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Die Aufzeichnungen der 1943 in Moskau geborenen Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja „Die Erinnerung nicht vergessen“ können natürlich nicht Wissenslücken füllen, das Büchlein trägt aber einiges an Verständnis bei.

Russland verstehen – Ljudmila Ulitzkajas Aufzeichnungen „Die Erinnerung nicht vergessen“

Wir wissen leider fast nichts über die Ukraine, und viel zu wenig über Russland. Zwar werden gerade jetzt massenweise Vermutungen über den Geistes- und Gesundheitszustand Putins verlautet, die Geschichte des europäischen Ostens ist freilich für die meisten Europäer noch immer ein Weißer Fleck. Die Aufzeichnungen der 1943 in Moskau geborenen Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja „Die Erinnerung nicht vergessen“ können natürlich nicht Wissenslücken füllen, das Büchlein trägt aber einiges an Verständnis bei – gerade weil es den sehr subjektiven Blick einer russischen Intellektuellen auf ihr Leben beisteuert. Aus einer jüdischen Familie stammend und nach einem Biologiestudium als Laborantin arbeitend verkehrte Ulitzkaja immer in oppositionellen Kreisen. Bis zu Stalins Tod war die Sowjetunion schwer antisemitisch, aber auch danach hatten Juden jede Menge Schwierigkeiten im Alltag. Doch unter der Mangelwirtschaft litten alle. So erzählt Ulitzkaja von Wintermänteln, die Jahre „aufgebaut“ – man sparte also die Einzelteile zusammen – und dann von ganzen Generationen getragen wurden, bis sie schließlich noch in einer Puppentheaterbühne Verwendung fanden. Das einzig Gute in der Sowjetunion war das Erleben von Solidarität unter Freunden – man half sich andauernd gegenseitig aus. Interessant auch die Stellung der orthodoxen Kirche, die damals noch – zumindest teilweise – in Opposition zu den Herrschenden stand, während sie heute bekanntlich voll auf Putins Kriegskurs ist. Ulitzkaja lebt zur Zeit – mit fast 80 Jahren – in Berlin, denn nach dem Überfall auf die Ukraine sah die putinkritische Autorin in Moskau keine Möglichkeiten mehr. Sie notiert: „Der Wahnsinn eines Mannes und seiner ihm ergebenen Handlanger bestimmt das Schicksal des Landes. Wir können nur vermuten, was darüber in fünfzig Jahren in den Geschichtsbüchern stehen wird. Schmerz, Angst und Scham – das sind die Gefühle. Schmerz – weil der Krieg Lebendiges trifft – das Gras und die Bäume, die Tiere und ihre Nachkommen, die Menschen und ihre Kinder.“

Die Eliten hätten allerdings schon vorher Russland verlassen, der Krieg habe diese Bewegung aber verstärkt, erzählt sie. Denn der Totalitarismus begann nicht ohne Vorzeichen. So wurde die nach dem Ende der Sowjetunion einsetzende Aufarbeitung der Verbrechen des Regimes von Putin jäh gestoppt und Archive wieder geschlossen oder deren Finanzierung verhindert.  

Es geht freilich in diesem Buch nicht nur um Politik. Ulitzkaja beschreibt durchaus auch selbstkritisch ihre Ehen und Lieben – viele ihrer Lebensgefährten sind allerdings inzwischen gestorben, ihr Mann – ein Künstler – ist mit ihr nach Berlin gezogen. Sehr lange diskutiert sie mit sich selbst den Begriff der Freiheit – etwas, das die Menschen in Russland bisher kaum erleben durften. Man merkt dem nüchternen Ton durchaus an, dass Ulitzkaja ursprünglich aus der Wissenschaft kam. Die präzisen Unterscheidungen und Abgrenzungen machen „Die Erinnerung nicht vergessen“ zu einem klugen, erhellenden Buch.


Die Aufzeichnungen der 1943 in Moskau geborenen Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja „Die Erinnerung nicht vergessen“ können natürlich nicht Wissenslücken füllen, das Büchlein trägt aber einiges an Verständnis bei.

Ljudmila Ulitzkaja: Die Erinnerung nicht vergessen
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt und Christina Links
Hanser
192 Seiten
€ 23,70

Die 1981 in den USA geborene und jetzt in Pasadena bei L.A. lebende Tochter eines jüdischen Iraners und einer kroatischen Mutter wurde mit ihrer Darstellung menschlicher Abgründe – gebrochen durch einen feinen Humor – zu einer der angesagtesten Autorinnen weltweit.

Grausame Welt – Ottessa Moshfeghs düsterer Roman Lapvona

Die 1981 in den USA geborene und jetzt in Pasadena bei L.A. lebende Tochter eines jüdischen Iraners und einer kroatischen Mutter wurde mit ihrer Darstellung menschlicher Abgründe – gebrochen durch einen feinen Humor – zu einer der angesagtesten Autorinnen weltweit. Schon Moshfeghs erster Roman „McGlue“ über einen alkoholkranken Seemann, der sich an einen Mord nicht erinnern kann, erhielt Auszeichnungen. Berühmt wurde sie 2018 mit ihrem Roman „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ in dem sich eine junge Frau mithilfe von Medikamenten in eine Art Winterschlaf begibt. Für manche eine Vorahnung von Corona.

