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Mit der Kraft der Musik durch die Krise

Superstar der klassischen Musik


Die römische Primadonna assoluta Cecilia Bartoli begeistert mit virtuosen Kastraten-Arien auf ihrer neuen DECCA-CD „Farinelli“. Sie hat ihr neues Album dem berühmtesten Sänger aller Zeiten gewidmet: Dem Soprankastraten Carlo Broschi.
Text: Elisabeth Hirschmann-Altzinger / Fotos: DECCA/Uli Weber


Dem berühmtesten Sänger aller Zeiten, dem Soprankastraten Carlo Broschi, genannt Farinelli, hat die römische Primadonna assoluta Cecilia Bartoli ihr neues Album „Farinelli“ gewidmet, das beim englischen Opernlabel DECCA erschienen ist. Als Sohn eines österreichischen Musiklehrers 1705 im apulischen Andria, das damals zum Königreich Neapel gehörte, geboren, wurde Carlo mit neun Jahren auf Wunsch seines Vaters kastriert und vom berühmten Lehrer und Komponisten Nicola Porpora in Neapel zum Sänger ausgebildet. Farinellis Erfolge in Italien, England, Spanien und Wien waren gigantisch. Mit seiner virtuosen Gesangstechnik und einem Stimmumfang von dreieinhalb Oktaven produzierte er Läufe von atemraubender Rasanz, gestochene Triller, bravouröse Pirouetten, Verzierungen und halsbrecherische Koloraturen in allen Gipfellagen der Musik, welche die Damen in Ohnmacht stürzten und den Herren die Knie zittern ließen.

POPSTARS
„Evviva il coltellino!“ („Es lebe das Messerchen!“), schrien die Opernbesucher begeistert, wenn Farinelli oder Sensino auf der Bühne standen. Die größten Sängervirtuosen verblüfften ihr Publikum mit ihren makellosen, geschlechtslosen Engelsstimmen und der Anmut ihrer Manier. Durch die Entfernung der Hoden vor dem Stimmbruch blieb den Kastraten der weiche, silbrige Klang der Knabenstimme, dazu gewannen sie die Kraft, Intensität und Brillanz der männlichen Stimme. Die Damen der Gesellschaft gerieten in sinnliche Verzückung, wenn sie einem Kastraten lauschten – nicht einem Mann, sondern einer Stimme, die Orgasmen der Seele auslöste und wichtiger war als das Geschlecht. In der Barockoper, jener hochartifiziellen Kunstform, die einer Poetik des Wunderbaren folgte, fanden die Kastraten ihre Rolle und ihre Lebensform.
„Im 18. Jahrhundert wurden in Italien jedes Jahr 4.000 Knaben aus armen Familien kastriert, um aus ihnen große Opernsänger zu machen“, erzählt Cecilia Bartoli.
„Man wollte mit ihnen viel Geld verdienen, die großen Kastraten waren die Popstars des 18. Jahrhunderts. Wir haben 200 Jahre Kastration im Namen der Kunst, aber nur 150 große Namen – einen Farinelli, einen Caffarelli, einen Senesino. Die meisten Knaben wurden umsonst geopfert, das ‚Sacrificium‘ war für nichts.“

Und die göttliche Römerin weiter: „Die Operation war lebensgefährlich, auch deshalb, weil die Kastration eigentlich verboten war. Der Vatikan hat das einerseits verboten, andererseits haben sie die Kastraten – denn die meisten waren gute Sänger – für den Kirchenchor gebraucht. Die Leute, die diese Operationen durchführten, waren keineswegs Ärzte, bestenfalls Tierärzte, oft auch nur Friseure. Die armen Buben wurden im Hinterzimmer eines Friseurladens verstümmelt – ohne Narkose, viele sind daran gestorben. Die Kastraten mit der großen Karriere wurden vergöttert, die anderen, die Armen, wurden ausgelacht. Sie durften auch nicht heiraten, ihr Privatleben war traurig. Natürlich hatten sie psychische Probleme. Sie führten ein trauriges Leben und zogen in Bettelchören durch Rom.“

