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Musiktipp – Wilco, Cruel Country

Das Country-Album für Nicht-Country-Fans

Das Country-Album für Nicht-Country-Fans: Wilcos „Cruel Country“ ist ein Meisterwerk.

Ebenso zufällig wie gespenstisch: Wenige Tage nach dem unfassbaren Schul-Massaker in Texas, veröffentlichte die Chicagoer Band Wilco ihr 12. Studio-Album mit dem Titel „Cruel Country“ in dem Songschreiber und Gitarrist Jeff Tweedy singt: „I love my country like a little boy / Red, white, and blue / I love my country, stupid and cruel“. Und natürlich musste da jeder halbwegs wache Geist da nicken, denn anders als „stupid and cruel“ kann man einen Staat mit Waffengesetzen, die jeden 18jährigen – also drei Jahre bevor er Alkohol und Tabak legal konsumieren kann – erlauben, sich mit Sturmgewehren einzudecken, wohl nicht nennen. Aber das ist nur ein Aspekt dieses Doppelalbums mit 21 neuen Songs, das bis Juli nur als Stream verfügbar ist. Zwar waren die Jungs aus der großen Stadt im Norden der USA immer schon ein wenig Country-verliebt, aber „Cruel Country“ ist quasi das erste komplette Country-Album. Freilich eines, das auch Menschen lieben können, die Orgel, Banjo und rollenden Bassläufen auf der Westerngitarre hassen. Es sind einfach wirklich gute Songs einer Band, die sich niemals um Grenregrenzen scherte.

Denn bei diesem Album spürt man in jedem Ton, dass es Jeff Tweedy um eine ehrliche Aufarbeitung seines Verhältnisses zu seiner Heimat geht. Und er ist sich der vielen Widersprüche voll bewusst. In einem Interview erklärt er: „When you love your family you forgive a multitude of sins and we are a family as a country that is dysfunctional.“

Faszinierend an dem Album ist aber auch, dass die Songs bei mehrmaligem Hören ins Ohr gehen, ohne dass man einzelne Songs herausnehmen könnte. „Cruel Country“ präsentiert sich als ein Gesamtkunstwerk, das man jetzt schon mit Klassikern wie Neil Youngs „Harvest“ oder Johnny Cash „At San Quentin“ vergleichen kann.


Stephen Merritt & The Magnetic Fields

Stephin Merritt & the Magnetic Fields am 9. Juni im Akzent

Über Stephin Merritt ist fast nur Gegensätzliches bekannt. Er ist einer der profiliertesten Songschreiber der neueren Zeit und trotzdem gibt es keinen deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag.
Text: Helmut Schneider / Foto: Creative Commons License

Stephin Merritt ist Multiinstrumentalist und bekannt für seine unverwechselbare Bass-Stimme, kann aber keine lauten Töne spielen, denn aufgrund eines Defekts nach einem höllischen Konzert der Einstürzenden Neubauten in New York der 80er, erzeugen laute Töne in seinem linken Ohr ein Feedback. Er schaffte mit seiner Band „The Magnetic Fields“ und dem Triple-Album „69 Love Songs“ 1999 einige Hits in der Alternativszene, aber jeglicher Starruhm ist dem bekennenden Atheisten, Vegetarier und Schwulen fremd. Er trägt angeblich nur braune Kleidung und verfassen kann er seine Songs nur in speziellen Bars, in denen „alte, schwule, schrullige Männer über heftige Disco-Musik herziehen“. Obwohl nie diagnostiziert, weist Merritt – wie er in Interviews gerne berichtet – Asperger-Symptome auf. Nicht gerade die besten Bedingungen für eine Karriere im Showbiz …

Am 9. Juni haben wir freilich das Glück, Stephin Merritt gemeinsam mit seinen Kollegen Sam Davol, Shirley Simms, Chris Ewen und Anthony Kaczinski von „The Magnetic Fields“ bei einem Auftritt in Wien erleben zu können. Eine kleine Sensation für wahre Musik-Auskenner. Natürlich spielt er nur im intimen Rahmen des Akzent-Theaters, begleitet nur von Akustik-Instrumenten. Performen wird er Songs aus 30 Jahren – auch aus dem hochgelobten Album „50 Song Memoir“, für das er anlässlich seines 50. Geburtstages 50 Lieder aus seinem Leben schrieb. Zum 30jährigen Jubiläum wird es eine spezielle Vinyl-Edition der 1992er EP „The House of Tomorrow“ geben. Merritt lebt hauptsächlich in New York und ist auch als Komponist von Film- und Theatermusik hochgeschätzt. Ein Konzert wie dieses sollten sich Liebhaber heutiger Musik nicht entgehen lassen.

Infos & Karten: akzent.at

Ein halbes Jahr Musik

Ein halbes Jahr Musik


Musik-Streaming – Wie sich meine Hörgewohnheiten nach einem halben Jahr veränderten.
Text: Helmut Schneider


1976 gründete Richard Branson seinen ersten Plattenladen in der Londoner Oxford Street. In den 90er-Jahren – am Höhepunkt der CD-Welle – gab es in hunderten Ländern Virgin Megastores mit einem breiten Angebot an Musikträgern, auch in Wien existierte bis 2004 ein komfortabler Laden in der Mariahilfer Straße. Heute sind nur noch Reste des Megastore-Imperiums übrig, bekanntlich verdient der britische Milliardär und Abenteurer sein Geld heute unter anderem mit Weltraumtouristen. Denn wer Musik hören will, bedient sich jetzt meist eines Steamingdienstes.