Ihr neuestes Buch „Lapvona“ ist gänzlich anders. Entstanden am Beginn der Pandemie, noch unter Trumps Präsidentschaft und – wie sie in einem Interview sagte – als „Reaktion auf das, was gerade vor sich ging“, treffen wir in diesem Roman auf eine Art mittelalterliche Gesellschaft des Dorfes Lapvona, das von dem verrückten Adeligen Villiam, der oben auf seinem Schloss hockt, beherrscht wird. Man mag da an Kafkas unvollendeten Roman denken, doch Moshfeghs Personal ist wesentlich grausamer und weniger geheimnisvoll. Die Bauern sind dumm und lehnen sich nicht einmal in einer durch Dürre ausgelösten Hungersnot gegen die ausplündernde Obrigkeit auf. Da fressen sie lieber ihre eigenen Toten. Dass auch die Katastrophen wie die Überfälle der Räuber und die Wasserknappheit von oben gesteuert werden, schnallen sie nicht.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht der 13-jährige Marek. Er hilft – leider völlig verkrüppelt und hässlich – seinem Vater Jude bei der Schafzucht. Die Schläge seines Vaters erträgt er gerne, denn durch sein Leiden glaubt er sich näher bei Gott. Dabei ist Religion – wie es bei Marx heißt – buchstäblich das Opium des Volkes – obschon der Pfarrer alles andere als bibelfest ist und den Rest seiner Ausbildung in Trinkgelagen mit dem Fürsten Villiam wegsäuft. Marek freundet sich mit dem Sohn des Fürsten an, dem es im Schloss zu langweilig ist und der gerne in der Gegend herumstreift. Beim Aufstieg auf einen Berg bewirft ihn Marek allerdings mit einem Stein, worauf dieser zu Tode stürzt. Doch statt den geständigen Marek zu bestrafen, nimmt ihn Villiam als seinen neuen Sohn im Schloss auf – die Handlung wird immer absurder. Intrigen der Dienerschaft und eine Amme mit Zauberkräften vervollständigen das Bild einer verrückten Gesellschaft, in der nur eines sicher scheint: Man kann sich auf nichts und niemanden verlassen. Am Ende wird Marek der neue – allerdings von den Nachbarreichen nur als Statthalter geduldete – Herrscher.

Was man anfangs noch mit Erstaunen und Interesse verfolgt, wird dabei nach und nach immer beliebiger. Vor allem gibt es in diesem Roman keine positive, sympathische Figur, an deren Schicksal man Anteil nehmen könnte. Wozu Mitleid haben mit all diesen Widerlingen? Mann kann das alles natürlich als Allegorie auf den Wahnsinn unserer Zeit lesen, aber so hoffnungslos wie in dieser Gesellschaft mag man sich die Gegenwart nur ungern denken. Ein Roman als Maßstab dafür, was uns drohen könnte?


Die 1981 in den USA geborene und jetzt in Pasadena bei L.A. lebende Tochter eines jüdischen Iraners und einer kroatischen Mutter wurde mit ihrer Darstellung menschlicher Abgründe – gebrochen durch einen feinen Humor – zu einer der angesagtesten Autorinnen weltweit.

Ottessa Moshfegh: Lapvona
Hanser Berlin
336 Seiten
€ 26,80

Gott & Physik – Franzobels Roman „Einsteins Hirn“ über den Pathologen Thomas Harvey

„Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten“ schreibt Karl Kraus im Vorwort zu „Die letzten Tage der Menschheit“. Und dass fällt einem sofort ein, wenn man Franzobels neuen Roman „Einsteins Hirn“ liest. Denn vieles, was Franzobel auf fast 450 Seiten berichtet, klingt phantastisch, ist aber so geschehen. Dass der Pathologe Thomas Harvey im Spital in Princeton Albert Einsteins Gehirn entgegen dem Wunsch des Physikers entnahm und aufbewahrte, ist etwa schon lange bekannt. Auch dass Einstein eine russische Geliebte hatte, die ihn ausspionierte, ist nicht erfunden. Genauso, dass einer von Einsteins Söhnen in der Schweiz in einem Irrenhaus lebte. Und der Ort, wo Einsteins Asche verstreut wurde, ist tatsächlich unbekannt.

Franzobel wäre aber nicht Franzobel, wenn ihm zu der wundersamen Geschichte von Einsteins Gehirn nicht noch zusätzlich Wundersames eingefallen wäre. Er konzentrierte sich dabei auf das Leben des an sich ziemlich faden Pathologen Thomas Harvey. Denn dieser ist ein bekennender Quäker und nimmt für sich in Anspruch, ein rechtschaffener Mensch zu sein. Aber gerade zu ihm – und nur zu ihm – beginnt Einsteins Hirn zu sprechen. Zunächst sogar in Schweizerdeutsch. Das kann er natürlich niemandem erzählen obwohl er ja behauptet hatte, Einsteins Denkorgan wissenschaftlich untersuchen zu wollen – wozu Harvey allerdings gänzlich die Ausbildung fehlt. Harvey will Einstein zu Gott bekehren, stößt dabei aber auf Granit. Selbst eine jüdische Dämonenaustreibung, ein muslimischer Kaufmann und diverse andere Kulte können Einstein nicht für Gott begeistern.

Doch die eigentliche erzählerische Kunst Franzobels besteht darin, Figuren um Harvey einzuführen, deren Geschichte bis zum Schluss spannend bleibt. Da ist etwa Harveys spröde Geliebte Gretchen, die später als lesbische Umweltschützerin die ganze Nation nervt und schließlich erschossen wird. Da sind zwei russische Gauner, die in vielen Rollen auftauchen, um den Menschen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Oder Einsteins schrulliger Nachlassverwalter in New York, ein merkwürdiger Psychiater, diverse Direktoren und nicht zuletzt Harveys Ehefrauen. Die ersten zwei sind herrisch und ertragen es nicht, dass ihr Mann soviel Zeit mit einem an Kimchi erinnerndes Gewebe verbringt. Die letzte ist eine gutmütige Optimistin, die das Pech hat, der Demenz zu verfallen. Dabei muss Harvey einen rasanten sozialen Abstieg erleben – er verliert nach und nach immer wieder seine Jobs und sogar seine Zulassung als Arzt, um als Fabrikarbeiter zu enden. Bis zuletzt muss er malochen, um seine Unterhaltszahlungen erfüllen zu können.

Aufgepeppt wird der Roman auch dadurch, dass Harvey – von Franzobel auch gern nach dem Film „Mein Freund Harvey“ „der weiße Hase“ genannt – wie Forrest Gump bei geschichtsträchtigen Ereignissen dabei ist oder sie zumindest im TV mit Einsteins Kommentaren erlebt. So stolpert er in New York, weil er eine Straße überqueren will, in eine Bürgerrechtsdemo und hält da sogar eine Rede vor verblüfften Schwarzen. Als er ein paar Hippies nach Woodstock fährt, erlebt er einen veritablen Drogenrausch. Harvey kommt sogar nach Moskau, wo ihm die altgewordene Geliebte des Physikers die Weltformel präsentiert, die sich schließlich als eine Art Matrix-Warnung herausstellt. Am Ende freundet er sich mit einem seltsamen Nachbarn – ausgerechnet der Beatnik-Dichter William S. Burroughs – an und geht mit ihm in eine Ausstellung. Das gibt Franzobel Gelegenheit – vielleicht etwas zu überzeichnet – sich über die verblödete Kunstszene lustig zu machen.

