche, Ängste und Sehnsüchte einer Heranwachsenden fern der Heimat. Der Prolog passt allerdings nur bedingt. Da wird nämlich beschrieben, wie die Erzählerin nach dem Jus-Studium in einem Amt arbeitet, wo sie anscheinend nichts zu tun hat und sich schrecklich langweilt. Als das endlich auffällt, wird sie einvernehmlich gekündigt. Aber das ist ihr egal, denn sie fühlt sich längst „innerlich tot“. Die nachfolgende Beschreibung ihrer Sozialisation – eben das gesamte Buch – liest sich nicht so hart, dass man diese innere Leere verstehen kann.
Toxische Pommes ist natürlich ein Pseudonym. Irina – so der Verlag – arbeitet tatsächlich als Juristin in Wien und wurde in der Pandemie durch witzige Videos auf TikTok und Instagram bekannt. Inzwischen ist sie auch mit ihrem Kabarettprogramm „Ketchup, Mayo & Ajva – Die sieben Sünden des Ausländers“ erfolgreich.
Am 11. April wird das Buch im Wien Museum präsentiert – Anmeldung unter wienmuseum.at/event
Das Hörbuch wurde vor vielen Jahren als neues Buchmedium ziemlich gehypt, bis es auf die heutigen etwa 1,2 Prozent des (deutschen) Buchhandels gesunken ist. Dieser bescheidene Anteil hat sicher mehrere Gründe. Zwar kann man heute mit ein paar Klicks Hörbücher/Audiobooks kaufen und herunterladen, der Preis ist aber meist nicht viel geringer als das gedruckte Buch, denn die Verlage müssen natürlich auch die Kosten für die Hörbuchproduktion kalkulieren. Das größte Hindernis dürfte allerdings sein, dass viele Leser es einfach schätzen, ein Buch in der Hand zu halten – der Anteil der E-Books am Umsatz des Buchmarkes stagniert ja ebenfalls seit Jahren und liegt bei etwa 6 Prozent.
Ich selbst schätze Hörbücher vor allem als zusätzliche Möglichkeit, ein Buch zu lesen, denn ich höre sie dann, wenn ich sonst nicht lesen könnte – vornehmlich beim Laufen und in der U-Bahn bei längeren Strecken, weil man da einen Sitzplatz bräuchte und das Licht nicht optimal fürs Lesen ist. Nicht alle Bücher sind gute Hörbücher. Manche sind zu kompliziert, die Handlung zu verworren oder der Stil zu elaboriert und manche sind einfach schlecht gelesen.
Michael Köhlmeier ist freilich ein echter Glücksfall für das Hörbuch. Seiner Stimme würde man wahrscheinlich auch dann gerne lauschen, wenn er das Telefonbuch oder die Nutzungsbedingungen für die iCloud läse. Und das ist – zumal unter der Autorenschaft – selten, denn bei öffentlichen Lesungen kommen Besucher ja vor allem, um dem Autor, der Autorin zu begegnen und nicht weil sie sich eine spannende Darbietung erwarten.
In seinem neuesten Roman geht es um eine 100jährige Architektin, die dem Erzähler, einen Autor, der sich Michael nennt, eine Episode aus ihrer Kindheit anvertrauen will, die sie noch niemand erzählt hat. Denn dieser Autor ist dafür bekannt, dass er gerne flunkert und so kann sie sicher sein, dass man ihm nicht glauben wird, wenn er die Wahrheit schreibt. Die in St. Petersburg geborene Architektin wurde als 14-Jährige mit ihren Eltern auf ein Schiff verfrachtet, denn Intellektuelle waren in revolutionären Zeiten in der Sowjetunion sehr verdächtig. Das Trotzki & Co. solche Schiffe tatsächlich losschickten ist übrigens historisch belegt. Auf diesem besagten riesigen Dampfer sind dann aber nur eine Handvoll Vertriebener, die auch von der Mannschaft völlig abgeschirmt werden. Da wird im Geheimen der alte, schwerkranke Lenin an Bord gebracht. Verbotenerweise besucht das Mädchen den schon bewegungsunfähigen Diktator daraufhin mehrere Nächte lang auf dem Deck und unterhält sich mit ihm. Bis sie dann mitansehen muss wie ein Mann – natürlich Stalin – den Hilflosen im Rollstuhl über die Reling schiebt…
Ein schönes Beispiel für die sogenannte Alternative History, denn Köhlmeier kann sehr glaubhaft das völlig Absurde der kommunistischen Herrschaft darstellen. Andere Beispiele für diesen erzählerischen Topos wären etwa die Filme von Quentin Tarantino – wie zuletzt „Once Upon a Time in Hollywood“ über den Anschlag der Manson-Family auf die Villa von Roman Polanski.
Michael Köhlmeier ist ein sehr produktiver Autor mit sehr vielen Fans, einigen Zeitgenossen missfällt naturgemäß auch manches. „Das Philosophenschiff“ ist aber zweifelsohne einer seiner gelungensten Texte.