BRAVOURARIEN
Begleitet vom Mailänder Originalklang-Maestro Giovan-ni Antonini und seiner furiosen Barockband Il Giardino Armonico, singt Cecilia Bartoli für Farinelli komponierte Bravourarien von Riccardo Broschi, Farinellis Bruder, Nicola Porpora, Farinellis Lehrer und Förderer, Johann Adolph Hasse, Geminiano Giacomelli und Antonio Caldara. Die meisten Termine ihrer seit einem Jahr ausverkauften Farinelli-Tournee mit Stationen in Berlin, Amsterdam, Brüssel, Paris, Zürich, Stockholm, Kopenhagen und Hamburg musste die bestbezahlte und höchstverehrte Mezzo-Diva wegen der Corona-Pandemie absagen; auch ihr von den Wiener Fans heftig ersehnter Auftritt am 27. April im Goldenen Saal des Musikvereins fiel dem Horror-Virus zum Opfer. Ebenso mussten die Salzburger Pfingstfestspiele, die La Bartoli seit 2012 mit überragendem Erfolg leitet, heuer gecancelt werden – wie schade, hätte die Primissima Donna am 29. Mai doch als Norina in Donizettis Opera buffa „Don Pasquale“ debütieren sollen.
„Diese Entscheidung bricht mir das Herz“, sagt sie, „aber eines ist klar: Die Gesundheit ist das Wichtigste. Und ich bin ganz sicher, dass die Kraft der Musik uns helfen wird, diese Krise zu überstehen.“


Cecilia Bartoli: „Farinelli“. Giovanni Antonini; Il Giardino Armonico, Kastraten-Arien von Riccardo Broschi, Hasse, Porpora, Giacomelli, Caldara (DECCA).

Beethovens letzter Walzer

Tastenvirtuose und Publikumsliebling


Der Wiener Tastenvirtuose Rudolf Buchbinder bringt bei der Deutschen Grammophon Beethovens 33 Diabelli-Variationen neu heraus. Was Beethoven von „marketing“ hielt und was der Komponist mit dem Himalaya zu tun hat.
Text: Elisabeth Hirschmann-Altzinger / Fotos: Marco Borggreve, Philipp Horak


Der Wiener Publikumsliebling Rudolf Buchbinder, der auch erfolgreicher Intendant des Musikfestivals Grafenegg ist, wird für die zyklische Wiedergabe der Klavierwerke der Wiener Klassik weltweit gefeiert. Im Beethoven-Jubiläumsjahr kann er mit tollen Projekten aufwarten: Bei der Deutschen Grammophon ist seine Einspielung von Beethovens Diabelli-Variationen und seinen Lieblingsvariationen von Schubert und Liszt herausgekommen. Außerdem hat er Variationen auf Diabellis Walzer bei Gegenwartskomponisten wie Tan Dun oder Toshio Hosakawa in Auftrag gegeben. Parallel dazu hat Buchbinder im Musikverein Beethovens fünf Klavierkonzerte mit fünf großen Dirigenten – Nelsons, Jansons, Thielemann, Gergiev, Muti – und fünf Orchestern neu aufgenommen. Mit seinen von 11 zeitgenössichen Komponisten ergänzten Diabelli-Projekt, in dem Beethovens 33 Variationen mit den Stücken von Schubert und Liszt vereint sind, hat Buchbinder eine Welttournee geplant – wenn es das Coronavirus erlaubt.

wienlive: Wer war Anton Diabelli?
RUDOLF BUCHBINDER: Anton Diabelli war ein gewiefter Wiener Musikverleger, der 1819 einen einfachen, 32-taktigen Walzer in C-Dur an 51 populäre Komponisten des österreichischen Kaiserreichs schickte. Gegen Bezahlung sollte jeder der Tonsetzer eine Variation auf diesen Walzer schreiben; das war eine geniale Marketingidee, die Variationen der musikalischen Stars waren eine Hitparade der Wiener Musik.