Der Roman liest sich wunderbar leicht – einzig die Figur eines FBI-Agenten, der Harvey beschatten soll und schließlich im Irrenhaus endet, wo der Pathologe kurzfristig arbeitet, scheint völlig unnötig. Das hätte Franzobel gar nicht nötig gehabt angesichts seiner Fülle an verrückten Figuren.


Franzobel: Einsteins Hirn
Zsolnay
544 Seiten
€ 28,80

24 Stunden vor Kriegsbeginn – Raphaela Edelbauers neuer Roman über 3 junge Menschen in Wien vor dem 1. Weltkrieg

24 Stunden vor Kriegsbeginn – Raphaela Edelbauers neuer Roman über 3 junge Menschen in Wien vor dem 1. Weltkrieg

Die 1990 geborene Wienern Raphaela Edelbauer konnte mit ihren Romanen bisher immer überraschen. In ihrem ersten Erfolg „Das flüssige Land“ geht es um Provinzialismus und ein plötzlich auftretendes Loch, das einen Ort zu verschlingen droht, der Roman „Dave“ mit dem sie den Österreichischen Buchpreis gewann behandelt das Thema künstliche Intelligenz in einer nicht allzu fernen Zukunft und im neuesten Werk „Die Inkommensurablen“ begleitet sie drei junge Menschen am Beginn des 1. Weltkrieges in Wien.

Hauptperson ist der erst 17jährige Bauernknecht Hans Ranftler, der aus seiner Quasi-Leibeigenschaft in Tirol nach Wien flüchtet, um die Psychoanalytikerin Helene Cheresch aufzusuchen, die sich mit Massenhysterie beschäftigt. Denn Hans, der sich – gezwungen die Schule zu verlassen – seine Bildung von einem Vikar geholt hat,  glaubt, dass seine Gedanken andere beeinflussen. Völlig mittellos kommt er zu ihrer Praxis, erhält sogar einen Termin für ein Gespräch am nächsten Tag und lernt vor dem Haus Klara und Adam kennen. Sie ist die erste Frau, die an der Universität vor ihrem Abschluss in Mathematik steht, er ist der pazifistische Abkömmling einer Offiziersfamilie dessen Interesse der Musik gilt. Die folgenden Stunden, in denen sie durch ein durch den kommenden Krieg völlig aus der Bahn geratenes Wien streifen, bilden den Roman. Die Inkommensurablen – also die Unbestimmbaren – sind sie selbst, aber auch das Hauptthema von Klaras Doktorarbeit über die schwer fassenden Zahlen neben den natürlichen Zahlen. Klaras Rigorosum, ihr durch kriegslüsterne Kommilitonen gestörter Vortrag in der Universität, ist sozusagen der Höhepunkt des Buches.

Raphaela Edelbauer versucht sich an einem Porträt Wiens knapp vor Kriegsbeginn – die jungen Männer sind bereits trunken vom Krieg, überall werden Adam und Hans gefragt, ob sie sich schon in der Rossauer Kaserne für den Kriegsdienst angemeldet haben. Adam ist klar, dass er als Offizier sich dem Krieg wohl nicht entziehen kann. Von Kindheit an wurde er von seinem Vater darauf vorbereitet. Das Trio muss einem Diner im Palais seiner Eltern mit den Militärberatern des Kaisers beiwohnen – Hans und Klara sind klare Außenseiter, denn auch Klara hat einen proletarischen Familienhintergrund in Favoriten. Edelbauer führt uns auch dorthin, denn Klara muss noch vor dem Rigorosum Dokumente abholen. Inzwischen wohnt sie längst bei Helene Cheresch, sie ist lesbisch – damals eine Provokation. Auch eine Bar auf der Wienzeile, wo sich Obdachlose, Künstler und Ausgestoßene treffen, gehört zur Tour des Trios. Adam hat ein Kind mit einer Prostituierten – Edelbauer ist bemüht, alle Schichten der damaligen Zeit abzubilden. Am Ende landet Hans tatsächlich bei der Psychoanalytikerin Helene Cheresch, die sich freilich als Forscherin von Massenpsychosen präsentiert. In die Handlung eingewoben ist nämlich ein Traum von einem Dorf, der von Tausenden geteilt wird und der sich als Autosuggestion herausstellt. Ein logischer Schluss angesichts der Kriegshysterie, der so viele verfallen.

 „Die Inkommensurablen“ ist ein Roman, der Spaß macht zu lesen – auch wenn manche Metaphern etwas schief scheinen und die Autorin etwas zu tief in den Fremdwörtertopf greift. Und wie sich im letzten Jahr leider gezeigt hat, ist Kriegsbegeisterung ein Thema, das wir uns auch im 21. Jahrhundert stellen müssen.


Mit dem Roman „Es geht uns gut“, der 2005 den Deutschen Buchpreis gewann, wurde der in Wien lebende, in Vorarlberg geborene Autor Arno Geiger international bekannt. Seit Buch über seinen alzheimerkranken Vater „Der alte König in seinem Exil“ wurde 2011 zu einem Bestseller. In seinem neuen Buch „Das glückliche Geheimnis“ berichtet Geiger von seiner jahrzehntelang gepflegten Leidenschaft, in Altpapiercontainern nach Briefen, Tagebüchern und Handschriftlichem zu suchen.

„Ich verdanke dem Abfall sehr viel“ – ein Gespräch mit Arno Geiger über sein gerade erschienenes Buch „Das glückliche Geheimnis“

Mit dem Roman „Es geht uns gut“, der 2005 den Deutschen Buchpreis gewann, wurde der in Wien lebende, in Vorarlberg geborene Autor Arno Geiger international bekannt. Seit Buch über seinen alzheimerkranken Vater „Der alte König in seinem Exil“ wurde 2011 zu einem Bestseller. In seinem neuen Buch „Das glückliche Geheimnis“ berichtet Geiger von seiner jahrzehntelang gepflegten Leidenschaft, in Altpapiercontainern nach Briefen, Tagebüchern und Handschriftlichem zu suchen. In einem Interview, geführt im Rüdigerhof, gibt Arno Geiger Auskunft über sein Schreiben und Leben in Wien. 