Lange Zeit dachte ich, das wäre nichts für mich – vor allem weil ich der Qualität der Wiedergabe misstraute. Seit einem halben Jahr bediene ich mich nun eines Netzwerkplayers von NAD und eines Abos des angeblich hochwertigsten Musikstreaminganbieters Tidal. Das kostet bei Master-Qualität 20 Euro im Monat – aber sonst würde ich mich wohl jeden Tag fragen, warum ich mir in den Jahren eine hochwertige LINN-Anlage mit B&W-Boxen angeschafft habe. Wahrscheinlich werde ich nie wieder CDs kaufen, denn die Streaming-Qualität ist wirklich beachtlich. Bei Schallplatten sieht die Sache allerdings anders aus. Da schätze ich nach wie vor den „wärmeren“ Sound von Pressungen – vor allem von jenen vor dem Beginn der Digitalisierungswelle – ich kaufe daher fast ausschließlich gebrauchte Platten. 

Was sich am meisten geändert hat, sind allerdings meine Hörgewohnheiten. Ich mag beispielsweise Filmmusik. Der amerikanische Komponist Bernard Herrmann (1911-1975) ist für mich in diesem Bereich der Maßstab, kaum jemand kommt an ihn, der die großen Hitchcock-Erfolge oder Scorseses „Taxi Driver“ komponierte, heran. Ein Genre, das wohl nicht so viele Menschen schätzen, denn nicht alles ist auf CD lieferbar oder kostet viel Geld. Auf Tidal steht nun wirklich viel von ihm auf Abruf bereit. Zum Vergleich schaue man sich auch an, wie wenig vom zurzeit wohl besten Filmkomponisten Thomas Newman auf CD oder Vinyl bei Amazon oder jpc.de angeboten wird. Mein Lieblingsscore „Angels in America“ ist überhaupt nicht verfügbar, auf Tidal aber sehr wohl.

Das „auf Abruf“ ist für mich übrigens auch nicht unwichtig, denn wer viele CDs besitzt (und nicht sehr ordentlich ist), findet das Gesuchte nicht immer gleich. Aber natürlich: kein Vorteil, wo nicht auch ein kleiner Nachteil wäre. Dadurch, dass man mit einem Antippen sofort zum nächsten Titel springen kann, muss man sich zur Geduld, die nötig ist, um ein größeres Werk zu genießen, verpflichten. Deshalb habe ich mit ein paar Ausnahmen auch weniger Klassik als sonst gehört. Natürlich nahm ich mir vor, die verschiedenen Interpretationen eines Lieblingsstück wie etwa Monteverdis Marienvesper zu vergleichen – was jetzt problemlos möglich wäre – aber irgendwie kam es bislang nicht dazu. Dafür lief etwa das neue Album von Igor Levit (On DSCH) in Dauerschleife. Auch das Jazzrepertoire ist wirklich beachtlich, da werden sich wohl nur echte Nerds beschweren können.

Wie alle Streamingdienste arbeitet natürlich auch Tidal mit Algorithmen, das heißt die wissen genau, was ich wie lange höre und schlagen mir Ähnliches vor. Was mir aber oft wirkliche Entdeckungen beschert. Gut sind auch die Funktionen wie Liedtexte zum Mitlesen oder diverse Kurzbios der Künstler. Jetzt weiß ich etwa, dass der Filmkomponist Jonny Greenwood (grad auf Netflix zu sehen ist „The Power of the Dog“) Multiinstrumentalist bei „Radiohead“ ist. Herrlich ist es aber auch im Frühwerk späterer Berühmtheiten zu stöbern, wo vieles noch wunderbar direkt oder verspielt ist. Und gut ist auch die Funktion Download von Alben, denn so lässt sich – ohne eine große Telefonrechnung zu produzieren – im Schwimmbad auf dem iphone Musik hören.

Mein Fazit: Wer wirklich viel Musik hört, für den zahlt sich das teure Abo aus, wer aber nicht so eine hohe Qualität braucht, kommt auch mit günstigeren Diensten aus.


Musikalische Meilensteine I

Syd Barrett: Kindermärchen auf LSD


„The Piper at the Gates of Dawn“ – das erste Studioalbum von Pink Floyd – zählt zu den wegweisenden Produktionen des Psychedelic Rock. Wer sich für die Pop- und Rockmusik der 1960er Jahre interessiert, sollte sich dieses Meisterwerk nicht entgehen lassen.
Text: Andreas Cavar / Foto: Getty Images


Es muss wild zugegangen sein damals im Londoner UFO Club. Auch wenn der Klub nur zwischen 1967 und 1977 existierte, genoss er einen legendären Ruf. Hier traf sich jedes Wochenende die Underground-Szene der Metropole, um zu feiern und – nicht selten unter Drogeneinfluss – experimentelle Musik zu hören. Zu einer Art Hausband des Klubs entwickelte sich eine damals noch weitgehend unbekannte Band rund um den Musiker Syd Barrett namens Pink Floyd.

