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Zwischen Wien und New York – Dirk Stermann erzählt in Gesprächen das erstaunliche Leben der Erika Freeman

Bevor sie sich um 10.30 zum Frühstück mit Dirk Stermann im Imperial trifft, behandelt sie immer noch via Skype ihre Patienten in New York und dabei ist es ihr gleich, dass es dort mitten in der Nacht ist. Erika Freeman ist jetzt 96, aber steht mitten im Leben – ein Triumph über die Nazis, die ihr in Wien nach dem Leben trachteten und alle schon tot sind.

1927 als Tochter eines jüdischen Arztes und einer Lehrerin in Wien geborenen musste sie mit 12 Jahren in die USA fliehen, wo sie zu einer weltberühmten Psychoanalytikerin wurde – angeblich lagen Stars wie Marlon Brando, Paul Newman, Marilyn Monroe oder Woody Allen auf ihrer Couch. Wenn diese es selbst nicht öffentlich machten, schweigt Freeman bis heute darüber. Außerdem war sie Gast vieler TV-Shows – auch die Sendungsmacher hatten ihr unglaubliches Talent für pointierte, witzige Sprüche erkannt.

Der Buchtitel „Mir geht’s gut, wenn nicht heute, dann morgen“ ist natürlich ein Zitat von ihr, die die Gabe hat, auch Schreckliches wie den Tod ihrer Mutter 1945 bei der Bombardierung des Philipphofs mit der Weisheit einer Frau, die viel erlebt hat, zu erzählen. Aus den vielen Frühstückstreffen hat Stermann jetzt ihr mit vielen Anekdoten gewürztes Leben erzählt. Oft schickt sie ihm später auch noch Sinnsprüche via SMA nach: „Wenn eine Frau auf Sex verzichten will, dann muss sie ihn heiraten.“

Freeman, deren Mutter als Vorbild für Isaac Beshevis Singers mit Barbra Streisand verfilmte Kurzgeschichte „Yentl“ gilt, hat zweifelsohne viel zu erzählen, von Flucht und Verfolgung, von Karriere und Prominenten, von Analysen und Analytikern. Dass Freeman jetzt im Imperial wohnt, hängt mit der Pandemie zusammen. Sie ist quasi nach einer Herzoperation in Wien gestrandet und war zeitweise der einzige Gast im Hotel. Inzwischen hat sie auch wieder die österreichische Staatsbürgerschaft.

Bei einer Gala in New York hatte sie ihrer Freundin Hilary Clinton ihr Österreichisches Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst gezeigt und erklärt: „They tried to kill me, now they decorate me.“
„Mir geht’s gut, wenn nicht heute, dann morgen“ ist ein Buch, das man sehr gerne liest, weil es so leicht und anekdotisch daherkommt – als Wiener freilich immer mit einem ambivalenten Gefühl. Schließlich hatten unsere Vorfahren sie ja tatsächlich zur Vernichtung vorgesehen.


Ein seltsames Leben – Monika Helfer erzählt in „Die Jungfrau“ von einer reichen, schönen Freundin

Ein Buch, das ich problemlos an einem Tag im Bad lesen konnte und das trotzdem einen großen Eindruck zurücklässt. Die Vorarlbergerin Monika Helfer, die mit ihren autobiografischen Romanen „Die Bagage“ (2020), „Vati“ (2021) und „Löwenherz“ (2022) spät, aber verdientermaßen, zum Literaturstar wurde, beschreibt in ihrem neuen Buch die Jugendfreundschaft mit der gleichaltrigen Gloria, die all das besitzt, was sie selbst – Moni – nicht hat: Ein Haus, Bedienstete, Geld und Schönheit. Doch zwischen den Fallstricken des Lebens scheint sich die glänzende Gloria geradewegs zu verlieren.

Die Aufnahmeprüfung im Reinhardt-Seminar schafft sie mit Bravour, doch als sie sich in einen verheirateten Lehrenden verliebt, wird es nichts mehr mit der Karriere. Hochdramatisch legt sie sich vor die Schwelle seiner Wohnung, die Ehefrau steigt nur darüber und nimmt es sogar hin, dass ihr Mann bei Gloria einzieht. Zu Sex soll es allerdings niemals kommen – Moni ist nicht ganz sicher, ob sie ihrer Freundin glauben soll. Zum 70. Geburtstag kommt ein Brief von Gloria – man hatte sich längst aus den Augen verloren – und Moni besucht die Freundin, die noch immer im Elternhaus wohnt, wo ihre halbverrückte Mutter mutmaßlich Unsummen an Geld versteckt hat, was die Tochter nicht interessiert.