„Das glückliche Geheimnis“ ist ein sehr persönliches Buch. Nie ist in Frage gestellt, dass das „ich“ im Text der Autor ist. War das eine Überwindung, so etwas zu veröffentlichen?

Nein, ich habe das immer als sehr befreiend empfunden, wenn jemand offen erzählt von dem, was ihm in seinen Leben zustößt – weil wir profitieren natürlich vom Austausch.

Sie haben aber sicher als bekannter Autor Erfahrungen gemacht mit einer nicht immer passenden Distanz zu den eigenen Lesern. Jeder/Jede will sein/ihr Buch signiert haben, obwohl er Sie persönlich natürlich nicht kennt.

Die Distanz, die bleibt bestehen. Durch diese Transformationen der Literatur – es ist ja nicht gelebtes Leben, das ich nach außen trage, sondern in Worte gefasstes. Und wir wissen ja, dass eine gemalte Orange etwas anderes ist als eine echte Orange. 

Mich hat immer fasziniert, wenn man das Werk eines Schriftstellers liest, vermeint man, ihn zu kennen – was natürlich falsch ist.

Ich denke viel darüber nach, was es heißt, sich preiszugeben. Und je mehr ich darüber nachdenke, desto plausibler kommt es mir vor, dass die Fragen mehr werden und nicht weniger. Das Geheimnis Mensch wird in Wahrheit nicht kleiner, wenn ich viel preisgebe. Vielleicht ist das genaue Gegenteil der Fall. Jemand der sich komplett abschottet, der ist eigentlich langweilig. Jemand der im Auskunft-geben über sich selbst äußerst zurückhaltend ist oder sich selbst stilisiert – das finde ich platter und weniger Fragen-aufwerfend, als wenn jemand einmal die Tür aufmacht. Wie Sokrates sagte: Je mehr ich weiß, desto mehr weiß ich auch, wie wenig ich weiß. So ist das vielleicht auch, wenn ich von mir selber erzähle, dann denke ich mir, ja die Menschen wissen mehr, aber sie wissen auch mehr, wie wenig sie wissen. Weil das Geheimnis Mensch tiefer wird. Genau darum geht es beim Schreiben – dass ich tiefer hinabsteige, dass das Geheimnis Mensch in der Tiefe ausgelotet wird und nicht an der Oberfläche. Indem ich schreibe, verwandelt sich mein Leben in Literatur. Eine Autobiografie ist eine Form von Geschichtsschreibung, aber die allersubjektivste.

Das Buch hat wohl bewusst keine Genrebezeichnung wie Roman oder Autobiografie.

Das war aber auch schon bei „Der alte König in seinem Exil“ so. „Das glückliche Geheimnis“ ist in gewisser Weise ein Geschwisterbuch von „Der alte König in seinem Exil“. „Das glückliche Geheimnis“ ist aber vieles, denn es geht ja nicht nur um mich als Person, sondern es geht auch um Themen.

Was hielten sie von der Bezeichnung Beichte?

Früher gab es das angesehene und traditionsreiche Genre der Bekenntnisliteratur. Beichte würde ich jetzt nicht sagen. Aber Bekenntnis in dem Sinn: Hier stehe ich und ich kann und will auch nicht anders – und Amen. Eine Beichte hat natürlich diesen stark religiösen Konnex – das spielt für mich überhaupt keine Rolle, auch weil ich hier nichts zu beichten habe.

Aber auch wenn man nicht religiös ist – man ist ja im Katholischen aufgewachsen…

Das Katholische – die Beichte – findet in einem ganz engen Raum statt, es wird geflüstert. Für mich ist das in keiner Hinsicht eine Beichte, sondern ich habe als Schriftsteller in meinem Empfinden die Verantwortung, über die Dinge zu schreiben, die mir am wichtigsten sind, und das zu sagen, was ich zu sagen habe – und das mache ich.

Sehr spannend ist das Thema Abfall. Sie bearbeiten zwar quasi den Edelabfall – Papier – aber wie Sie auch in der Einleitung schreiben: Für Archäologen ist der Abfall das spannendste. Und für einen Schriftsteller auch, denn sie haben dort ja Briefe, Aufzeichnungen, Tagebücher gefunden.

Ich habe dem Abfall wirklich viel zu verdanken. Er ist die Rückseite unserer Lebensform, der Abfall ist das in Ungnade Gefallene, das nicht mehr Benötigte, das Schwache, das Kaputte. Ich habe sowieso eine Zärtlichkeit für in Ungnade Gefallenes. Es gibt von unten her Auskunft über die Gesellschaft – nicht eine geschönte Auskunft, sondern eine sehr bunte Mischung. Es ist Zweitrangiges, Hingeschmiertes, Beiläufiges – es ist nicht artifiziell, nichts Gestelltes, sondern in einem guten Sinn Alltagsding. Und der Zugang über den Alltag – denn der Alltag sagt uns andere Dinge als Kunstwerke uns sagen –, diesen Zugang habe ich auch – nicht nur als Schriftsteller. Ich habe vor allem als Person davon profitiert. Man darf ja nicht vergessen wie jung ich war, nämlich 23/24. Ich war so neugierig und aufnahmefähig. Meine Streifzüge haben sich durch Zufall ergeben, und letztlich haben sie mich stark als Person geprägt.

Beim Lesen hat man das Gefühl, das Sammeln, die Streifzüge sind so eine Art Sucht – sie haben nicht aufhören können…

Nein, das war keine Sucht, weil dann hätte ich nicht aufgehört. Alles, was schön und bereichernd ist – das ist ja naheliegend –, dass man das gerne macht. Aber von Sucht war keine Rede. Ich erwähne das auch im Buch, dass ich zwischendurch monate-, teils jahrelange Pausen gemacht habe. Es gab oft wichtigere Dinge, zum Glück. Der Süchtige würde sich immer der Sucht unterwerfen und nicht von heute auf morgen weggehen und sagen, ich lasse das jetzt, weil gerade andere Dinge wichtiger sind. Außerdem war es immer angenehm für mich, dass es etwas war, das ich auf Knopfdruck an- und abstellen konnte.