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2024/03/SchiffBB.png11001800Helmut Schneiderhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngHelmut Schneider2024-03-20 09:48:042024-03-20 09:48:05Über Hörbücher und Michael Köhlmeiers neuen Roman „Das Philosophenschiff“
August wächst am Land auf und muss eine Jugend erleben, die von Gewalt und Fürsorge sozusagen in die Mangel genommen scheint. Erst ist der bald arbeitslose Vater das Problem, der versucht durch Käufe und Verkäufe auf Flohmärkten Geld zu verdienen und das Haus in eine Rumpelkammer verwandelt. Besonders wenn er trinkt, schlägt er meist grundlos August und spart seine Liebe nur für seine Hunde auf. Augusts Mutter lebt in ihrer eigenen Welt und kümmert sich kaum um den Haushalt, nachdem sie nicht mehr als Krankenpflegerin arbeitet. Als der Vater plötzlich verschwindet, kann August endlich einen unbeschwerten Sommer mit den Nachbarskindern erleben. Doch die Freude hält nur kurz – August bekommt eine Sommergrippe und liegt im Bett. Seine Mutter blüht plötzlich auf, denn endlich kann sie ihren Sohn umsorgen und in der Dorfgemeinschaft als Mutter punkten.
Als August wieder zu gesunden ansetzt, hilft sie mit Tabletten nach, um ihn krank zu halten. Sie schafft es sogar lange ihren neuen Partner – ausgerechnet den dicken Gemeindearzt – zu täuschen. Zwischendurch füttert sie ihm Zündholzköpfe als Stärkungsmittel. Nur im Urlaub, in Italien, bekommt August wieder Kraft, denn der Mutter sind die Tabletten abhandengekommen. Dort sieht er auch – ganz verklärt – Zitronen an den Bäumen wachsen. Die endgültige Befreiung gelingt August erst im Unglück. Vom Blitz getroffen kommt er ins Krankenhaus und sein neuer Stiefvater ermöglicht ihm danach einen Neustart in der Stadt. Als Kellner verliebt er sich in eine Künstlerin, was nur so lange gutgeht, bis diese seine völlig gestörte Psyche anhand seiner krankhaften Eifersucht erkennt.
In „Zitronen“ schildert die in Graz geborene Schriftstellerin Valerie Fritsch wie ein Mensch durch eine schwer belastete Kindheit selbst zum Täter wird. Das Phänomen Angehörige künstlich krank zu halten ist inzwischen auch medizinisch diagnostiziert und wird Münchhausen-Stellvertretersyndrom genannt. Über Fälle von Gewalt an Kindern oder Frauen liest man sowieso nur allzu oft in den Zeitungen. Fritsch hat auch unter Tätern recherchiert. Im Buch lauscht August – bevor er selbst zum Täter wird – einem Mörder, der von der Teilnahmslosigkeit und Schulduneinsichtigkeit seiner „Kollegen“ erzählt. Das Ende des Romans sei aber hier nicht verraten.
Valerie Fritsch wird ihr Buch auch bei „Rund um die Burg“ (10./11. Mai) vorstellen.
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2024/03/ZitronenBB.png11001800Helmut Schneiderhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngHelmut Schneider2024-03-15 07:00:002024-03-15 08:47:24Wie Gewalt entsteht – Valerie Fritschs Roman „Zitronen“ wird auch bei „Rund um die Burg“ gelesen
Roberto Saviano, geboren 1979 in Neapel, ist der zurzeit berühmteste Schriftsteller Italiens. Seine Berühmtheit halt allerdings einen Preis, denn seit Erscheinen seines Mafia-Romans „Gomorrha“ 2006 steht er unter Polizeischutz und muss andauernd seine Wohnung wechseln, denn in diesem Weltbestseller nannte er die Namen der Mitglieder der Camorra und wurde daraufhin mehrfach bedroht. An das muss man denken, wenn man sich jetzt auf Netflix die 5 Staffeln „Gomorrha“ ansieht, denn in dieser Serie geht es wirklich ultrabrutal zu. Nicht nur Mitglieder der „Familien“ und ihre Soldaten werden ermordet, auch viele Unschuldige und kleine Gauner, die die Not zu Verbrechern macht, kommen blutigst ums Leben. „Italien ist ein gefährliches Land – mit einer gewaltvollen Politik, einer unvollendeten Demokratie und einem feigen Vasallen-Journalismus“, erklärte Saviano in einem Interview.