Helfer ist eine ebenso genaue wie reflektierte Erzählerin. Nie gibt sie etwas als gewiss aus, stets hinterfragt sie sich, wie es gewesen sein könnte und was das für sie damals bedeutete. Sie selbst wohnte damals ja in einer beengten Wohnung, Geld war immer knapp und trotzdem nicht so wichtig. Moni heiratet früh – eine der einprägsamsten Stellen im Buch ist die Szene, in der sie von ihrem Schwager bei der Hochzeit entführt wird – ein alter Brauch – und dann vom Bräutigam nicht gefunden wird, obwohl sie genau dort sind, wo es am wahrscheinlichsten gewesen ist. Ein kluges Buch über die Möglichkeiten einer Biografie und die Zeit des Wirtschaftswunders in Österreich.


Ein seltsames Leben – Monika Helfer erzählt in „Die Jungfrau“ von einer reichen, schönen Freundin.

Monika Helfer: Die Jungfrau
Hanser Verlag
150 Seiten
23,50

Deutschland und Russland vereinen – Ein historischer Roman über eine außergewöhnliche Bolschewikin

Im Schachspiel gibt es den raffinierten Spielzug des Damenopfers, bei dem die wertvollste Figur dem Gegner zum Fraß vorgeworfen wird und – so dieser anbeißt – in wenigen Zügen mattgesetzt werden kann. Steffen Kopetzky lässt in seinem neuen Roman seine Protagonistin Larissa Reissner eben jenen Schachzug machen, um einem Großmaul ebendieses zu stopfen. Die ruhmreiche Kämpferin der Roten Armee und Journalistin Larissa Michailowna Reissner ist freilich eine historische Figur. Obwohl sie bereits mit 30 Jahren an Typhus starb, wurde sie wegen ihrer Schönheit und ihres furchtlosen Einsatzes gegen die monarchistische Weiße Armee zur Legende – zumal sie auch als Spionin agierte.

Kopetzky, 1971 in Oberbayern geboren, ist ein gewiefter Erzähler. In seinem Bestseller „Monschau“ verarbeitete er etwa einen realen Pockenausbruch in den 60er-Jahren zu einem packenden deutschen Wirtschaftskrimi. Im neuen Roman faszinierte ihn ganz offensichtlich eine mögliche Annäherung des wirtschaftlich am Boden liegenden Deutschland nach dem 1. Weltkrieg und der sich mit vielen Schwierigkeit sich entwickelnden Sowjetunion noch unter Lenin. Larissa verbringt die Jahre nach dem Bürgerkrieg mit ihrem Mann, einen verdienten General der Roten Armee, in Afghanistan und findet dort den versteckten Plan eines deutschen Offiziers zum Angriff auf die britische Kolonie Indien von Kabul aus.

Larissa gelingt es – sie ist ja deutscher Herkunft, Deutsch ist ihre zweite Muttersprache – den deutschen Offizier ausfindig zu machen. Gleichzeitig versucht sie als inoffizielle Vertreterin des Politbüros und vor allem Trotzkis die Revolution in Deutschland zu befördern. Gelingt das – so ist nicht nur sie überzeugt – würde das einen Flächenbrand in Europa und sogar in den USA auslösen. Als Geliebte einiger wichtiger Männer bewegt sie sich sowohl in Moskau als auch Berlin zunächst recht frei. Doch Lenin hat seine Nachfolge nicht geregelt, er macht nichts, um Stalin zu verhindern, den er für einen skrupellosen Hitzkopf hält. Und der wesentlich intelligentere Trotzki steht sich bekanntlich selbst im Wege.

In „Damenopfer“ erfahren wir viel über die Stimmung in Deutschland und Russland nach dem Krieg. Zwar überfordert Kopetzky manchmal durch allzu viele Figuren seine Leser, doch in Summe ist dieser Roman ein intellektueller Genuss.


Deutschland und Russland vereinen – Ein historischer Roman über eine außergewöhnliche Bolschewikin.