Menschen, die zum ersten Mal die frühen Aufnahmen von Pink Floyd hören, können sich nur wundern, wie sehr sich die Musik vom Sound späterer Jahre unterscheidet. Keine Spur von bombastisch inszenierten und bis ins kleinste Detail ausgefeilten Konzeptalben wie „The Wall“ oder von achtminütigen Gitarrensoli David Gilmours (der war damals noch gar nicht in der Band). Der Sound der frühen Jahre war vor allem von einer Person geprägt: Syd Barrett. Gemeinsam mit seinem Schulfreund Roger Waters hatte er die Band gegründet und komponierte zu Beginn so gut wie alle Songs. In der britischen Undergroundszene machte sich die Band schnell einen Namen. Die psychodelischen Klänge und abgedrehten Texte unterschieden sich deutlich von jener Musik, die zu dieser Zeit im Radio zu hören war und muss auch ganz ohne Drogeneinfluss wie von einer anderen Welt gewirkt haben. Kombiniert wurde der Sound mit ausgefallenen Lichteffekten – ebenfalls ein Novum in der damaligen Zeit.

Im März 1967 veröffentlichte die Band mit „Arnold Layne“ ihre erste Single. Schon hier zeigt sich, dass Barrett mit seinen Kompositionen einen völlig anderen Ansatz verfolgte als die meisten populären Bands dieser Zeit. Deren Songs drehten sich fast ausschließlich um das Thema Liebe – in „Arnold Layne“ beschreibt Barrett hingegen einen Fetischisten, der Nachts durch Wohngegenden schleicht, um Frauenkleidung von Wäscheleinen zu entwenden. Für das Lied wurde sogar eines der ersten Musikvideos überhaupt gedreht. Der Song erreichte immerhin die Top-20 der britischen Charts. Der ganz große Erfolg blieb aber wohl auch aufgrund der für damalige Verhältnisse heiklen Thematik aus. Der legendäre Sender Radio London weigerte sich sogar, den Song abzuspielen.

Von Februar bis Juni begab sich die Band in die legendären Londoner Abbey Road Studios, um ihr erstes Album „The Piper at the Gates of Dawn“ aufzunehmen. Das Werk zählt zu meinen absoluten Lieblingsalben und sei allen ans Herz gelegt, die sich für die Musik der 1960er Jahre interessieren. Fun fact: Zur gleichen Zeit nahmen die Beatles ebendort ihr legendäres Album „Sgt. Pepper“ auf, das ich schon an anderer Stelle erwähnt habe. Über die Frage, ob und wie stark sich die beiden Bands beeinflussten, kann nur spekuliert werden. Die Erinnerungen der Beteiligten gehen jedenfalls stark auseinander. Keyboarder Richard Wright erzählte in Interviews, dass es durchaus einen Austausch gab und man sich sogar gegenseitig Material vorspielte. Laut Bassist Roger Waters blieb die Beziehung zwischen den beiden Studionachbarn hingegen eher kühl – man wollte sich eben nicht in die Karten schauen lassen.

„Kindermärchen auf LSD“ ist so ziemlich die beste Beschreibung, die ich einmal über das Album gelesen habe. Schon der Titel bezieht sich auf Kenneth Grahames Kinderbuchklassiker „Der Wind in den Weiden“, dessen siebtes Kapitel die Überschrift „The Piper at the Gates of Dawn” („Der Pfeifer an den Toren der Morgendämmerung“) trägt. Grundsätzlich lassen sich die Songs in zwei Kategorien einteilen: Zum einen sind da die experimentellen Songs aus den Live-Shows der Band. Dabei wurde oft nur ein Akkord vorgegeben, um den herum die Band ausgiebig improvisierte. Für „Piper“ wurden diese Songs freilich in eine albumtaugliches Format gepresst. Zum anderen sind da märchenähnliche Geschichten von Zwergen und sprechenden Vogelscheuchen, in denen – so zumindest die gängige Interpretation – Barrett seine idyllische Kindheit in Cambridge wiederaufleben lies. „Arnold Layne“ findet sich ebensowenig auf der UK-Version des Albums wie die zweite und noch erfolgreichere Single „See Emily Play“. Statt auf radiotaugliche Singles zu setzen, trieb die Band lieber ihren experimentellen Live-Sound voran – durchaus zum Ärger der Plattenfirma sowie des Produzenten Norman Smith.

Wie sehr sich die Musik von Pink Floyd von den Werken anderer britischer Bands dieser Zeit unterschied, unterstreicht schon das erste Lied auf dem Album – die psychedelische Hymne „Astronomy Domine“. Zu Beginn hört man die Stimme von Pink Floyd-Manager Peter Jenner, der durch ein Megaphon die Namen von Sternen vorliest. Barrets E-Gitarre, das Orgelspiel von Wright und jede Menge Effektgeräte sorgen für einen psychedelischen Sound, dessen Stimmung sich immer wieder ändert.

Es folgt der wunderbar atmosphärische Song „Lucifer Sam“, dessen Riff perfekt in jeden James Bond-Film passen würde. Wer angesichts des Titels einen düsteren oder gar satanistischen Hintergrund befürchtet, der irrt: das Lied handelt von Barretts Siamkatze – „that cat’s something I can’t explain“. Der Song ist auch ein gutes Beispiel für Barretts humorvolle, fast kindliche Texte – „Hiding around on the ground. He’ll be found when you’re around“.

Mit „Matilda Mother“ folgt ein Highlight des Albums. Es ist einer der Songs, in denen Barrett wohl einen Blick auf seine Kindheit wirft. Dabei liest eine Mutter ihrem Kind Märchen vor, etwa über einen König, der einst über das Land herrschte – „oh mother, tell me more“ erschallt es bei jeder Strophe als Antwort. Wie bei fast allen Songs von Barrett ändert sich auch bei „Mathilda Mother“ mehrmals Stimmung und Rhythmus. Vor allem in der letzen Strophe, die von Barrett gesungen wird, nimmt das Lied kurz richtig Fahrt auf – „For all the time spent in that room. The doll’s house, darkness, old perfume. And fairy stories held me high on clouds of sunlight floating by“ – um dann am Ende mit Mantra-ähnlichen Gesängen und Wrights Orgelspiel langsam zu entschwinden.

