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BURGER, BÜCHER, BIER & BIRON im Hawidere

Foto: ©Elisabeth Lechner

„Vogelkopf“ ist nach „Eisenschädel“ und „Frischfleisch“ der dritte Teil der Georg-Biron-Trilogie, die im Wieser Verlag erscheint. Der autobiografische Roman blickt zurück in die 1990er und an den Beginn der 2000er Jahre. Das Buch zaubert Filme ins Kopfkino, die spannend, romantisch und humorvoll sind.

„Die 1990er begannen für mich definitiv anders, als die 1980er zu Ende gegangen waren. Ich besaß ein mobiles Telefon mit der Vorwahl 0663. Es war so groß wie ein Ziegelstein und hatte eine Antenne. Ich steckte es in die Hosentasche; und es ragte zur Hälfte raus. Wenn ich am Bahnhof war, um Zeitschriften zu kaufen, nahmen die Bettler, die Huren und die Kiffer Reißaus, weil sie mich für einen Kriminalbeamten mit Funkgerät hielten. Man konnte damit nur telefonieren. Niemand rief an, weil niemand meine Nummer hatte.“

Georg Biron (* 18. Oktober 1958 in Wien) ist ein österreichischer Schriftsteller, Reporter, Drehbuchautor, Schauspieler, Regisseur und Kulturproduzent. Er wuchs in Wien-Penzing auf. Ab 1977 studierte er an der Universität Wien Jura, später Publizistik und Theaterwissenschaften. In Wien bewegte er sich in der alternativen Wiener Kulturszene und lernte Elfriede Jelinek, Hermann Schürrer, Joe Berger, Helmut Qualtinger (über den er ein Buch schrieb), Oskar Werner, Wolfgang Bauer, Heinz R. Unger, Franz Ringel, Peter Turrini, Hari Schütz u. v. a. kennen.

Am 9. September wird Georg Biron im Hawidere, Ullmannstraße 31, 1150 Wien, um 19 Uhr „Vogelkopf“ präsentieren. Der Eintritt ist frei!

Georg Biron wird auch bei der Kriminacht am 29. Oktober einen Auftritt haben und seine Begegnungen mit Jack Unterweger erzählen. UND: Im nächsten wienlive-Magazin finden Sie ein Interview mit dem Autor.

Die letzten Tage des Weltenkaisers – der ungewöhnliche Historienroman „Reise nach Laredo“ von Arno Geiger

Obwohl keine 300 Seiten lang, ist Arno Geigers Roman über das Sterben Kaiser Karls V. im 16. Jahrhundert – das ist jener Habsburger, in dessen Reich niemals die Sonne unterging, wie es so schön heißt – ein Text, auf den man sich einlassen muss. Geiger wirft uns auf den ersten Seiten keine literarischen Häppchen hin, die uns den Sinn dieser Unternehmung gleich verraten würden. Der gichtkranke, fettleibige und hässliche – seine Kinnlade steht immer offen – alte Mann – damals war man mit 58 eben schon wirklich alt – lässt sich von seinen Bediensteten mittels einer eigens dafür konstruierten Apparatur in einen Waschzuber heben, weil er sich selbst nicht mehr waschen kann. Am liebsten dämmert er, betäubt von Laudanum vor sich hin. Er hat abgedankt, die Macht ist nicht mehr bei ihm in diesem spanischen Kloster Yuste, wo er sich mit seinem Beichtvater und einem kleinen Hofstaat zurückgezogen hat. Was will er noch vom Leben ist die Frage, die ihn bewegt, als ihn ein elfjähriger Knabe – ein illegitimer Sohn, der seine Herkunft aber nicht kennt – besucht und er wie zum Scherz mit ihm ausmacht, aus dem Kloster zu fliehen. Man könnte doch den Wallfahrtsort Laredo an der Küste aufsuchen – und das seltsame Abenteuer beginnt.

Geronimo und Karl treffen bald schon auf zwei Ausgestoßene – Cagots – die Geschwister Honzo und Angelita, die gerade furchtbar misshandelt werden, denn jede Gesellschaft hat ihre Minderheiten als Prügelknaben. Mit einer Pistole kann Karl die Angreifer vertreiben und so sind sie bald schon zu viert auf den Weg.