Steffen Kopetzky: Damenopfer
Hanser
444 Seiten
€ 26,80

Das Grauen im Beziehungsalltag – Barbi Marković und ihr „Minihorror“

Mini und Miki sind ein Paar und leben in Wien. Sie ist Schriftstellerin und kommt aus Serbien, er arbeitet im Büro und stammt aus der Steiermark. Sie wollen „nett sein, aber nichts ist einfach“, heißt es gleich zu Beginn, denn überall außerhalb ihrer Beziehung lauert sowieso der Horror. Schon in der ersten der Geschichten über die beiden schleicht sich eine Cousine von Mini ein, die ganz harmlos tut, aber laut Mini ein „fleischfressendes Monster“ ist. Muss man schnell loswerden.

Schaurig auch die Story, in der Mini plötzlich in den sozialen Netzwerken die Befugnis erhält, fremde Beiträge zu löschen und sich gar nicht mehr von ihrem Smartphone trennen lässt oder wie Miki auf einen Arzt trifft, der ihn nicht zu Wort kommen lässt weil er ihm ununterbrochen von seinen eigenen Leiden und Symptomen erzählt. Zwischendurch trennt sich Mini von Miki, weil der zum Guru wird und erst kein Fleisch und dann nur noch Obst isst. Entlarvend komisch auch das Interview Minis mit einer Fernsehredakteurin.

Am Ende gibt es – bei den „105 weitere mögliche Horrors mit Mini und Miki“ als Draufgabe Zeichnungen der Autorin.

Barbi Marković, in Belgrad geboren und seit 2006 in Wien ansässig, schreibt in kurzen, einfachen Sätzen, die einen aber manchmal wie Axthiebe treffen. Sprachliche Verschleierungen sind ihre Sache nicht. Und deshalb wirkt ihr Alltagshorror auch so stark und unmittelbar. Ein ungemein gelungenes Buch, das man ungern aus der Hand legt, weil man immer noch mehr Geschichten von Mini und Mike lesen möchte.


Barbi Marković: Minihorror
Residenz Verlag
192 Seiten
€ 25,-

Lesen & Leben – Navid Kermanis „Das Alphabet bis S“

Navid Kermani ist ein deutscher Autor, dessen Eltern schon lange vor seiner Geburt aus dem Iran in die Bundesrepublik geflohen waren. Der studierte Orientalist arbeitete als Journalist u.a. beim SPIEGEL, für seinen Roman „Dein Name“ erhielt er den Kleist-Preis.

In seinem neuen Buch erzählt er von einer in Köln lebenden iranstämmigen erfolgreichen deutschen Schriftstellerin, deren Mutter gerade gestorben ist und deren betagter Vater die Realität nicht mehr wahrhaben will. Dazu erleidet ihr minderjähriger Sohn einen Herzinfarkt, was die namenlose Erzählerin natürlich ziemlich mitnimmt. Außerdem hat sie sich von ihrem Mann getrennt – es gäbe also viel zu reflektieren, zumal der Roman eigentlich ein Tagebuch ist. Doch viel mehr als alles Persönliche scheint sie ihre nach dem Alphabet geordnete Bibliothek zu beschäftigen, als sie beschließt, den bisher ungelesenen Autoren eine zweite Chance zu geben. Und so finden wir in dem fast 600 Seiten starken Buch viele Zitate und Meinungen zu so unterschiedlichen Autoren und Autorinnen wie Peter Altenberg, Emil Cioran, Emily Dickinson, Salvador Espriu, Fukazawa Shichiro oder Julien Green und Hermann Hesse. Sie kommt dabei – wie der Titel vermuten lässt – nur bis S.  

Das gibt Kermani Gelegenheit, über so ziemlich alles in der modernen Welt eine Meinung zu verbreiten – zumal aus weiblicher Sicht. Banales findet sich da neben allerlei Geistreichem. Schließlich ziehen sich die Themen Tod und Verlust durch den ganzen Text – die Autorin erlebt etwa eine Papst-Audienz, bei der sie das Oberhaupt der Katholiken bittet, um ihn zu beten. So nebenbei besucht sie mit ihrem Vater die Verwandten in Teheran oder fährt ans Meer. Sie scheint dabei ein wenig aus der Zeit gefallen, sucht etwa nach einem Labor, das noch analoge Fotos entwickelt und mokiert sich darüber, dass in Deutschland auch gute Freunde die Rechnung im Lokal teilen. Manchmal ist sie auch selbstkritisch: „Ärgere mich über die Nichte, weil sie keinen Bikini mehr trägt, seit sie fromm ist, keinen kurzen Rock, kein enges T-Shirt. Ich selbst trug noch nie dergleichen, jedoch aus anderen, den richtigen Gründen, versteht sich.“, notiert sie.