Die TV-Serie, die meist an den Originalschauplätzen in den heruntergekommenen Sozialsiedlungen Neapels und nach Salvianos Roman gedreht wurde, zeigt uns das Leben in unserem Nachbarland abseits des Dolce-Vita-Klischees. Die Polizei wird nicht ernst genommen und bei Bedarf geschmiert, die Politik ist oft selbst in Korruption verstrickt. Es geht immer nur darum, dass die Richtigen am Gewinn profitieren. Schwer verständlich für Nicht-Italiener ist die enge Beziehung der Mafia-Bosse zum katholischen Glauben und zur Kirche. Nach dem Mord wird gebetet, Madonna-Statuen sind selbst noch im kleinsten Versteck. Und ihren bisweilen gar nicht so großen Reichtum genießen die Drogenhändler in völlig verkitschten kleinen Wohnungen mit Prunk nach dem ästhetischen Geschmack von Donald Trump. Die von Gier und Eitelkeiten gesteuerten Konflikte und Schachzüge würde man gerne der blühenden Phantasie der Drehbuchschreiber zuschreiben, wenn man nicht wüsste, dass sie vom penibel recherchierenden Roberto Saviano stammen. In einem Interview erklärte er einmal das Denken in Italien mit dem berühmten Pferde-Wettkampf in Siena. Ziel des Palio wäre nicht zu gewinnen, sondern dafür zu sorgen, dass auf keinen Fall der Gegner und Nachbar Erster wird.
Auch wenn die Dialoge nicht immer wirklich glaubhaft klingen, die Kameraführung ist sehrgelungen. Und die Lichttechniker schaffen es, eine ganz eigene Farbigkeit zu kreieren, die an alte Farbfilme (als es noch Agfachrome gab) erinnert. Ein Sommertag in Neapel scheint in Licht zu ertrinken.
In seinem neuesten Roman „Falcone“ setzt Saviano nun einem noch berühmteren Mafia-Jäger ein Denkmal. Der hartnäckige Untersuchungsrichter Giovanni Falcone starb bekanntlich 1992 bei einem Sprengstoff-Attentat der Mafia in Palermo. In der Vorbemerkung heißt es da (angesichts der haarsträubenden Geschichten, die er dann erzählt): „Alle auftretenden Personen hat es wirklich gegeben, jedes Ereignis ist tatsächlich geschehen. All das ist gewesen.“
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2024/03/Gomorrah-removed-from-netflix.jpg506900Helmut Schneiderhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngHelmut Schneider2024-03-14 07:00:002024-03-13 09:08:22Roberto Saviano und die TV-Serie „Gomorrha“
Daniel Kehlmann wird tatsächlich von Roman zu Roman immer besser. Sein Buch über den österreichischen Filmregiegiganten G. W. Papst (geboren 1885 in Böhmen, gestorben 1967 in Wien) zeichnet sich durch bestes schreiberisches Handwerk, Fokussierung auf ein Thema und sogar durch Humor aus. Kehlmann konzentriert sich nämlich auf einen – allerdings sehr wichtigen – Aspekt aus dem Leben von Papst. Warum kehrte er aus Hollywood nach Deutschland zurück als dort bereits Hitler seinen Krieg vorbereitete und wie überlebte er unter der Propagandamaschinerie von Joseph Goebbels im Kulturbetrieb? Und vor allem: Würde Papst dadurch moralisch schuldig?
Gleich zu Beginn steht eine der witzigsten Szenen des Buches, die aber bereits auf das Kernthema hinweist. Ein bereits fast dementer Regieassistent von Papst – Franz Wilzek – hat einen Auftritt bei Heinz Conrads „Was gibt es Neues“ und streitet mit dem stetig mehr angepissten Moderator über einen Film, der kurz vor Kriegsende von Papst gedreht wurde. Dieser Film – „Der Fall Molander“ – nach einem Roman des NS-Dichters Alfred Karrasch – gilt als verschollen und wurde auch nie geschnitten. Allerdings sollen dabei – wie im Roman breit geschildert – KZ-Häftlinge als Statisten eingesetzt worden sein.
In Hollywood hatte man Papst, der sich mit „Die freudlose Gasse“ in die erste Riege der Stummfilmregisseure katapultiert hatte, 1934 genötigt, ein schlechtes Drehbuch zu verfilmen – der Streifen „A Modern Hero“ war dann dementsprechend erfolglos. Er versucht vergebens Greta Garbo – seine Entdeckung – für ein Filmprojekt zu begeistern und kehrt zunächst nach Frankreich zurück. Um seine mutmaßlich kranke Mutter zu sehen, kommt er wieder nach Österreich, das es damals allerdings schon gar nicht mehr gab. In seinem Schloss hat der Hausmeister, ein NS-Parteigänger, bereits die Macht ergriffen. Plastisch beschreibt Kehlmann – permanent die Erzählperspektive wechselnd – auch die Audienz bei Goebbels oder die Kameraden von Jakob, den Sohn des Regisseurs. Der Roman über den Filmregisseur ist dabei durchaus sehr cineastisch geworden. Das mag manche Exegeten der reinen Literaturlehre stören, die Leser werden ihm allerdings danken.
https://wienlive.at/wp-content/uploads/2024/03/LichtspielBB.png11001800Helmut Schneiderhttps://wienlive.at/wp-content/uploads/2021/03/Bildschirmfoto-2020-04-15-um-14.31.27-1-300x138.pngHelmut Schneider2024-03-08 08:40:232024-03-08 09:19:15Kunstfreiheit unter Goebbels – Daniel Kehlmanns Roman „Lichtspiel“ über G. W. Papst