Und es wird zunehmend märchenhafter: Zwischen Yuste und Laredo liegt ein Gebirge und ganz oben die tote Stadt, wo die Reisegesellschaft in einem Wirtshaus einkehrt. Dort wird ein riesiger Greif gehalten – das Fabeltier haust ganz jämmerlich im Keller, während Karl nichts Besseres zu tun hat als zu saufen und sein Geld zu verspielen. Wer denkt da nicht an Goethes Auerbachs Keller? Schließlich müssen sie gar fliehen, wobei Honzo ums Leben kommt – er wollte seine Schwester überreden, im Tausch für den Greif beim widerlichen Wirt zu bleiben, stürzt freilich bei der Greifbefreiung vom Turm. Karl muss da an seine vielen Verwandten denken, die er gegen ihren Willen verheiratet hat. Das Ende wird nach den Abenteuern dann fast idyllisch. Karl schein beim Baden im Meer einen friedlichen Abschied vom Leben zu finden. Jeder Mensch ist ein zurückgetretener König, denkt Karl und wir denken an Geigers wunderbares Buch über seinen alzheimerkranken Vater „Der alte König in seinem Exil“.

„Reise nach Laredo“ ist nicht wirklich ein Historienroman, Geiger nimmt sich aus der Geschichte, was er braucht, um das Elend einst mächtiger Männer nach ihrem Ausscheiden aus den Ämtern zu beschreiben (Frauen tun sich da meist leichter). Das kann man täglich beobachten – nicht nur in der Politik und Wirtschaft. Was bleibt, wenn der Schein verblasst? Geiger spielt geschickt mit literarischen Vorbildern und findet eine Sprache, die dem Stoff angemessen ist. Ja, es zahlt sich aus, wenn man sich auf diesen Roman einlässt.


Arno Geiger: Reise nach Laredo
Hanser
272 Seiten
€ 27,50

D-Day für Doderer: Am 21. September diskutieren Otto Brusatti und Helmut Schneider über Musik im Werk des Großschriftstellers

D-Day für Doderer: Am 21. September diskutieren Otto Brusatti und Helmut Schneider über Musik im Werk des Großschriftstellers. Chris Pichler liest ausgewählte Stellen.

Heimito von Doderer, 1966 verstorben, war gewiss einer der eigenständigsten Autoren, die Wien je hervorgebracht hat. Wienlive und das echo medienhaus erinnern seit 2021 alljährlich am 21. September – das ist der Tag, an dem sein bekanntestes Werk, „Die Strudlhofstiege“, spielt und mit einem brutalen Unfall mit einer Straßenbahn beginnt – an diesen Schriftsteller, der in der Nachkriegszeit als der Dichter Österreichs galt. Heuer, beim 4. D-Day für Doderer, geht es mit dem Autor, Regisseur, Ausstellungsmacher und Musikexperten Otto Brusatti um „Musik, Lärm und Stille“ im Werk von Heimito von Doderer. Die Schauspielerin Chris Pichler wird ausgewählte Stellen lesen, wienlive-Chefredakteur Helmut Schneider wird moderieren.

Musik. Doderer war ein großer Bewunderer Beethovens, auf seinem Schreibtisch stand stets eine Partitur der 7. Symphonie. Sein letztes, unvollendet gebliebenes Romanprojekt nannte er im Tagebuch nach seiner Lieblingssymphonie
„Roman No 7“ – davon wurde nur der Teil „Die Wasserfälle von Slunj“ veröffentlicht, „Der Grenzwald“ erschien posthum als Fragment. Nach dem Erscheinen des Monumentalwerks „Die Dämonen“ war Doderer der bekannteste Schriftsteller Österreichs, sogar der SPIEGEL widmete ihm ein Cover.
Brusatti: „Doderer war auch ein heimlicher Musikstrukturalist – wie viele andere und vor allem in der öster-reichischen Literatur, wie Ingeborg Bachmann oder Thomas Bernhard. Er baute musikalische Formen ein, in seine Texte. Man merkt es vorerst kaum, man soll es zumeist auch gar nicht merken.“ Dazu gibt es passende Musik aus der Konserve. Die Buchhandlung analog wird vor Ort einen Büchertisch aufstellen.