Der Umfang des Buches sollte nicht abschrecken – die einzelnen Notate lassen sich auch überspringen, wenn sie gerade nicht interessieren. Alles in allem ein bemerkenswerter Lesestoff.


Navid Kermani: Das Alphabet bis S
Hanser Verlag
592 Seiten
€ 33,95

Spiel mit realem Personal – Buchtipp von Helmut Schneider

Gleich nach der Wahl 2021 wird der über 2G nachdenkende Corona-Gesundheitsexperte Professor Bernburger als neuer Minister gehandelt, während sein Sohn ganz andere Theorien über den Lauf der Welt anhängt und ein paar Freunde in die schwerbewachte Wohnung des Vaters einlädt. Und die literarische Szene Berlins erwartet mit Spannung den Auftritt des französischen Starautors Bernard Entremont, der sich mit seinen Ausfällen gegenüber anderen – namentlich muslimischen – Kulturen einen Namen gemacht hat.

Christoph Peters, Autor bereits zahlreicher Romane und Erzählungen, setzt den zweiten Teil seines Deutschlandromanprojekts „Trilogie des Scheiterns“ in die heikle Nach-Corona- und Neue-Regierungs-Zeit in Berlin an. Sein Personal hat – wie unschwer zu erkennen ist – reale Vorbilder. Konkret den kettenrauchenden, trinkenden Michel Houellebecq und den pastoral gestimmten deutschen Gesundheitsminister Karl Lauterbach. Es macht natürlich Spaß, den französischen Skandalautor durch das Luxushotel wanken zu sehen oder wie der Gesundheitsminister in spe gegenüber Jugendlichen ausfällig wird. Doch Peters bringt auch noch andere, weniger lustige Figuren ein. Etwa einen Flüchtling, der gelinkt und in Selbstverteidigung zum Mörder wird, eine Mutter, die ihre Tochter nur als Belastung empfindet – zumal diese gerade einen Türken heiraten will. Vorurteile feiern fröhliche Urstände. Der Imam wartet schon auf das heiratswillige Paar. Und selbstverständlich darf auch ein Schriftsteller mit Schreibhemmung nicht fehlen, ebenso wie Gesellschaftsdamen, Escort-Girls und Halbstarke. Peters hat durchaus den Ehrgeiz, ein Panoptikum der heutigen Berliner Szene zu schaffen. Dass sich der Roman so gut liest, liegt an der Kunst des Autors mit wenigen Sätzen Stimmungen zu erzeugen und Personen zu charakterisieren.

Christoph Peters: Krähen im Park
Luchterhand
320 Seiten
€ 25,50

Roman über die sterbende Provinz – Gabriele Kögls „Brief vom Vater“

Meist sind Menschen erstaunt, wenn sie erfahren, dass die Suizidrate am Land viel höher ist als in Wien. Die geborene Steirerin Gabriele Kögl hat einen Roman geschrieben, in dem eine einfache Frau, die als Friseurin in einer Kleinstadt lebt, gleich zwei Selbstmorde zu verkraften hat, wie schon auf den ersten Seiten klar wird. Rosa hat keine großen Ansprüche, aber ein bisschen Luft und Freiraum für sich – etwa mit Freundinnen einen Kaffee zu trinken – braucht sie schon. Und so wird ihr die früh eingegangene Ehe mit dem Tischler Sigi bald unendlich langweilig. Sigi hat sie als Schützenkönig auf allen Volksfesten zuerst begeistert, doch bald muss sie erfahren, dass er sonst nichts im Leben anstrebt, als rauchend vor dem Fernseher zu sitzen. Als sich der Drogeriebetreiber Klaus für die hübsche Rosa interessiert, lässt sie Sigi zurück im schlecht isolierten Haus, das sie von ihrer Mutter geerbt hat. Und den inzwischen geborenen Sohn Severin kann sie mitnehmen in die neue Ehe. Damit steigt sie in die bessere Klasse auf – Klaus verkehrt mit dem Juristen und den Ärzten des Städtchens. Aber natürlich gibt es auch Schattenseiten. Auch Klaus hat Besitzansprüche, die größer sind als seine prachtvolle Wohnung. Und bald zieht die neue Zeit in das Städtchen und schafft Probleme für die Geschäfte im Ort. Ein Einkaufszentrum zieht die Bewohner magisch an – mehr Auswahl, billigere Preise. Und so ist Klaus bald pleite. Schlimmer noch – er wird krank und stirbt.