Richtig abgedreht wird es mit dem Song „Flaming“, in dem uns Barrett auf eine Reise durch eine psychedelische Märchenwelt mitnimmt. „Sleeping on a dandelion“, „Traveling by telephone“ – hier scheint alles möglich. Zu den wohl legendärsten Songs der Frühphase von Pink Floyd zählt das Instrumentalstück „Interstellar Overdrive“, das den Live-Sound der Band gut abbildet. Tempo und Struktur – sofern überhaupt erkennbar – ändern sich auch in der Album-Version ständig. Ein fast zehnminütiger Rausch, in dem sich die Bandmitglieder so richtig austoben konnten.

Zwei meiner persönlichen Höhepunkte auf dem Album sind „The Gnome“ und das wunderbar verträumte Stück „Scarecrow“, zu dem es auch ein Musikvideo gibt (besonders die nicht gerade oscarreife Duellszene am Ende des Videos sollte man sich nicht entgehen lassen!). Hier zeigt sich auch gut, dass bei Barretts Songs meist die Akkorde dem gesprochenen Wort folgen und nicht wie üblich umgekehrt.

Das letzte Lied auf dem Album – „Bike“ unterstreicht einmal mehr Barretts Talent, abgedrehte und gleichzeitig charmante Texte zu schreiben – „I’ve got a bike, you can ride it if you like, it’s got a basket, a bell that rings and things to make it look good. I’d give it to you if I could, but I borrowed it“. Die Entengeräusche am Ende des Lieds haben übrigens keine tiefere Bedeutung. Wright verriet einmal in einem Interview, dass die Band von den vielen im Studio verfügbaren Soundeffekten so begeistert war, dass sie einige davon unbedingt in ihre Songs einbauen wollten.

„Piper at the Gates of Dawn“ erreichte Platz 6 der britischen Charts und machte die Band auch außerhalb der Underground-Szene bekannt. Heute gilt es als eines der wegweisendsten Alben des Psychedelic Rock und hat zahlreiche KünstlerInnen sowie Bands beeinflusst. David Bowie soll etwa ein großer Bewunderer Barretts gewesen sein. Vor allem imponierte ihm der Umstand, dass dieser ohne Scheu im britischen Akzent sang, während damals quasi alle Musiker auf der Insel versuchten, US-amerikanisch zu klingen.

Während Pink Floyd später zu einer der erfolgreichsten Rockbands in der Musikgeschichte aufstieg, entwickelte sich das Leben von Barrett in eine andere Richtung. Der exzessive Konsum psychedelischer Drogen richtete an seiner Psyche irreparablen Schaden an. Sein Verhalten schwankte zunehmend zwischen Chaos und totaler Lethargie. Wie Waters erzählt, starrte er oft stundenlang ins Leere und war nicht mehr ansprechbar. Sein Blick, der einst voller Lebensfreude war, wurde zunehmend leer und düster. Für alle, die ihn besser kannten, war er nicht mehr wiederzuerkennen, beschrieb Wright in einem Interview. Barretts fortschreitender Realitätsverlust machte es immer schwieriger, Songs aufzunehmen oder Konzerte zu spielen. Wright berichtete von einem US-Auftritt, bei dem Barrett weder sang noch einen einzigen Akkord spielte. Stattdessen stand er während der gesamten Show regungslos auf der Bühne, starrte ins Leere und stimmte die Seiten seiner E-Gitarre um. Als sich die Lage nicht besserte, wurde David Gilmour als Unterstützung in die Band geholt – ein Jugendfreund Barretts, der dessen Part übernehmen sollte. Anfang 1968 trennte man sich schließlich endgültig vom ehemaligen Band-Leader.

Nach zwei Solo-Alben, die Barrett unter großen Schwierigkeiten mit der Hilfe des Managers Peter Jenner und seinen ehemaligen Kollegen von Pink Floyd aufnahm, zog er schließlich zu seiner Mutter nach Cambridge, wo er bis zu seinem Tod 2006 abgeschieden von der Öffentlichkeit lebte und sich hauptsächlich mit Malerei beschäftigte.

Auf dem zweiten Pink Floyd Album „A Saucerfull of Sectrets“ ist Barrett nur noch mit einem Lied vertreten – dem grandiosen „Jugband Blues“, zu dem auch ein Video aufgenommen wurde. Die Komposition kann durchaus als eine Art Abschiedsgruß an die Realität verstanden werden. Der Text lässt darauf schließen, dass sich Barrett über seinen Zustand zumindest phasenweise durchaus bewusst war – „It’s awfully considerate of you to think of me here. And I’m most obliged to you for making it clear that I’m not here“. Am Ende des Videos blickt Barrett noch einmal mit leerem Blick in die Kamera und verabschiedet sich mit der vielsagenden Textzeile: „And what exactly is a dream? And what exactly is a joke?“


Das war das Donauinselfest 2021

DIF 2021: Ein „fast normales“ Donauinselfest


Das 38. Donauinselfest ist dieses Wochenende über die Bühne gegangen. Unter dem Motto #wieniezuvor konnten bis zu 42.000 Besucherinnen und Besucher ein fast „normales“ Donauinselfest feiern. Mit einer Gesamtauslastung von rund 80% war das Festivalgelände trotz herbstlicher Temperaturen gut besucht.


