Ocean State – Interview mit Stewart O’Nan

©Trudy O’Nan

Mörderische Liebe

In „Ocean State“ erzählt Stewart O’Nan vom Mord unter Teenagern – und von den Bruchlinien der Gesellschaft. Ein Interview.

„Als ich im achten Schuljahr war, half meine Schwester dabei, ein anderes Mädchen zu töten.“ Mit diesem Spannung versprechenden Satz beginnt der in Pittsburgh lebende Autor Stewart O’Nan seinen neuen Roman. Marie erzählt rückblickend von ihrer Schwester Angel, die gegen Ende des Romans gemeinsam mit ihrem Freund Myles wegen Mordes an der ebenfalls in Myles verliebten Birdy vor Gericht steht. Wir sind an der Küste von Rhode Island in einer ehemaligen Industriestadt, in der die Menschen eher schlecht als recht über die Runden kommen. Sogar die Schülerinnen schuften, miserabel bezahlt in Aushilfejobs im Supermarkt & Diner.

Stewart O’Nan, der 2017 mit seinem Roman über ein schließendes Lokal „Letzte Nacht“ Gast bei „Eine Stadt.Ein Buch.“ war, ist ein Meister der Darstellung von gesellschaftlichen Umbrüchen und sozialen Verwerfungen. Als Leser erleben wir Liebe und Neid, Hass, Verzweiflung und Hoffnung sogenannter „einfacher“ Menschen hautnah ohne moralische Verurteilung mit. Am Schluss ist es natürlich die Tochter der geschiedenen Krankenschwester, die länger ins Gefängnis gesteckt wird als der Sohn der reichen Familie.

Wie entstand „Ocean State“? Gibt es einen realen Fall?

Stewart O’Nan: Der Fall, der meinen Roman inspiriert hat, ist der Mord an der 13-jährigen Mary Ann Measles in einer kleinen Flussstadt in Connecticut.

War der eindrucksvolle erste Satz des Romans  gleich zu Beginn Ihres Schreibens da?

Mein ursprünglich erster Satz war „Diesen Sommer lebten wir in einem Haus am Fluss.“ – eine Verneigung vor Hemingways „In einem anderen Land“ und Shirley Jacksons „Wir haben schon immer im Schloss gelebt“. Mein tatsächlicher erster Satz kam also später.

Der Satz bringt natürlich Spannung, aber Sie scheinen mehr an den Umständen als am Mord selbst interessiert, warum?

Das „Wie“ und besonders das „Warum“ ist für mich wichtiger – und dann vor allem die Konsequenzen des Mordes, also wie die Betroffenen damit leben müssen.

Nur eine Person spricht direkt – und zwar ausgerechnet die jüngste, die 13-jährige Marie, die natürlich am wenigsten versteht, warum?

Marie ist ruhig und introvertiert, aber sie ist auch die moralisch Wertende – und bis zum Mord war ihre große Schwester Angel ihr Idol. Ohne ihr Vorbild weiß sie nicht, wie sie sein soll – sie muss sich quasi neu erfinden. Sie versteht die Geschichte nicht ganz, obwohl sie ja auch betroffen ist, und deshalb trägt sie den Roman. 

Sie haben vier Hauptcharaktere, alle sind weiblich, warum?

Die Männer sind in dieser Geschichte schwach und kümmern sich nicht um das, worauf es ankommt, nämlich ihre Familien. Sie sind passiv, wärend Carol, Angel und Birdie die Konsequenzen ihres Handeln tragen müssen.

Die Gegend um Rhode Island scheint wie ein zusätzlicher Charakter im Roman, warum spielt der Roman gerade hier?

Ich habe die Küste von Rhode Island gewählt, weil ich sie besser kenne als die Kleinstadt in Connecticut. Im Lockdown konnte ich auch meine üblichen Erkundungen vor dem Schreiben nicht machen. Und die Küste bringt mehr Romantik und mehr Kontrast.

Der Roman spielt 2009, im ersten Jahr von Obama als Präsident, ist das wichtig für die Geschichte?

Ich wollte eine retrospektive Erzählerin, brauchte also eine Zeit, die zehn Jahre vergangen ist. Es passte auch gut in die Zeit des Zusammenbruchs der Immobilienblase, die wie ein Echo aus der Epoche des Industrieverfalls in den 70er- und 80er-Jahren erschien.

Ich lese den Roman als eine Parabel über Besitz. Beide Mädchen wollen den schönen, reichen Myles?

Ja, daran besteht kein Zweifel. Myles ist eine Trophäe. Sie brauchen ihn als eine Bestätigung ihrer Besonderheit, ihres Wertes. Aber was passiert, wenn sie diese Trophäe verlieren?

Das Streben nach Besitz erzeugt Gewalt – eine Kapitalismuskritik?

Ich denke, es ist mehr eine Warnung davor, was Liebe vermag. Uns in dem einen Moment erhöhen und im nächsten Moment unser Selbstwertgefühl völlig zu zerstören. Liebe macht uns glücklich, aber auch verzweifelt und eigentümlich. Birdy denkt sich Liebe als Besitz, der sie verändern kann und uns Dinge machen lässt, von denen wir wissen, dass wir sie nicht tun sollten.     


Stewart O’Nan: Ocean State
Aus dem Englischen von Thomas Gunkel
Rowohlt Verlag
ISBN: 978-3-498-00268-8
254 Seiten
€24,70