Doch auch Sigi hat in der neuen Ehe in Tirol nicht das große Glück gefunden. Als seine zweite Frau ihren Liebhaber nicht aufgeben will, bringt er sich in seinem neuen Mercedes um – Autos waren für ihn immer wichtig gewesen. Der Sohn Severin hatte immer zu seinem Vater gehalten, zumal er von den Kindern von Klaus immer nur drangsaliert wurde. Er findet keinen Platz im Leben und bringt sich ebenfalls um – Rosa bleibt allein zurück.

Gabriele Kögl ist ein ebenso stiller wie brisanter Roman über die sterbende Provinz gelungen – die Beweggründe ihrer Figuren sind nachvollziehbar. Natürlich ist das auf den ersten Blick düster, aber mit Rosa schildert sie eine Frau mit erstaunlicher Resilienz. Die Frauen im Buch scheinen mit den neuen Gegebenheiten, die sich nicht so leicht ändern lassen, besser zurechtzukommen.

Gabriele Kögl: Brief vom Vater
Elster & Salis
208 Seiten
€ 25,50

Das zweite Leben des Erik Montelius – Daniel Wissers Schelmenroman „012“

Wenn jemand 30 Jahre nach seinem frühen Tod wiederkommt, um sein früheres Leben wieder aufzunehmen, ergibt das natürlich Komplikationen. Welche, das hat der in Wien lebende Autor Daniel Wisser in seinem neuen Roman erforscht. Sein Protagonist und Erzähler Erik Montelius lässt sich – weil sein Krebs nicht heilbar ist – nach durchaus erfolgreicher Karriere als Computerpionier einfrieren. In der Gegenwart wird er operiert und wacht auf – als erster Mensch, der die kryotechnische Konservierung sozusagen überlebt. Im ersten Teil denkt er, im Krankenhaus liegend, viel über sein voriges Leben nach. Trost und Rat holt er sich von Beatles-Songs, denn „Abbey Road“ war im ersten Leben quasi seine Bibel. Turbulent wird es erst, als er zu seiner früheren Frau Kris heimkehrt, denn diese hat inzwischen seinen Kompagnon und Freund geheiratet. Sein Sohn ist natürlich längst erwachsen. Montelius erlebt die Seltsamkeiten unserer Zeit mit der Brille der 90er-Jahre: Autos sind groß wie Panzer und fahren noch immer mit Benzin, Plastik ist sowieso überall und unvermeidlich. Erst zögerlich bedient er sich Neuerungen wie Smartphones. Nicht ganz unbegründet nimmt er an, dass sein ehemaliger Partner ihn beim Verkauf ihrer Firma betrogen hat. Als er einer Journalistin vom Lokalfernsehen ein Interview gibt, läuft die internationale Medienmaschinerie an – sogar CNN fragt an. Auch ein Verlag hat Interesse an seiner Biografie – was wir lesen ist sozusagen das launige Manuskript, das Montelius abgeben will.

Zum eigentlichen Problem wird allerdings, dass er offiziell gar nicht existiert, denn er hat ja nur seinen Totenschein. Und ausgerechnet mit der eigenwilligen Tochter seines Kompagnons beginnt er eine neue Beziehung – wissend, dass er mutmaßlich wegen seiner wiederkehrenden Krebserkrankung und dem schlechten Zustand seiner Organe nicht mehr lange leben wird. Montelius landet schließlich zuerst im Gefängnis und dann in einen Asylantenheim – als Existenz, die es gar nicht geben kann. Dazwischen brennen SUVs und Menschen sterben unter ungeklärten Ursachen.

Daniel Wisser ist ein sehr flüssig zu lesender Roman über unsere Zeit gelungen. Mit scharfer Beobachtungsgabe zeigt er die Verwerfungen unseres Daseins auf. Der phantastische Plot ist nur die Folie, um Spießertum und Gedankenlosigkeit sichtbarer zu machen.