INFO: 21. 9. 24, 19 Uhr, Café Landtmann, freier Eintritt, keine Reservierung möglich

Schriftsteller Bodo Hell verschollen

Foto: Stefan Joham

Der österreichische Schriftsteller Bodo Hell wurde das letzte Mal am 9. August frühmorgens im Gebiet des Dachsteins gesehen. Seither fehlt von ihm jede Spur, die großangelegte Suche nach ihm wurde wiederholt abgebrochen. Hell arbeitete seit Jahrzehnten dort immer im Sommer als Senner und Hirte, es ging ihm nicht um den bescheidenen Lohn – die Arbeit im Gebirge, der Aufenthalt in der Natur, war für den 1943 in Salzburg geborenen Autor ein Lebenselixier. Nie vergaß er bei unseren Treffen auch in Wien Kostproben vom Berg mitzubringen. Überhaupt kann man sich keinen lebensfroheren und offeneren Schriftsteller vorstellen – eine Begegnung mit ihm war immer eine Freude.

Wir hoffen natürlich noch immer auf eine glückliche Wendung.

Anlässlich seines 80. Geburtstags erschien im wienlive 2023 folgendes Porträt: 

Beim letzten Treffen zeigte mir Bodo Hell, wie er beim Melken in die Hocke gehen müsse – und das im Sommer täglich am Dachstein auf der 1.300 Hektar großen Alm mit weit mehr als 100 Kühen und einigen Ziegen. Auf die Frage, wie es ihm kurz vor seinem 80er gehe, antwortet er: „Die Frage ist nicht, wie es mir geht, sondern wie meine Beine gehen. Solange die gehen, gehe ich mit.“

Auch heuer will er daher wieder den Sommer auf der Grafenbergalm verbringen – sein 45. Einsatz im Dienste der Almwirtschaft. Hell: „Es ist mein Jungbrunnen, obwohl ich das Jahr zweimal erlebe, denn wenn ich im Juni raufkomme, ist dort noch Frühling.“

Dieses karge Leben – anfangs noch ohne Strom und auch heute noch nicht durchgehend mit Handyempfang – voller körperlicher Arbeit in der Natur und mit den Tieren, hat natürlich auch das Werk des in Salzburg geborenen und in Wien lebenden Autors beeinflusst. Hell studierte zunächst Orgel beim Salzburger Domorganisten Franz Sauer, sah dann aber, dass eine professionelle Musikkarriere mit seiner Leidenschaft für Literatur unvereinbar wäre. In Wien landete er an der Uni und in der damals noch erzkonservativen Filmakademie. Er machte auch einige Filme – etwa den kurzen Streifen „13A“. Der 13A war damals noch ein Doppeldeckerbus.

Hell: „Der 8-Minuten-Film, der auch in Saarbrücken gezeigt wurde, hatte schon den Zusammenhang mit Lesen und der Bedeutung von Wörtern, die ich im Stadtbild vorgefunden habe.“ Gerne bezeichnet er sich nämlich selbst als „Schriftenleser und Wortklauber“ – der Übergang von der fast schriftlosen Alm zum schriftüberfluteten Wien ist jedesmal eine Herausforderung. Aber Spuren und Zeichen findet Hell natürlich auch in der Natur. Carl von Linnés „Lappländische Reise“ von 1737, in der Übersetzung von H. C. Artmann, ist ihm da ein wichtiger Führer. Hell: „Heute findet man ja viel im Netz und in Buchhandlungen, aber früher war ich Tage in den Bibliotheken.“ Auch sein neuestes Buch „begabte Bäume“ ist alphabetisch geordnet – von Ahorn bis Zirbe.

Ausgehend von den Pflanzen entspannen sich da auch viele Geschichten – in der letzten wird etwa der traurige Fall eines Kindesmissbrauchs durch einen Mönch berichtet.

Neben hunderten Büchern – meistens erscheinen 2 pro Jahr! – verwirklichte Bodo Hell auch Opern- und Theaterprojekte. Markus Kupferblum realisierte etwa die Dschungeloper „Anfechtungen! San Ignacio“. Basierend auf einer originalen bolivianischen Barockoper schrieb Hell einen neuen Text um einen Tiroler Pater, der den Indios zeitgenössische Musik vermitteln wollte.

Obwohl Hell vielgereist ist, findet er auch auf seiner Alm immer wieder Plätze, wo er noch nie hingekommen ist. Meist auf der Suche nach einem ausgebüchsten Vieh. In der Hütte trifft man ihn daher nur selten an, denn er ist meistens unterwegs. Beobachten kann er dort oben auch die Auswirkungen der drohenden Klimakatastrophe. Der Gletscher ist etwa schon fast weg, die früher begehrten Loipen für’s Sommer-Höhentraining werden immer kürzer. Und die Stützen für den Lift werden mit Schnee bedeckt, damit sie nicht den Halt verlieren.