Was hat Sie am meisten gereizt bei Ihren Streifzügen?

Besonders geschätzt habe ich, dass meine Streifzüge mir die Möglichkeit verschafft haben, Nachrichten zu bekommen über die hiesigen Sitten und Bräuche – also wie leben die Menschen? Wenn man Schriftsteller ist und vom Leben der Menschen erzählen will, ist es hilfreich, wenn man auf diesem Gebiet eine gewisse Spezialkenntnis erwirbt. Aber in der Früh musste ich immer kämpfen beim Aufstehen – weil im Bett ist es schöner.

Als Schriftsteller will man authentisch erzählen und das eigene Leben bietet nicht unbegrenzt Geschichten…

Wie die allermeisten Menschen habe ich ein Leben mit Familie, mit Freunden, mit Beruf – aber in meinem Alltag werde ich natürlich immer als der angesprochen, der ich bin, in meiner Rolle. Wir passen uns in dem, was wir sagen, immer dem Vis-à-Vis an. Ich begegne mir also in dem, was andere zu mir sagen, in gewisser Weise selber, weil es ja auf mich zugeschnitten ist. Und das konnte ich ganz geschickt umgehen dadurch, dass ich mich um Nachrichten bemüht habe, die nicht auf mich zugeschnitten sind – sondern für die beste Freundin usw. Wenn ein 14jähriger einem 14jährigen schreibt, kommt etwas anderes dabei heraus, als wenn er mir etwas erzählt.

Haben Sie wirklich so viel Persönliches gefunden? Früher hat man natürlich mehr Handschriftliches produziert, jetzt ist es fast die Ausnahme…

Ich habe einer Kultur beim Untergehen zugesehen. Das ist vorbei. Die erste Zäsur war das Telefon – dadurch ging schon vieles an Handschriftlichem verloren. Die menschliche Gesellschaft hat sich über Jahrtausende auf Papier gestützt – um Dinge festzuhalten, um Nachrichten zu übermitteln. Dann kommt das Telefon, und es bricht schon einmal die Hälfte weg. Und dann kommen Computer, E-Mail und Social Media, und es brechen weitere 40 Prozent weg. Ich habe mich diesem Metier mit geschultem Blick vermutlich gründlicher gewidmet als je ein Mensch. Es gibt natürlich andere Leute, die im Abfall etwas suchen, aber die beschäftigen sich nicht inhaltlich damit – sie machen das aus Not, während ich es aus Neigung gemacht habe.

Ich hätte vermutet, dass ein Fund von Tagebüchern eher ein Glücksfall ist…

Nein, ich habe nie auf das Glück des Dummen vertraut, ich war ziemlich beharrlich und habe mich nicht entmutigen lassen, wenn einmal monatelang nichts Brauchbares dabei war. Vieles hatte posthumen Charakter, wird also nach dem Tod eines Menschen weggeworfen wie alte Zeitungen oder zerbrochenes Spielzeug. Es stirbt jemand, und niemand blättert auch nur hinein – die Brösel der gepressten Blumen, 30, 40 Jahre alt, rieseln einem entgegen. Der Staub vom Dachboden liegt wie Verbandswatte über den Dingen – das wird einfach weggeworfen, entsorgt – ent-sorgen, sich einer Sorge entledigen, weg damit, ich brauche das nicht, ich kann das nicht einmal lesen, weil es in Kurrent ist.

Für Ihren Roman „Unter der Drachenwand“ habe Sie ja einiges Vorgefundene verwenden können, oder?   

Ich verdanke vor allem als Person dem Abfall ungeheuer viel, weil ich mich entwickeln konnte in diesen Begegnungen. Und wer mehr vom Leben weiß, der hat auch mehr zu sagen. Künstler war ich sowieso schon, aber ich habe daraus Inspiration gezogen. Bei „Unter der Drachenwand“ verschaffte ich mir auch viele Briefe übers Internet. Ich wusste, dass ich diesen Roman schreiben wollte und brauchte O-Töne, um ein besseres Gespür für die Zeit zu bekommen. Der Roman selbst ist erfunden, die Charaktere sind von mir entworfen. Aber ohne das Fundament aus dem Material wäre das Buch nicht das, was es ist. Woher sonst soll ich dieses so präzise Gefühl für die Zeit haben – für den damaligen Gebrauch der Sprache? Wenn man hundert, zweihundert Briefkonvolute gelesen hat, dann merkt man, es spricht nicht nur der Mensch, sondern die Sprache spricht aus ihnen heraus. Die Konventionen der Sprache sind ja gerade im Alltagsschreiben omnipräsent. Und das ist für mich als Schriftsteller unglaublich spannend – wenn die Sprache spricht. Und zwar anders spricht als wir heute sprechen würden.

Apropos Sprache: Als Vorarlberger hat man es in Wien ja, was die Sprache betrifft, nicht leicht. Die meiste sprechen dann Hochdeutsch, denn es gibt kein Dazwischen zwischen den Dialekten.

Ja – sprachlich gesehen sind fast alle Österreicher Bayern, nur die Vorarlberger sind Alemannen. Ich musste mir in Wien ein aktives Hochdeutsch aneignen. Wir haben ja auch in der Schule Dialekt geredet. Hochdeutsch war für mich, passiv konsumiert, selbstverständlich – aber ich habe es nie gesprochen. Wie beim Englischen, brauchte ich fürs Hochdeutsche etwa 30 Prozent der Gehirnkapazität nur fürs Übersetzen aus dem Dialekt – das empfand ich in der ersten Zeit als anstrengend.

Ich vermute, dass dieser Prozess für einen Schriftsteller auch fruchtbringen ist – man muss sich schließlich notgedrungen intensiv mit Sprache beschäftigen.

Ja, genauso ist es. Ich glaube der Grund, warum so viele österreichische Schriftstellerinnen und Schriftsteller von den Rändern kommen, hat damit zu tun. Dass sie ganz früh mit Sprachnuancen konfrontiert sind und wissen, dass sie nicht verstanden werden, wenn sie dem Gegenüber sprachlich nicht entgegenkommen. Die Faszination Sprache wird im Kind eher geweckt, wenn es erkennt, dass es unterschiedliche Sprachformen, unterschiedliche Sprachnuancen gibt und dass es gar nicht so einfach ist, diese im richtigen Moment einzusetzen.