DREI TAGE FESTIVALSTIMMUNG
Von 17. bis 19 September herrschten auf der Insel drei Tage Festivalstimmung. Alle vier Bühnen wurden dabei von österreichischen Künstlerinnen und Künstlern bespielt. „Es hört sich an, fühlt sich an und riecht sogar wie ein altbewehrtes Donauinselfest. Ich freue mich sehr, dass die 38. Ausgabe mit grandiosen Shows und ausschließlich heimischen Acts so ein Erfolg war“, so Barbara Novak, Landesparteisekretärin der Veranstalterin SPÖ Wien. Laut Novak wollte man mit dem Line-Up beim diesjährigen Donauinselfest besonders die heimische Musiks- und Veranstaltungsszene fördern, sowie allen danken, die in der Pandemie viel leisten. „Für nächstes Jahr wünschen wir uns aber natürlich wieder ein traditionelles Donauinselfest im Juni und – sofern es die COVID-19-Entwicklung zulässt – ein Fest wie früher!“, freut sich die Landesparteisekretärin auf das 39. Donauinselfest 2022.

SICHERHEIT UND GESUNDHEIT AN ERSTER STELLE
Um ein ausgelassenes Feiern am DIF zu ermöglichen, wurde ein eigener COVID-19-Sicherheitsbeirat in die Planungen miteinbezogen. Dieser erarbeite gemeinsam mit den Organisatoren und Behörden einen sicheren Ablauf für das Open-Air-Spektakel. So gelangten Besucher auf das Festivalgelände nur mit einem personalisierten Ticket sowie einem negativen PCR-Test. Zusätzlich gab es für alle Teilnehmer die Möglichkeit zu einer kostenlosen COVID-19-Schutzimpfung ohne Voranmeldung. 

©Manuel Domnanovich: Am Eingang wurden Tickets und PCR-Testergebnisse kontrolliert.
©Manuel Domnanovich: Am Eingang wurden Tickets und PCR-Testergebnisse kontrolliert.

Matthias Friedrich, Geschäftsführer Pro Event Team und Organisator des DIFs: „Wir freuen uns sehr, dass wir für alle Besucherinnen und Besuchern solch fulminante Shows auf der Donauinsel anbieten konnten. Möglich machte das ein umfassendes Sicherheitskonzept, das (…) stets an die aktuelle Lage angepasst worden ist.“

BUNTES PROGRAMM

An den drei Tagen feierten rund 250 Künstlerinnen und Künstler mit den Besuchern des diesjährigen DIFs. Am Freitag stand auf der großen Festbühne in Kooperation mit radio FM4 Kruder & Dorfmeister als Headliner am Programm. Zeitgleich trat Viktor Gernot auf Ö1 Kulturbühne auf und auf der Schlagerbühne spielte der Schlageraltmeister Semino Rossi. Samstags rockte ein wahres Austropop-Feuerwerk mit Gert Steinbäcker, Schiffkowitz, Marianne Mendtund vielen mehr die Radio-Wien-Festbühne.

©Alexander Müller: Seiler & Speer heizten auch bei kühlen Temperaturen dem Publikum ein.
©Alexander Müller: Seiler & Speer heizten auch bei kühlen Temperaturen dem Publikum ein.

Zum großen Finale am Sonntag beehrten das Duo Seiler & Speer die Festbühne in Kooperation mit Hitradio Ö3. Ein eigenes Kinderprogramm mit Rolf Rüdiger und Robert Steiner machten auch den kleinsten Festivalbesucher eine große Freude. Wer nicht vor Ort sein konnte, erlebte die Highlights live auf ORF III. „Ein großer Dank gilt auch der ganzen DIF-Familie, allen Sicherheitskräften, allen Freiwilligen und allen am Fest Beteiligten“ so Friedrich. Und schließt ab: „Mit den strengen Corona-Maßnahmen ist und bleibt das Donauinselfest das sicherste Freiluftevent Österreichs!“

©Thomas Peschat Robert Steiner und Rolf Rüdiger erfreuten nicht nur die kleinen Festivalbesucher.
©Thomas Peschat Robert Steiner und Rolf Rüdiger erfreuten nicht nur die kleinen Festivalbesucher.

Neuheit

Liebe und Bestätigung im digitalen Zeitalter


Peter Zirbs brachte mit der französischen Sängerin und Songwriterin Christelle Constantin ein neues Video heraus.


„Ideal“ ist eine von französischen Elektronik- und New Wave- Sounds inspirierte Vorab-Single, die auch gleichzeitig eine neue Zirbs-EP für Herbst 2021 ankündigt. Der Song handelt von „Liebe und Bestätigung im digitalen Zeitalter und den damit verbundenen Irrwegen“, so Christelle Constantin.

Als Teil der Wiener Rave- und Technoszene der späten 1990er-Jahre veröffentlichte der Multiinstrumentalist und Elektronikmusik-Produzent Peter Zirbs, der auch eine Zeitlang bei uns im Echo-Medienhaus mitarbeitete, unter mehreren Pseudonymen und sprengte im Laufe der Jahre mit der musikalischen Vielfalt seiner Veröffentlichungen gängige Genregrenzen. Zirbs experimentierte früh mit analogen (!) Synthesizern und landete mit energiegeladenen und rohen Produktionen erste Erfolge in der damals noch jungen Szene.