Ab und zu kreuzen verirrte Touristen seinen Weg, die in die falsche Richtung unterwegs sind. Dafür wird sein Grätzel in Wien in der Josefstadt immer mehr zum Dorf. Hell: „Es werden mehr Bäume gepflanzt – mit den Stadtbäumen müsste ich mich auch einmal beschäftigen.“ Sein Lieblingsbuchhändler Reinhold Posch war ursprünglich Botaniker und macht im Winter für Interessierte Knospenspaziergänge durch Wien, weiß der Autor schon eine Wissensquelle.


bodohell.at


Bodo Hell: begabte Bäume, mit Zeichnungen von Linda Wolfsgruber
Literaturverlag Droschl
216 Seiten
€ 25,-

Foto: Stefan Joham

Ein Autor sucht nach seiner Herkunft – Kurt Palm: Trockenes Feld

Kurt Palm kennt man als umtriebigen Regisseur – er machte mit Phettberg etwa die „Nette Leit Show“, Sachbuchautor und erfolgreichen Krimiautor – „Bad Fucking“ wurde auch verfilmt und für seinen ungewöhnlichen Krimi „Der Hai im System“ erhielt er den Leo-Perutz-Preis. Schon lange in Wien Neubau lebend, stammt er aus dem oberösterreichischen Neukirchen an der Vöckla. Seine Eltern waren da aber als Vertriebene lange Zeit staatenlos, sie gehörten einer Minderheit im heutigen Kroatien an und lebten im heute verfallenen Ort Kapan, was damals Slawonien genannt wurde, der größere Ort daneben Suhopolje heißt übersetzt „Trockenes Feld“ – das ist der Titel von Palms Familienbuch. Als die Deutschen Ende des Weltkrieges vor den Partisanen zurückwichen, mussten Pals Verwandte „Heim ins Reich“, kamen aber nur bis Oberösterreich, wo sich Palms Vater als Hilfsarbeiter durchschlagen musste. Der Roman ist jetzt eine Art Spurensuche, denn die meisten Angehörigen und Zeitzeugen sind bereits gestorben. Und nach dem Krieg waren bekanntlich alle daran interessiert, die Jahre der Katastrophen zu vergessen – das Thema war für Nachkommen tabu.

„Trockenes Feld“ ist bestimmt keine Autobiografie, Kurt Palms Werdegang kommt zwar vor, steht aber nicht im Mittelpunkt. Vielmehr fragt sich der Autor, wie seine Eltern die schweren Schicksalsschläge meistern und dabei ihren Kindern eine beste Ausbildung ermöglichen konnten. Vieles aus der Kriegszeit muss dabei im Dunklen bleiben. Palms Vater wurde für die SS Polizei zwangsrekrutiert, hatte aber das Glück, nicht an der Ostfront kämpfen zu müssen. Eine relativ leichte Verwundung rettete ihm wahrscheinlich das Leben. In Kapan wäre er hingegen von den Partisanen ermordet worden. In Österreich tut die Familie alles, um möglichst schnell als Einheimische zu gelten. Bis zum Speiseplan orientiert man sich an den Nachbarn. Das Buch ist auch die Geschichte einer Assimilation von Staatenlosen in Österreich und erzählt viel über die politische Stimmung nach dem verlorenen Krieg.

Eine zentrale Rolle spielt auch die Tragödie von Kurt Palms Bruder Reinhard. Der erfolgreiche Dramaturg und Übersetzer nahm sich 2014 im Alter von 56 Jahren im Wald von Neuwaldegg das Leben – der Selbstmord schien sorgfältig vorbereitet.

„Trockenes Feld“ ist der Versuch, Herkunft aufzuarbeiten. Besonders spannend ist etwa der Besuch des Autors mit seiner Schwester in Kapan, das heute kaum mehr besteht. Sie treffen da auf einen Einheimischen, der ihnen Gräueltaten der Wehrmacht erzählt. Ein wichtiges und interessantes Buch für alle, die an der verdrängten Geschichte Österreichs und Jugoslawiens interessiert sind.