Fühlen Sie sich inzwischen als Wiener?

Ich bin geborener Vorarlberger und gelernter Wiener. Aber dieses Aufwachsen in Vorarlberg, meine Wurzeln, sind schon sehr wichtig. Dass ich sagen würde „Ich bin Wiener“ – nein. Aber ich bin sehr glücklich in Wien und schon viel länger in Wien als in Vorarlberg. Wie man so sagt „Stadtluft macht frei“. In die Großstadt zu kommen, wo einen niemand kennt, da fällt es leichter, gewissen Konventionen die Gefolgschaft aufzukündigen. Mich hat die Stadtluft tatsächlich frei gemacht. Für mich, der ich aus bäuerlich-katholischem Milieu stamme, war das ein – im schönen Sinn – harter Kontrast. Ich konnte mich hier ausprobieren als Mensch, der sich entwickelt und der nicht mehr in der Rolle gefangen ist, die ihm zugewiesen ist. Für mich war das großartig. Letztlich ist das Buch „Das glückliche Geheimnis“ auch ein Buch über Lebenswege, die nicht geradlinig verlaufen. In meinen Augen sind die nicht geradlinigen Lebenswege die besseren, weil Umwege die Ortskenntnis erhöhen. Manche Dinge muss man ausprobieren, um herauszufinden, ob das etwas für einen ist oder nicht. Nicht jede Geschichte passiert jedem.


Am 17. Jänner stellt Arno Geiger im Gespräch mit Kristina Pfoser im Akademietheater sein neues Buch vor. www.burgtheater.at

Arno Geiger: Das glückliche Geheimnis
Hanser Verlag
240 Seiten
€ 25,70

Der in London lebende frühere Journalist Julian Barnes ist seit seinem Romanerfolg „Flauberts Papagei“ 1984 eine fixe Größe in der englischen Literatur. Meist sind seine Bücher eine Mischung aus Erzählung und Essay mit besonderer Berücksichtigung der Tücken der Geschichtsschreibung. Bei seinem neuesten Werk „Elisabeth Finch“ ist das nicht anders.

Der letzte heidnische Kaiser – Julian Barnes „Elisabeth Finch“

Der in London lebende frühere Journalist Julian Barnes ist seit seinem Romanerfolg „Flauberts Papagei“ 1984 eine fixe Größe in der englischen Literatur. Meist sind seine Bücher eine Mischung aus Erzählung und Essay mit besonderer Berücksichtigung der Tücken der Geschichtsschreibung. Bei seinem neuesten Werk „Elisabeth Finch“ ist das nicht anders. Der Erzähler, ein älter gewordener Mann namens Neil, erinnert sich nach zwei gescheiterten Ehen an seine Zeit als Student und dabei besonders an seine Professorin Elisabeth Finch. So wie er sie beschreibt, wird sie zumal von europäischen Lesern wohl als typisch britisch klassifiziert werden. Sehr klug, aber zurückhaltend bei den Meinungen anderer, unnahbar, aber immer an einem intellektuellen Diskurs interessiert, ein bisschen verschroben in ihren Themen, aber stets offen für Kritik. EF – wie die Studenten sie bald nennen – trifft sich auch nach ihrer Pensionierung gerne mit dem Erzähler und als sie stirbt, vererbt sie ihm ihre Aufzeichnungen. Ihr Interesse galt besonders einem römischen Kaiser, der als letzter Heide vor dem Siegeszug des Christentums in die Geschichte eingegangen ist. Julian Apostata („der Abtrünnige“) – der Zunamen wurde ihm von der Katholischen Propaganda verpasst, weil er angeblich schon Christ geworden war, ehe er wieder zu den römischen Göttern zurückkehrte – war nur eine kurze Amtszeit gegönnt, er starb 263 in einer Schlacht und wurde nicht viel älter als 30 Jahre. Und trotzdem wird er in den christlichen Schriften als der Böse schlechthin verunglimpft – obgleich er im Gegensatz zu seinem Vorgänger Diokletian die Christen keineswegs brutal verfolgte, sondern die christliche Lehre bloß für eine schlechte und kindische Religion ansah. Was wäre geschehen, wenn Julian die Schlacht gewonnen und über das Christentum gesiegt hätte – wäre dann etwa überhaupt eine Renaissance und Aufklärung nötig gewesen? Doch Wenn-Sätze sind in der Historie bekanntlich wenig fruchtbringend…

Barnes gibt EFs Ansichten viel Raum, der zweite Teil besteht fast zur Gänze aus einem Essay über Julian, im dritten Teil begibt sich Neil auf Spurensuche nach EF und befragt ihren Bruder und seine ehemalige Geliebte Anna – die ebenfalls mit Finch in Kontakt geblieben war. Viel findet er nicht heraus und so bleiben auch die Leser etwas enttäuscht zurück. Die Verbindung von Geschichte und Erzählung ist Barnes in anderen Romanen sicher besser gelungen.


Der in London lebende frühere Journalist Julian Barnes ist seit seinem Romanerfolg „Flauberts Papagei“ 1984 eine fixe Größe in der englischen Literatur. Meist sind seine Bücher eine Mischung aus Erzählung und Essay mit besonderer Berücksichtigung der Tücken der Geschichtsschreibung. Bei seinem neuesten Werk „Elisabeth Finch“ ist das nicht anders.

Julian Barnes „Elisabeth Finch“
Aus dem Englischen von Gertraude Krueger
Kiepenheuer & Witch
240 Seiten
€ 24,70

Der heuer im März erschienene schmale Text „Zwiegespräch“ von Peter Handke lässt sich locker in einer dreiviertel Stunde lesen und besteht vor allem aus Erinnerungen an seinen Großvater.