Welche Komponisten waren daran beteiligt?
BUCHBINDER: Mit dabei waren Carl Czerny, der 11-jährige Franz Liszt, Johann Nepomuk Hummel und Mozarts Sohn Franz Xaver Wolfgang Mozart. Handwerklich waren alle fantastisch, sie wollten sich in Virtuosität übertreffen. Es gibt ein Stück, wo man das Genie hört: Franz Schuberts vom derben Walzerthema weit entfernte, melancholische Variation c-Moll, die schon den Zeitgenossen wie aus einer anderen Welt vorgekommen sein muss.

Und Beethoven?
BUCHBINDER: Beethoven entzog sich Diabellis Marketingstrategie. Er nannte dessen Walzer einen „Schusterfleck“, wobei für Variationen ein einfaches Thema wichtig ist, und ließ sich vier Jahre Zeit, in denen er die „Missa solemnis“ und die drei letzten Klaviersonaten komponierte. Er wollte sich nicht mit den anderen in einen Topf werfen lassen und sprengte jeden Rahmen schon durch die Zahl von 33 Variationen und deren pure Unspielbarkeit.

Wieso Unspielbarkeit?
BUCHBINDER: Beethovens op. 120 ist so schwer wie die Besteigung des Himalaya. Das Werk ist riesig, Musik über Musik. Es spiegelt Beethovens Humor wider, seine Melancholie, seine Sensibilität, sein Temperament. Er orientiert sich an Bachs „Goldberg-Variationen“ und zitiert auch andere Götter wie Haydn und Mozart, dem er mit einem „Don Giovanni“-Motiv die 22. Variation widmet. Am Ende kehrt er zu sich selbst zurück, wenn er in der 33. Variation seine letzte Sonate zitiert und den schlichten Walzer in seine Einzelteile zerlegt, um sie komplex wieder zusammenzubauen.

Wie oft haben Sie die Diabelli-Variationen schon aufgeführt?
BUCHBINDER: Beethoven ist zentral in meinem Repertoire, seine Diabelli-Variationen sind mein Lebens-Leitmotiv. Vor 60 Jahren schenkte mir mein Klavierlehrer Bruno Seidlhofer die Noten – ich war sein jüngster Schüler an der Wiener Musikakademie, er nannte mich „Burli“. Seither begleitet mich Beethovens letzter Walzer. Bei der Uraufführung meines Diabelli-Projekts am 3. März im Wiener Musikverein habe ich Beethovens op. 120 zum 100. Mal in einem Konzert gespielt. Die geplante Welttournee wird hoffentlich nicht ganz dem Coronavirus zum Opfer fallen.

„Diabelli 2020“ umfasst auch Werke von Zeitgenossen …
BUCHBINDER: 2018 habe ich beschlossen, im Jubiläumsjahr den Diabelli-Zyklus in die Gegenwart fortzuführen, und bei elf zeitgenössischen Komponisten neue Variationen auf den Walzer bestellt. „Diabelli 2020“ reicht von der wunderbaren Russin Lera Auerbach über den chinesischen Oscar-Preisträger Tan Dun und den Japaner Toshio Hosokawa bis zum deutsch-englischen Tonsetzer Max Richter. Dazu kommen der Australier Brett Dean, der Österreicher Johannes Maria Staud, der Amerikaner Brad Lubman und der Russe Rodion Schtschedrin. Ich bin stolz auf alle.


Rudolf Buchbinders Beethoven zum Hören: Die neue Doppel-CD „The Diabelli Project“ (Deutsche Grammophon).

Rudolf Buchbinders Beethoven zum Lesen: Das Buch „Der letzte Walzer“ (Amalthea Verlag).