Nach seinem viel gelobten Albumdebüt „What If We Don’t Exist?“ (2018) und dem letztjährigen europaweiten Indie-Hit „Locked In“ (2020) gemeinsam mit Ex-Archive- Frontmann Craig Walker arbeitet Zirbs mit der französische Künstlerin Christelle Constantin an einer global verständlichen Pop-Sprache. Auf das Album im Herbst darf man gespannt sein.


Weitere Infos:
www.fabrique.at
www.peterzirbs.com

Ina Regen

Begegnung mit sich selbst


Top. Nicht nur ihre Songs sind großartig, auch mit ihr zu skypen ist sehr erfrischend. Die Rede ist von Amadeus-Preisträgerin Ina Regen, die vor kurzem ihr neues Album „ROT“ präsentierte.
Text: Andrea Buday / Fotos: Gerd Schneider


Sie befinde sich gerade in einer Phase der Erholung, erzählt die 36-jährige Sing-Songwriterin, die rund zwei Jahre an ihrem neuen Album „ROT“ gearbeitet hat. Das erste Lied begann Ina Regen schon vor der Veröffentlichung ihres Debütalbums „Klee“ zu schreiben. „Weil ich möglichst unabhängig von den Kritiken und Feedbacks auf ,Klee‘ sein wollte.“ Gemeinsam mit Florian Cojocaru hat sie sich an die Arbeit gemacht. Ursprünglich hätte das Album bereits im April 2020 fertig und im Herbst veröffentlich werden sollen, aber sie habe gespürt, dass diese außergewöhnliche Zeit auch das Zeitgefühl bzw. das Bedürfnis der Menschen verändert habe. Zudem entschied die Wahlwienerin, ein paar Songs, die vielleicht noch lauter oder verstörender sein wollten, zurückzuhalten. „Ich dachte nämlich, dass die Menschen jetzt mehr Ruhe und Zuversicht brauchen“, so die gebürtige Oberösterreicherin im Skype-Interview, die zudem gesteht, dass auch sie selbst das eine oder andere Lied brauchte, um Hoffnung zu schöpfen.

„Fenster“ von Ina Regen – aus dem neuen Album „ROT“.

wienlive: Die Musik Ihres neuen Albums ist ruhig und angenehm, die Texte regen zum bewussten Zuhören bzw. Nachdenken an.
INA REGEN: Meine Lieder sollen schon dazu bewegen, bewusst reinzuhören und sich mit sich selbst zu konfrontieren. Es ist Musik, um sich berühren zu lassen, sich auf sich selbst einzulassen genauso sehr wie auf meine Gedanken.

Ihre Lieder haben teils auch eine kritische Message.
REGEN: Ich beschreibe, was ich an unserer Zeit verstörend finde, und mitunter auch das, was ich an mir selbst verstörend finde oder wo ich selbst nicht so eindeutig zuzuordnen bin, sondern merke, ich befinde mich in einem Prozess. Bei der Flüchtlingsthematik etwa, die mich seit 2015 sehr beschäftigt, stelle ich fest, wie mich neue Sichtweisen und Gespräche immer wieder neu beeinflussen. Und ich merke dann auch, wie vermeintliche Lösungen bzw. Antworten, die ich gefunden zu haben glaubte, neu evaluiert werden müssen. Aber: „ROT“ soll nicht anprangern, sondern ein Aufruf sein, um im Gespärch und im Mitgefühl zu bleiben. Sobald wir ein Ideal von Menschen haben, neigen wir dazu, den Kontakt zu jenen zu verlieren, die eine andere Meinung vertreten. „ROT“ ist ein verzweifelter Aufschrei, damit wir speziell mit jenen kommunizieren, mit denen wir nicht übereinstimmen.

Sind Sie ein streitbarer Mensch oder harmoniebedürftig?
REGEN: Ich tendiere mehr zu Harmonie, aber ich habe zu streiten gelernt, weil ich denke, dass es sehr wichtig ist, sich selbst zu behaupten und seine Grenzen zu wahren. Was voraussetzt, dass man die eigenen Grenzen erst entdecken muss, und das wiederum funktioniert nur, wenn man viel reflektiert und seine eigenen Fehler großherzig annimmt.

Ihre Texte sind eher ernst, nicht gerade Leichtigkeit versprühend …
REGEN: „Wien am Meer“ z. B. ist ein Sommersong, der zum Leben einlädt. Auch „Leuchten“ ist positiv und feiert die Kraft der Veränderung, die in jedem von uns steckt. Aber ich gebe zu, ich halte nicht zu viel von Oberflächlichkeit. Ich habe Leichtigkeit in meinem Leben erst gefunden, als ich integrieren konnte, dass das Leben auch kompliziert und manchmal schwierig ist, und dass es Diskrepanzen gibt, denen man sich stellen muss. Selbst das Liebeslied auf dem Album ist keine Überhöhung, sondern eine realistische Betrachtung einer Liebe. Ich verteile keine leichten Rezepte. Es gibt aber einen Bonustrack: „Jo, na eh“ ist ein Lied, das augenzwinkernd gemeint ist und zur Leichtigkeit aufruft.