Kurt Palm: Trockenes Feld
Leykam
304 Seiten
€ 25,50

Roman über eine zerbrochene Familie in England – Jahreszeiten

Ein Leben auf dem Lande, Gemüse pflanzen und verkaufen, ein ideales Umfeld für die gerade geborenen Zwillinge Sonny und Max – das erschien Tess und Richard das ideale Dasein. Doch im Süden Englands stört gar vieles das Idyll. Tess, deren Mutter aus Jamaika stammt, wenngleich sie in London aufgewachsen ist und sich als Großstädterin fühlt, ist die einzige Schwarze im Dorf, in dem die Familie von Max tief verwurzelt ist. Und dass die Söhne Zwillinge sind, ziehen manche in Zweifel, denn Sonny ist schwarz, Max weiß.

Fiona Williams lässt alle vier Familienmitglieder erzählen, wenngleich Richard nicht in der auktorialen Form. Und sie verwendet eine blumige Sprache, ergeht sich in Naturschilderungen, die freilich nur den Hintergrund für eine wenig idyllische Geschichte bilden. Denn Sonny ist im Fluss ums Leben gekommen, wobei die Tragödie nur indirekt aufscheint, denn der Ertrunkene spricht weiter und sein Bruder hält auch Zwiesprache mit ihm. Richard kapselt sich vollkommen in sein Gewächshäusern ab und trinkt zu viel während Tess ihre Heimatlosigkeit immer mehr spürt. Ihre Mutter will ihren Lebensabend in Jamaika verbringen, die Schwester rät ihr, Richard zu verlassen.

Die Autorin ist in Südlondon aufgewachsen, hat eine Farm in Australien betrieben, in Singapur gewohnt und lebt mittlerweile mit ihrer Familie in den Somerset Levels, einem Feuchtgebiet im Südwesten Englands. Es gelingt ihr in „Jahreszeiten“ ganz gut, die Stimmungen im Landhaus der Familie zu schildern. Ein bisschen mehr Klarheit hätte dem Werk aber gut getan.


Fiona Williams: Jahreszeiten
Aus dem Englischen von Maria Hummitzsch
S. Fischer
350 Seiten
€ 24,00

Wilde Jahre in L.A. – Eve Babitz: Sex & Rage

Die 2021 verstorbene Eve Babitz ist auf einem der berühmtesten Fotos der Kunstgeschichte zu sehen: 1963 ließ die 20-Jährige sich von Julian Wasser nackt beim Schachspiel mit Marcel Duchamp fotografieren. Der Maler ist natürlich voll angezogen – heute wäre eine solches Setting wohl undenkbar. Aber die Tochter eines Musikers und einer Künstlerin – ihr Patenonkel hieß Igor Strawinski. Sie war in den 60er-Jahren die Verkörperung einer freien Frau, das It-Girl der Hippie-Ära, wenn man so will. Sie schrieb für den »Rolling Stone«, gestaltete Plattencover, und traf Stars wie Harrison Ford, Jim Morrison, Steve Martin oder Frank Zappa und Salvador Dalí. Sie war Künstlerin, begann aber auch schon früh zu schreiben. Vor etwa 10 Jahren wurden ihre Bücher in den USA und dann auch in deutscher Übersetzung wieder aufgelegt. Babitz soll dazu gesagt haben: „Früher mochten mich nur Männer, heute sind es nur die Frauen.“ Der jetzt bei S. Fischer erschienene Roman „Sex & Rage“ aus dem Jahr 1979 erklärt vielleicht warum.

Im Zentrum steht eine junge Frau, die natürlich an die Autorin erinnert. Jacaranda wächst in L.A. auf, genauer dort am Strand, in Santa Monica – der Stadtmoloch ist schon damals eine Aneinanderreihung von Vierteln, die vielfach wie Dörfer funktionieren. Samt Misstrauen den Nachbarn gegenüber. Eine Frau erklärt etwa, sie sei noch nie südlicher als den Huntington Beach gekommen, der selbstverständlich noch zu Los Angeles gehört. Jacaranda ist begeisterte Surferin und Drogenkonsumentin, pflegt diverse Liebschaften und kümmert sich wenig um ein geregeltes Einkommen. Ab und zu bemalt sie Surfboards gegen Barzahlung oder schreibt für Szenemagazine. Die Handlung des Romans ist aber nicht wirklich entscheidend, es geht vielmehr um das Lebensgefühl dieser Zeit. Als Jacaranda plötzlich eine toughe Agentin hat, die sie in einer Bar aufgelesen hat, soll sie nicht nur ein Buch schreiben, sondern zur Promotion desselben nach New York kommen. Das erscheint ihr wie eine Reise zu einem anderen Planeten. Außerdem ist sie bereits schwere Alkoholikerin. Als sie dann tatsächlich ein Flugzeug besteigt ist das gleichzeitig ihr Entzug.