Peter Handkes „Zwiegespräch“ im Akademietheater

Bild: ©Susanne Hassler-Smith

Der heuer im März erschienene schmale Text „Zwiegespräch“ von Peter Handke lässt sich locker in einer dreiviertel Stunde lesen und besteht vor allem aus Erinnerungen an seinen Großvater. Die Regisseurin Riecke Süßkow hat für das Akademietheater ein Stück daraus gemacht – mit mehreren Alten und einigen Pflegerinnen – gespielt wird nämlich in einem Altersheim, in dem es fast wie in einer Fabrik streng getaktet zugeht. Die Alten werden von einem Pflegerinnenballett gefüttert, man bringt ihnen die Kleidung und dann müssen sie ein Spiel spielen, das als „Die Reise nach Jerusalem“ bekannt ist. Alle gehen im Kreis und wenn die Musik – etwa der Schlager La Paloma – unerwartet endet, ist ein Sessel zu wenig. Der Übriggebliebene muss bis auf die Kleidung alles abgeben und wird in eine Kammer gesteckt. Für ihn ist es wohl vorbei. Dazu kontrastiert der nachdenklich-erinnernde Text von Peter Handke, in dem es auch einmal ums Spielen – ein trauriges Kartenspiel, denn Großvaters Kumpane sterben nach und nach – geht.

Erstaunlicherweise funktioniert Süßkows Regieeinfall über weite Strecken recht gut – man hat immer etwas zum Schauen, Handkes Sprache funkelt an den unerwartetsten Stellen und die Regisseurin weiß auch noch nach mehr als einer Stunde szenische Akzente zu setzen. Mit Martin Schwab und ihm assistierend Hans Dieter Knebel und Branko Samarovski stehen ihr auch Schauspieler zur Verfügung, die den Handke-Zauber anmischen können. Wobei auch die Pflegerinnen Maresi Riegner und Elisa Plüss Texte sprechen dürfen. Dazu eine skurril gespenstische Bühne (Mirjam Stängl) mit Alibigrünpflanzen und innenbeleuchteten Schränken vor einer ausfahrbaren Holzwand, die meist in Sepiatönen beleuchtet wird. Am Ende – nachdem auch der letzte Großvater, eben Martin Schwab, abtreten musste – gibt es ein bizarres Fest mit Luftballons, wo sich alle wieder einfinden. Sind wir im Himmel oder in der Hölle? Egal, der Abend war recht anregend.

Infos: burgtheater.at


Peter Handke: Zwiegespräch
Bibliothek Suhrkamp
68 Seiten
€ 18,50

Vor wenigen Jahren wäre jemand, der behauptete, seine Vorfahren hätten ihm bestimmte Gefühlsmuster genetisch vererbt, als „Querdenker“ und Spinner lächerlich gemacht worden.

Vererbte Wut – Alex Schulman schreibt sich in „Verbrenn all meine Briefe“ von der toxischen Beziehung seiner Großeltern

Vor wenigen Jahren wäre jemand, der behauptete, seine Vorfahren hätten ihm bestimmte Gefühlsmuster genetisch vererbt, als „Querdenker“ und Spinner lächerlich gemacht worden. Inzwischen weiß die Wissenschaft, dass traumatische Erlebnisse durchaus über Generationen weitergegeben werden können – die neu geschaffene Epigenetik untersucht diese Weitergabe erworbener Information ohne Veränderung der DNA-Sequenz.

Der Roman „Verbrenn all meine Briefe“ des Schweden Alex Schulman ist quasi angewandte Epigenetik – Schulmann erzählt nämlich, wie er in seiner Familie ohne es zu wollen und ohne gar handgreiflich zu werden, Angst und Schrecken verbreitet. Er spürt leider allzu oft eine unbestimmte Wut in sich. Da stößt er auf die Geschichte seiner Großeltern: Sein Opa war der in Schweden noch immer bekannte Schriftsteller Sven Stolpe – „ein wandelnder Mythos“ wie es im Buch heißt. Stolpe hat zahlreiche Romane und Essays veröffentlicht, sich aber mit fast allen Kollegen unversöhnlich zerkriegte. Doch das meiste seiner Wut bekam Großmutter ab, die ihn bis zu seinem Tod ohne aufzumucksen pflegte. Dabei war Karin zu Beginn ihrer Beziehung die weitaus klügere und gebildetere gewesen. Nur einmal brachte sie die Kraft auf, sich vom ihm zu trennen nachdem sie sich in einen Kollegen verliebt hatte, der später ebenfalls ein berühmter Schriftsteller wurde. In dem sanften Olof Lagercrantz sah Karin all das, was vor ihrer Horrorehe mit dem seine Tuberkulosekranke geschickt nützenden Sven möglich in ihr gesteckt hatte.

Der Roman schildert auch mittels aufgestöberter Tagebuchaufzeichnungen und Briefe diese Liebesbeziehung, diesen Ausbruchsversuch. Schulmann zeichnet auch seine Recherche nach, aber er tut dies sehr geschickt und in einer gut lesbaren Sprache. Außerdem kann er sich auch noch gut an seine eigenen Begegnungen mit dem strengen Großvater erinnern, der es nicht duldete, wenn in seiner Gegenwart geweint wurde. Und so wird „Verbrenn all meine Briefe“ zu einem genauen Bild einer toxischen Beziehung. Durch Karins „Verfehlung“, ihren „Betrug“ hat Sven sie noch besser in der Hand, sie wird zur Dulderin der Launen eines Mannes, der „70 Jahre auf dem Krankenbett liegt“. Wenn jetzt jemand behauptet, so etwas gäbe es heute nicht mehr, muss man ihm wohl widersprechen. Schulmans Roman legt Abhängigkeiten bloß, die in anderer Form sicher auch noch heute in Beziehungen herrschen können.


Vor wenigen Jahren wäre jemand, der behauptete, seine Vorfahren hätten ihm bestimmte Gefühlsmuster genetisch vererbt, als „Querdenker“ und Spinner lächerlich gemacht worden.

Alex Schulman: Verbrenn all meine Briefe
Aus dem Schwedischen von Hanna Granz
dtv
304 Seiten
€ 23,70

Aurora Venturini erlebte erst mit 85 ein Zipfelchen von Ruhm, als sie für ihren Roman „Die Cousinen“ 2007 einen nationalen argentinischen Preis erhielt.