Daniel Wisser: 012
Luchterhand Verlag
450 Seiten
€ 26,50

Mit den Augen eines Kindes – Sepp Malls Geschichte einer südtiroler Familie „Ein Hund kam in die Küche“

Weil Hitler Mussolini brauchte, verriet er die deutschsprachigen Südtiroler – obschon er überall sonst in Europa Deutschsprachige „heim ins Reich“ holte. In Italien sollte fortan nur noch italienisch gesprochen werden, wer wollte, konnte das Angebot der Nazis annehmen und sich im deutschen Reich ansiedeln.

In Sepp Malls Roman „Ein Hund kam in die Küche“ verlässt eine südtiroler Familie ihren Heimatort und wird zunächst in Oberösterreich angesiedelt. Vater muss sowieso bald einrücken, aber es gibt noch ein weiteres Problem. Der jüngere Sohn Hanno ist aufgrund Komplikationen bei der Geburt behindert, er kann nur schwer gehen und sprechen. Unter dem Vorwand, ihn besser fördern zu können, muss er beim Eintritt ins Reich in ein Heim bei Innsbruck zurückgelassen werden. Beim Lesen wird schnell klar, dass es sich um ein Euthanasie-Heim handelt. Mall erzählt die tragische Geschichte aus der Sicht des zuerst 11jährigen zweiten Sohns, der zu seinem Bruder eine besondere Liebe entwickelt hat. Und er schafft immer wieder Bilder, die sich ins Gedächtnis brennen: Ein verendeter Hirsch im Wald wird zur Metapher des Leides.

Der jugendliche Ich-Erzähler findet überall, wo die Familie in ihrer Odyssee landet, einen Freund, eine Freundin. Und immer wieder besucht ihn auch sein inzwischen als an einer „Lungenentzündung“ verstorben gemeldeter Bruder Hanno. Sozusagen als Geist. Wer da nicht gerührt ist, hat kein Herz, gerade weil der Autor eben nicht klischeehaft oder auf Gefühle hinzielend schreibt. Dadurch entwickelt der Text eine ungeheure Wucht, der man sich kaum entziehen kann.

Nach Ende des Krieges kehren die Mutter und der jetzt 14jährige Erzähler wieder nach Südtirol zurück – sie passieren illegal die Grenze. Natürlich ist dort alles anders und als der Vater gebrochen aus dem Krieg kommt und zu trinken beginnt, ist es schwer, sich für die Familie eine bessere Zukunft vorzustellen. Der Roman ist zurecht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.


In „Ein Hund kam in die Küche“ verlässt eine südtiroler Familie ihre Heimat während der Zeit von Mussolini um sich in Österreich anzusiedeln.

Sepp Mall: Ein Hund kam in die Küche
Leykam
192 Seiten
€ 25,50

Kinder alleingelassen – Der Erzählungsband „Mann im Mond“ von Lana Bastašić

Ein Sportlehrer verhöhnt eine Schülerin, weil sie zwar gut in Mathematik ist, aber beim Laufen nicht mit den anderen mithalten kann. Immer wieder lässt er sie im Kreis laufen, während die Mitschülerinnen längst wieder in ihren Klassen sitzen. Da bekommt er plötzlich keine Luft mehr und das Mädchen muss sich entscheiden, ob sie ihm zu Hilfe kommen soll. Eine alte Erbtante präsentiert in einem skurrilen alten Haus ihre Nichte ihren nackten Busen und lässt ihn von ihr anfassen. Ein Bub wird von seinem Vater zum Schwimmunterricht genötigt. Da erscheint ihm sein Idol Spiderman und reicht ihm nicht nur die fehlende Klopapierrolle auf der Toilette, sondern verschafft ihm auch den Mut, sich gegen Papa zu wehren. Die in Zagreb geborene und in Bosnien aufgewachsene Schriftstellerin Lana Bastašić, die inzwischen vor allem in Barcelona lebt, zeigt uns in ihren Erzählungen Kinder, die mit ihren Sorgen alleingelassen werden. Sie müssen Alkohol aus dem Laden holen oder auf ihrem Instrument üben, obwohl sie kein Talent haben. Die Autorin schafft es, die existenziellen Nöte dieser Kinder direkt in Sprache zu verwandeln. Ein verstörendes Buch.


Lana Bastašić: Mann im Mond
Erzählungen
Aus dem Bosnischen von Rebekka Zeinzinger
S.Fischer
206 Seiten
€ 25,50