Buchtipp – Karl Ove Knausgård, Der Morgenstern
Der neue Skandinavien-Thriller
Der neue Skandinavien-Thriller kommt ausgerechnet von Karl Ove Knausgård.
Der Norweger Karl Ove Knausgård schrieb sich mit seinem autobiografischen, sechsbändigen Mammutwerk „Min Kamp“ (wörtlich: Mein Kampf) in die Spitzenriege der Weltliteratur. Eine derartige Selbstreflexion muss man natürlich mögen, zumal man heute als „alter weißer Mann“ (Knausgård ist Jahrgang 1968) nicht eben offene Türen einrennt. Aber Knausgård hat es geschafft und gilt längst als Kultautor. Als solcher hat er natürlich auch viele Feinde.
Sein neuer Roman „Der Morgenstern“ ist freilich endlich wieder ein fiktionales Werk. Und was für eines. Die knapp 900 Seiten sind erst der Anfang. Es ist daher noch unmöglich zu beurteilen, ob diese sehr spezielle Geschichte aufgeht. Knausgård überrascht nämlich mit einer Art Mysterienthriller. Er erzählt nur zwei Tage Ende August 2023, in Bergen, Norwegen. 9 Personen verfolgt er in diesen wenigen Stunden und alle sind mehr oder weniger fasziniert von einem Himmelsphänomen. Es erscheint nämlich ein besonders großer, heller Stern am Horizont, der alle rätseln lässt. Ist es eine Supernova oder die Ankündigung des Weltuntergangs? Zumal sich gleichzeitig merkwürdige Dinge ereignen. Da ist eine Straße plötzlich voller Krebse, ein Raubvogel reißt mitten unter Menschen eine Taube und Marienkäfer treten in Massen auf. Dazu kommt ein besonders grausamer Kriminalfall – drei von vier Mitgliedern einer Metal-Band werden bestialisch im Wald ermordet. Ein satanistisches Ritual? Die unsympathischste Figur des Romans ist natürlich ein Journalist, der von der Chronik ins Kulturressort strafversetzt wurde und jetzt eine neue Chance wittert – was ihn aber nicht davon abhält zu saufen und seine Frau zu betrügen, während sich sein Sohn das Leben zu nehmen versucht. Sehr breiten Raum erfährt ein Literaturprofessor aus Oslo mit seiner psychisch labilen Frau Tove, die Katzen den Kopf abschlägt, und den gemeinsamen drei Kindern. Knausgård beschreibt aber auch eine Krankenschwester, einen Kindergärtner oder eine Pfarrerin, die plötzlich einen Mann beerdigen soll, der ihr noch vor wenigen Stunden im Flugzeug auf die Nerven gegangen ist. In Wirklichkeit sind es ganz normale Alltagsszenen, die durch das Talent des Autors ziemlich lebendig werden. Keine Frage: Knausgård kann auch unterhalten. Wer bei diesem Schuss Mystik, der ja auch immer bei Haruki Murakami wohlfeil zu bekommen ist, nicht gleich abschnallt, wird „Morgenstern“ mit Interesse lesen und schon auf den nächsten Band gespannt sein.
Am Schluss noch eine Bemerkung zu dicken Büchern, die von vielen ja – von wegen Zeitaufwand – kritisiert werden. Dabei können schmale Bücher genauso leicht ausufernd sein und Nerven kosten. Echte Leserinnen und Leser haben Schmöker freilich noch nie abgeschreckt, zumal sie auf Seitenpreis berechnet, viel, viel billiger als dünne sind. Das ist doch in Zeiten einer galoppierenden Inflation ein Argument, oder?
Karl Ove Knausgård: Der Morgenstern
Aus dem Norwegischen von Paul Berf
Luchterhand
894 Seiten
€ 28,95