Eine gestörte Familie in Argentinien – Aurora Venturinis „Die Cousinen“ ist eine literarische Entdeckung

Aurora Venturini erlebte erst mit 85 ein Zipfelchen von Ruhm, als sie für ihren Roman „Die Cousinen“ 2007 einen nationalen argentinischen Preis erhielt. 2015 starb die 1922 Geborene, die während ihrer Pariser Jahre mit Sartre und Beauvoir verkehrte und mit Eva Perón befreundet war. Sie schrieb zahlreiche Romane, aber erst jetzt bringt dtv ihre „Cousinen“ auf Deutsch heraus – ein sehr ungewöhnlicher Text, auch ein ungewöhnlich guter.

Es geht um die zu Beginn noch minderjährige Yuna. Sie beschreibt sich selbst als „minderbemittelt“, wenngleich nicht so extrem wie ihre im Rollstuhl sitzende Schwester Betina, die auf dem Niveau einer Vierjährigen stehengeblieben ist. Dafür kann Yuna wunderbar malen, die Kunsthochschule schafft sie in Rekordzeit und ihr Professor verhilft ihr auch zum bitter nötigen wirtschaftlichen Erfolg – denn alle Familienmitglieder im argentinischen La Plata in den 40er-Jahren sind arm. In ihrer kleinwüchsigen Cousine Petra, die dem „ältesten Gewerbe der Welt“ nachgeht, findet sie eine – allerdings sehr problematische –Freundin. Denn Petra rächt sich an dem Mann, der ihre Schwester geschwängert hat, die dann an den Folgen einer illegalen Abtreibung stirbt, auf grausame Weise. Männer sind in Venturinis Argentinien entweder abwesend – wie Yunas Vater, der die Familie verlassen hat – oder Frauenschänder. Der so hilfreiche Kunstprofessor schreckt schließlich nicht einmal vor der schwerbehinderten Betina zurück. Und Petras Kunden verpassen ihr ständig blaue Flecken.

Venturini erzählt die vielen unglaublichen und manchmal ziemlich ekeligen Geschichten inklusive Mord, Abtreibung und erzwungener Hochzeit konsequent in den Worten der sehr einfachen und naiven Yuna, die sich mithilfe eines Wörterbuchs eine komplexere Ausdrucksweise aneignen will. Kommas fehlen meist. Dadurch bekommt der Roman eine geradezu gespenstische Unmittelbarkeit, sowie einen unwiderstehlichen Sog. Ein Sprachkunstwerk, das sich wie ein Krimi liest. Eine Entdeckung!


Aurora Venturini erlebte erst mit 85 ein Zipfelchen von Ruhm, als sie für ihren Roman „Die Cousinen“ 2007 einen nationalen argentinischen Preis erhielt.

Aurora Venturini: Die Cousinen
Aus dem Spanischen von Johanna Schwering
dtv
192 Seiten
€ 23,70

Die finnisch-schwedische Autorin Monika Fagerholm ist in Skandinavien ein Literaturstar, hierzulande ist sie noch zu entdecken.

Die dunkle Seite des Villenviertels – Monika Fagerholms Roman „Wer hat Bambi getötet?“ über eine Gruppenvergewaltigung

Die finnisch-schwedische Autorin Monika Fagerholm ist in Skandinavien ein Literaturstar, hierzulande ist sie noch zu entdecken. Ihr preisgekrönter Roman „Wer hat Bambi getötet?“ wäre dazu die beste Gelegenheit. Denn Fagerholm schafft es, ein brutal-ernstes Thema fast spielerisch und ohne erhobenen Zeigefinger schockierend nah zu gestalten. Es geht um zwei Jungs aus dem Villenviertel von Helsinki. Gusten, dessen Mutter Opernsängerin ist und viel auf Tour gehen muss, wächst praktisch in der reichen Familie seines Freundes Nathan auf, wo er „wie ein Sohn“ behandelt wird. Doch als Nathan seine Freundin Sascha – nachdem sie ihn verlassen hatte – im schalldichten Keller des großen Hauses einsperrt und vergewaltigt, ist es Gusten, der sogar gegen den Wunsch des Opfers zur Polizei geht. Obwohl er ebenso wie zwei weitere Freunde Sascha auch vergewaltigt hatte. Der Prozess bringt die geschönte Welt des Villenviertels ins Wanken. Dabei werden die „schrecklichen Vier“, oder „Boys“, wie die Zeitungen sie nennen, freigesprochen, nur Nathan bekommt eine bedingte Verurteilung. Zusätzlich sozialen Sprengstoff bringt die Tatsache, dass Sascha im berüchtigten Mädchenheim Grawellska aufgewachsen ist, also ganz unten in der gesellschaftlichen Hackordnung steht und Nathans Familie viel zahlt, um Saschas Familie ruhigzustellen. Wenige Jahre später stirbt Sascha, die eine Karriere als Schwimmerin vor sich hatte, an einer Überdosis.

Gusten wird hingegen erfolgreicher Immobilienmakler, sein Verhältnis zu Frauen ist freilich gestört. Seine Liebe Emmy stalkt er auch nach dem Ende der Beziehung und er tröstet sich ausgerechnet mit Emmys weitaus klügeren Freundin Saga-Lill. Alles verkorkst irgendwie. Die Karriere von Nathans Mutter als Chefin eines neoliberalen Thinktanks ist nach dem Skandal in der Familie ebenfalls dahin – sie stirbt wenig später an einer Krebserkrankung.

Das schreckliche Geschehen packt Fagerholm allerdings in eine scheinbar ironisch-harmlose Sprache mit vielen Wiederholungen der Schlüsselsätze – auch in Versalien oder in kursiv. Sie breitet einen wahren Sprachklangteppich über die Katastrophe aus. Der Titel des Romans geht auf den Titel des Filmes zurück, den ein jüngerer Schulkollege über die Ereignisse zu drehen plant. Und der bezieht sich wiederum auf den Song der Sex Pistols „Who Killed Bambi“ Ende der 70er-Jahre.

Der Roman hat auch eine prominente Übersetzerin, nämlich Antje Rávik Strubel. Ihr Roman „Blaue Frau“ wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2021 ausgezeichnet. 


Die finnisch-schwedische Autorin Monika Fagerholm ist in Skandinavien ein Literaturstar, hierzulande ist sie noch zu entdecken.

Monika Fagerholm: Wer hat Bambi getötet?
Übersetzt aus dem Finnischen von Antje Rávik Strubel
Residenz Verlag
256 Seiten
€ 25,–