Eve Babitz erzählt witzig aber in einer Mischung aus Selbstbewusstsein und Versagensängsten – womit sie natürlich völlig ihrer Protagonistin entspricht. Ein Roman der sich natürlich besonders für den Sommer empfiehlt.


Eve Babitz: Sex & Rage
Aus dem amerikanischen Englisch von Hanna Hesse
S. Fischer
270 Seiten
€ 24,00

Musik, Lärm und Stille bei Heimito von Doderer – der 4. D-Day für Doderer am 21. September im Café Landtmann

©Creative Commons (BY-SA 4.0)

Heimito von Doderer, 1966 verstorben, war gewiss einer der eigenständigsten Autoren, die Wien je hervorgebracht hat. Wienlive und das echo medienhaus erinnern seit 2021 alljährlich am 21. September – das ist der Tag, an dem sein bekanntestes Werk „Die Strudlhofstiege“ spielt und mit einem brutalen Unfall mit einer Straßenbahn beginnt – an diesen Schriftsteller, der in der Nachkriegszeit als der Dichter Österreichs galt. Am D-Day für Doderer wird über ihn und sein Werk im Rahmen einer Veranstaltung mit Gästen diskutiert. 

Heuer, beim 4. D-Day für Doderer, geht es mit dem Autor, Regisseur, Ausstellungsmacher und Musikexperten Otto Brusatti um „Musik, Lärm und Stille“ im Werk von Heimito von Doderer. Die Schauspielerin Chris Pichler wird ausgewählte Stellen lesen, Wienlive-Chefredakteur Helmut Schneider wird moderieren.

Doderer war ein leidenschaftlicher Bewunderer Ludwig van Beethovens, auf seinem Schreibtisch stand stets eine Partitur der VII. Symphonie und er behauptete sogar, täglich darin zu lesen. Sein letztes, unvollendet gebliebenes Romanprojekt nannte er im Tagebuch Roman No 7. – davon wurde nur der Teil „Die Wasserfälle von Slunj“ veröffentlicht, „Der Grenzwald“ erschien posthum als Fragment. Brusatti: „Doderer war auch ein heimlicher Musikstrukturalist  – wie viele andere und vor allem in der österreichischen Literatur, wie Ingeborg Bachmann etwa oder Thomas Bernhard. Er baute musikalische Formen ein, in seine Texte. Man merkt es vorerst kaum, man soll es zumeist auch gar nicht merken.“

Bezeichnend war auch, dass er seine frühen Erzählungen Divertimenti nannte – ein Ausdruck aus der Musik für unterhaltsame Stücke. Auch darüber wird beim D-Day gesprochen werden, besonders über die Erzählung „Die Posaunen von Jericho“, in der Verdis Triumphmarsch aus „Aida“ für einen derben Streich herhalten muss.

Bekannt ist auch, dass Doderer in seinen Romanen viel mit dem Gegensatz Stille und Lärm arbeitet – namentlich die Straßenbahnen verbreiten etwa in der „Strudlhofstiege“ gehörigen Lärm. Im Roman „Die Dämonen“ werden etwa die Revolutionsversuche rund um den Justizpalast oder dann – vice versa – die Schilderungen über psychische Probleme mancher Protagonisten von geschilderten Klang-Spuren begleitet.

Dazu gibt es an diesem Abend kurze Musikstücke (W.A. Mozart) aus der Konserve zu hören. Die Buchhandlung analog wird wieder vor Ort einen Büchertisch aufstellen.

21. September, 19 Uhr, D-Day für Doderer – Café Landtmann, Universitätsring 4, 1010 Wien, Eintritt frei – Anmeldung ist nicht nötig!


Szenen des US-Alltags – „Der Spielzeug-Sammler“ von James McBride

Der in einer New Yorker Sozialsiedlung aufgewachsene James McBride ist bei uns nicht so bekannt wie es ihm gebühren würde. Dabei ist er einer der Lieblingsschriftsteller Barack Obamas und schon viele Auszeichnungen erhalten. In seinem Erzählband „Der Spielzeug-Sammler“ stellt er seine Meisterschaft unter Beweis. Alle Stories sind gut gebaut und sprachlich exzellent. Trotz der zum Teil erschütternden Szenen blitzt bei ihm immer wieder Humor und eine Liebe zu seinen Figuren durch.