Wie geht es Ihnen in Zeiten wie diesen?
REGEN: Es gab schon Phasen, in denen ich verzweifelt war, weil alles, wofür ich die letzten Jahre hart gearbeitet hatte, plötzlich zu implodieren schien. Da drücken die eigenen Gedanken und Ängste natürlich sehr auf die Stimmung. Dann habe ich immer wieder nach der Nadel gesucht, mit der ich meine Gedankenblase aufstechen konnte, um neue Perspektiven einzunehmen. Außerdem muss ich dankend erwähnen, dass meine Fans mich großzügig unterstützten mit Spenden via Spotify bzw. einem Paypal-Konto.

Was erwarten Sie sich vom neuen Album?
REGEN: Immer, wenn man ein weiteres Stückchen von sich selbst preisgibt, ist es mit einer Grundanspannung verbunden, die einerseits aus Euphorie besteht, andererseits mit der Sorge, dass es den Menschen gar nicht so gut gefällt. Diesen Erwartungsdruck spüre ich schon, aber ich versuche, diese Gedanken beiseite zu schieben. „ROT“ ist ein positives Signal. Eine Einladung zum Menschsein, neugierig zu bleiben – auf den Menschen, der man gerade ist und auch auf den, der man vielleicht gerade nicht so gern wäre, aber trotzdem ist. Es ist jedenfalls eine Einladung zum Leben.


Ina Regen – ROT

Erhältlich hier.

Musiktipps

Otto Brusatti empfiehlt


Ein Musiktipp von Radiomoderator Otto Brusatti. Entdecke Beethovens Symphonien in einer neuen Aufnahme, gespielt von William Steinberg mit dem Pittsburgh Symphony Orchestra.
Foto: Ludwig Schedl


Beethoven noch immer. Diesmal schon 1964–66 aufgenommen. William Steinberg vermittelt wie wenige ein Mix-up aus deutscher Tradition und amerikanischer Lässigkeit. Er, der in Prag noch als Zemlinsky-Nachfolger und in Frankfurt Opernchef gewesen, als Flüchtling das Israel Philharmonic Orchestra mitbegründet hatte, als Assistent von Toscanini arbeitete und dann mit Reiner, Klemperer oder Monteux Amerikas Classic-Musikleben prägte, bringt den Titanen sozusagen locker, gelöst, weitgehend pathosbefreit rüber. Beethoven zum Anhören und für neu zu entdeckende Details (und nicht zum Fürchten).

Das Orchester – zugegeben – spielt engagiert und flott. Sozusagen: Es ist alles da. Nach mehr als einem halben Jahrhundert muss man sagen: Spieltechnisch liegen zwischen damals und heutigen Prominenz-Produktionen doch Welten. Aber Beethovens Zweite, Sechste oder Achte mit Steinberg – durchaus auch so empfehlenswert.


Wien modern

Festival für moderne Musik


Das engagierte Festival für moderne Musik ist natürlich schwer vom Corona-Lockdown betroffen, viele Konzerte können jetzt nicht stattfinden. An voraussichtlich mindestens 24 Abenden während der Ausgangsbeschränkungen macht das Festival aber über seine Website sowie teilweise über ORF Ö1 mehr als die Hälfte des angekündigten Programms kostenlos öffentlich zugänglich.
Foto: Igor Ripak


Zu dem angekündigten Programm gehören insbesondere das Konzert zur Verleihung des Erste Bank Kompositionspreises 2020 an Matthias Kranebitter mit dem Klangforum Wien im Wiener Konzerthaus am 18.11. mit Uraufführungen von Johannes Kalitze, Matthias Kranebitter und Friedrich Cerha sowie die Uraufführung tönendes licht. von Klaus Lang mit den Wiener Symphonikern aus dem Stephansdom am 19.11. Diese Konzerte werden zum angekündigten Zeitpunkt auf wienmodern.at gestreamt. Zahlreiche weitere Produktionen werden teilweise live, teilweise zeitversetzt als Aufzeichung im Lauf der kommenden Wochen angeboten.


Info: wienmodern.at
Facebook: facebook.com/wienmodern

Interview mit Jonas Kaufmann

„Liedgesang ist die Königsklasse des Singens“


Superstar Jonas Kaufmann, der beste und schönste Heldentenor der Welt, hat bei Sony eine neue CD herausgebracht: „Selige Stunde“ versammelt romantische Liebes- und Abschiedslieder, darunter das melancholische „Allerseelen“ und die leidenschaftliche „Zueignung“ von Richard Strauss, Schumanns lyrische „Mondnacht“ und die inbrünstige „Widmung“, aber auch Mozarts herziges „Veilchen“ und Schuberts launische „Forelle“. Kongenial begleitet am Klavier von seinem Lehrer Helmut Deutsch, betört der bayerische Herzensbrecher mit seinem vitalen, baritonal gefärbten, ein wenig verschleierten Tenor und seinem leicht kehligen Timbre, mit brennender Leidenschaft und großen Gefühlen.
Text: Elisabeth Hirschmann-Altzinger / Fotos: Julian Hargreaves; Gregor Hohenberg


wienlive: Auf Ihrem neuen Album „Selige Stunde“ singen Sie, begleitet von Helmut Deutsch am Klavier, sehnsüchtige Liebes- und Abschiedslieder von Schubert, Schumann, Mendelssohn oder Richard Strauss. Warum zitiert der Titel ein Lied von Zemlinsky?
JONAS KAUFMANN: Weil ich fand, dass dieser Titel am ehesten den Charakter des Albums trifft und weil er gezielt auf dieses Lied hinweist, das leider nicht mehr so bekannt ist. Die populären Lieder der CD – „Auf Flügeln des Gesanges“, „In mir klingt ein Lied“ oder „Mondnacht“ – sind ja als Albumtitel längst verbraucht.