In der Titelgeschichte will ein jüdischer Händler einem in Armut lebenden Priester einen wertvollen Spielzeugzug abkaufen, ohne ihn zu übervorteilen. Nach dem Deal stößt er aber auf das Doppelleben des Geistlichen. Besonders eindrucksvoll sind die Geschichten über eine Band – „The Five-Carat Soul Bottom Bone Band“ – in einem heruntergekommenen höchst gefährlichen Viertel in der ehemaligen Stahlstadt Pittsburgh. Und in gleich mehreren Stories führt uns James McBride in de Zeit des Amerikanischen Bürgerkriegs. Aber es gibt auch Phantastisches: Im Fegefeuer steigt ein Boxer tatsächlich gegen den überheblichen Teufel noch einmal in den Ring und in den letzten Seiten des Bandes erzählt ein Löwe von Problemen in einem Zoo.


James McBride: Der Spielzeugsammler
Aus dem Amerikanischen von Werner Löcher-Lawrence
Btb
320 Seiten
€ 24,70

12 neue Geschichten von Stephen King

Stephen King ist nicht nur einer der erfolgreichsten Autoren aller Zeiten, der 78-jährige ist auch der am besten konsumierbare Chronist der amerikanischen Alltagsgeschichte. Kaum ein popkulturelles Phänomen, das er nicht in Horror umgewandelt hätte – man denke etwa nur an bösartige Straßenkreuzer, mordende Haustiere oder gemobbte Teenager, die plötzlich Superkräfte haben. Der Vielschreiber wird ein Werk hinterlassen, das eine Bibliothek füllen könnte. Im neuen Erzählband sind die meisten Protagonisten bereits im Alter des Autors, wir bekommen also eine Menge typisch amerikanische Biografien geliefert. Der Titel  „You want it darker“, also: „Ihr wollt es dunkler“ – ist eine Referenz an Leonard Cohens letztes Studioalbum, veröffentlicht zwei Wochen vor dem Tod des kanadischen Sängers und Songwriters.

In „Zwei begnadete Burschen“ scheint der Autor über Talent nachzudenken. Es geht darin um zwei durchschnittlich begabte Freunde in einer Kleinstadt, die nach einer unheimlichen Begegnung bei der Jagd plötzlich zum Starautor und zum Starmaler werden. Aber was haben sie im Wald gesehen?

Einzelne Geschichten erreichen fast Romanlänge. So bewohnt in „Klapperschlangen“ ein pensionierter Werber nach dem Krebstod seiner Frau die einsame Villa eines reichen Freundes im Sommer in Florida, wo er auf eine Nachbarin trifft, die immer einen quietschenden Kinderwagen dabei hat, in der sie ihre Zwillinge spazieren führt – die sind allerdings bereits seit 40 Jahren tot, umgekommen durch das Gift von Klapperschlangen. Meisterhaft baut Kind hier Spannung auf, nach und nach begreifen wir, dass der Mann Sympathien für die schrullige Nachbarin entwickelt, denn sein Sohn starb im selben Alter wie die Zwillinge.

„Die Träumenden“ spielt in den 70er-Jahren und entwickelt sich zu einer Horrorgeschichte im Stil von Lovecraft. Der Protagonist ist ein Mann, der soeben von seinem Einsatz in Vietnam zurückgekommen ist.

„Der Antwortmann“ ist quasi die Summe amerikanischer Biografien, gespiegelt durch eine Art Hellseher, der seine Dienste nur an ausgewählten Tagen und Orten anbietet. Ein Anwalt scheitert immer wieder an den richtigen Fragen. King hatte diese Geschichte vor Jahrzehnten begonnen, aber erst jetzt fertiggestellt, wie er im Nachwort erzählt, in dem auch seine bemerkenswerte Analyse über seine Leser steht: „Horrorgeschichten werden besonders von Leuten geschätzt, die mitfühlend und empathisch sind.“ Da fühlt man sich doch gleich besser!


Stephen King: Ihr wollt es dunkler
Übersetzt aus dem Englischen von: Wulf Bergner, Jürgen Bürger, Karl-Heinz Ebnet, Gisbert Haefs, Marcus Ingendaay, Bernhard Kleinschmidt, Kristof Kurz, Gunnar Kwisinski, Friedrich Sommersberg und Sven-Eric Wehmeyer
Heyne Verlag
736 Seiten
€ 29,50