Sind das Ihre Lieblingslieder?
KAUFMANN: Es ist unsere persönliche Wunsch-Liste, man könnte es ein Album von Zugaben nennen. Was aber nicht heißt, dass wir von den bekanntesten Lied-Komponisten die beliebtesten Rausschmeißer genommen haben. Vielmehr waren es Stücke, die uns besonders am Herzen liegen und die auch ganz charakteristisch für den jeweiligen Komponisten sind. Dazu haben wir Sachen ausgesucht, die man heute nicht mehr kennt, aber unbedingt kennen sollte.


Wie wichtig ist das Lied in Ihrer Karriere?
KAUFMANN: Sehr! Für mich ist Liedgesang die Königsklasse des Singens. Weil dieses Genre noch mehr Farben, Details und Nuancen braucht als die Oper. Leider habe ich das Aufnehmen von Liedern in letzter Zeit etwas vernachlässigt, der Kalender war immer zu voll. Deshalb war nach dem Lockdown mein erster Impuls, Helmut anzurufen: Jetzt ist die Chance, Lieder aufzunehmen.



Sie sind zuletzt in Grafenegg und im Theater im Park aufgetreten, singen das Sommernachtskonzert und ein Weihnachtskonzert im Konzerthaus. Hat das mit der Corona-Pandemie zu tun?
KAUFMANN: Natürlich. Wenn von März bis jetzt alles gelaufen wäre, wie geplant, hätte ich weder die konzertanten „Aida“-Vorstellungen in Neapel noch die Angebote aus Genf, Budapest und Ljubljana wahrnehmen können. Grafenegg war bereits geplant, allerdings nicht „Die schöne Müllerin“ sondern „Fidelio“. Auch das Schönbrunn-Konzert war längst geplant, nur findet es jetzt ohne Publikum statt. Die beiden Konzerte im Theater im Park am Belvedere kamen durch die Corona-Lücke zustande.


Sensationell ist Ihre Rückkehr an die Wiener Staatsoper unter dem neuen Direktor Bogdan Roščić. Was sind seine Qualitäten?
KAUFMANN: Dass er beides hat: die Leidenschaft für die Oper und Manager-Qualitäten. Normalerweise ist es heute ja ein Entweder-oder.


An der Staatsoper singen Sie „Don Carlos“ und „Parsifal“. Der italienische Seelendramatiker oder der teutonische Leitmotiv-Schöpfer – wer ist Ihnen lieber?
KAUFMANN: Als 2013 der 200. Geburtstag beider Komponisten gefeiert wurde, sang ich an der Met den Parsifal und lernte für mein Debüt als Manrico in „Il Trovatore“ in München. Da wurde ich oft gefragt, welcher der beiden Komponisten mir näher stünde. Musikalisch konnte ich die Frage nicht beantworten. Als ich in New York die Verdi-Partie studierte, war ich so gefangen von der Musik, dass ich nur noch Verdi singen wollte. Dann kam der nächste „Parsifal“, und ich tauchte ein in diesen Kosmos, vergaß alles drumherum und glaubte, das Größte gefunden zu haben. So ging das hin und her, ein Wechselbad der Gefühle. Als Mensch steht mir freilich Verdi näher; bei ihm muss
man den Künstler nicht vom Menschen trennen, das ist eine Einheit. Dass er auf die Frage nach seinem größten Werk geantwortet haben soll: „Mein Altenheim für Sänger“, macht ihn mir zusätzlich sympathisch. Bei Wagner hingegen gibt es, vorsichtig gesagt, einiges Befremdliche, vor allem seine antisemitischen Schriften und seine Selbstüberschätzung. Da wünschen sich selbst militante Wagnerianer, dass er nur komponiert und nicht so viel gesagt oder geschrieben hätte.


Sie gelten als der beste und schönste Operntenor. Hat das auch Nachteile?
KAUFMANN: Der größte Nachteil wäre, wenn die Leute nur noch mit den Augen hören und kaum noch unterscheiden können, ob ein Sänger Weltklasse oder bestenfalls Mittelmaß ist. Klar, im Zeitalter von Blu-ray, YouTube und Oper im Kino kann es einem als Sänger nicht egal sein, wie man aussieht. Das Modell „Singendes Sofa“ funktioniert nur noch in wenigen Ausnahmefällen, und Oper ist nun mal nicht nur Singen, sondern Musik plus Theater. Wenn aber eine Rolle in erster Linie nach der Optik besetzt wird und erstklassige Sänger durch solche ersetzt werden, die besser aussehen, dann ist für mich die Schmerzgrenze erreicht. Denn worum geht es denn in unserem Genre vor allem? Dass das Publikum gepackt wird von der Musik und von den Emotionen, die ein glaubhafter Darsteller auslöst. Und das funktioniert nun mal nicht, wenn das Aussehen top ist und die Stimm a Scherbn.


Selige Stunde.
Jonas Kaufmann
; Helmut deutscH (Sony Classical). Auf der CD „Selige Stunde“ versammeln Jonas Kaufmann und Helmut Deutsch romantische Lieder von Schubert, Schumann, Beethoven, Brahms, Mendelssohn, Mahler, Hugo Wolf und Richard Strauss. Überraschend und süß ist der Rudolf-Schock-Schlager „In mir klingt ein Lied“ nach der 3. Chopin-Etüde E-Dur.