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Aufwachsen in Rom, leben zwischen Berlin und Italien – Veronica Raimos Familienroman „Nichts davon ist wahr“

Aufwachsen in Rom, leben zwischen Berlin und Italien – Veronica Raimos Familienroman „Nichts davon ist wahr“

Eine Tochter im Schatten des als Genie angesehenen Bruders – mit einem Vater, der die kleine Wohnung mit Zwischenwänden zu einem Labyrinth mach und einer Mutter, die ihren Kontrollzwang an ihren Kindern auslebt. Veronica Raimo erzählt in Ich-Perspektive von einem Leben, das ihrem ziemlich gleicht. Raimos Bruder ist ebenfalls Autor und sie pendelt gerne zwischen Berlin und Rom. Es ist ein Buch voller kleiner und großer Katastrophen – vom Leiden unter Verstopfung, einem gescheiterten Ausbruchsversuch als Teenager bis zu für sie schrecklichen Besuchen bei der Familie in Apulien und Freundinnen, bei denen der Kontakt abbricht.

Diese Aufzählung lenkt allerdings davon an, wie witzig dieses Buch zu lesen ist. Die Lektüre ist ein großes Vergnügen, denn Raimo besitzt eine stupende Lebensweisheit. Und natürlich nimmt man als Leser an, dass – konträr zum Titel des Buches – alles so oder so ähnlich geschehen ist. Die Langeweile in der Kindheit, die seltsamen medizinischen Behandlungsmethoden des Vaters, die dauernden Anrufe der Mutter und eine Abtreibung, die für sie doch nicht so easy wie gedacht abläuft. Und jede Familie hat auch ihre Geheimnisse – die Tochter kommt dahinter, dass ihr Vater eine Geliebte hatte und Mutter wahrscheinlich davon wusste. Am Ende stellt sich Raimo jener Frage, die sich Schriftsteller immer stellen müssen: Warum schreibt sie? Nämlich konkret sogar über „zwiespältige und frustrierende Dinge“. Wenn das Ergebnis so unterhaltend ist wie dieses Buch, können wir nur hoffen, dass Raimo damit weitermacht.


Veronica Raimo: Nichts davon ist wahr
Aus dem Italienischen von Aufwachsen in Rom, leben zwischen Berlin und Italien – Veronica Raimos Familienroman „Nichts davon ist wahr“ von Koskull
Klett-Cotta
224 Seiten
€ 22,70


Der 1972 in der Schweiz geborene Autor und Theatermacher Lukas Bärfuss ist bei uns weniger bekannt, in Deutschland aber – dank Büchner-Preis und vielen Theaterprojekten – ein Star.

Arm in der Schweiz – Lukas Bärfuss „Die Krume Brot“

Der 1972 in der Schweiz geborene Autor und Theatermacher Lukas Bärfuss ist bei uns weniger bekannt, in Deutschland aber – dank Büchner-Preis und vielen Theaterprojekten – ein Star. Er gilt als scharfer Sozialkritiker und sein neuer Roman „Die Krume Brot“ handelt auch von einer Frau, die für ein bescheidenes Leben hart kämpfen muss. Und das in der von Wohlstand geprägten Schweiz. Wir sind in den 70er-Jahren, viele Italiener arbeiten – ohne sozial halbwegs abgesichert zu sein – in Zürich. Adeline hat zwar auch eine italienische Herkunft – die Familiengeschichte ihrer Großeltern und Eltern wird breit erzählt –, sie wächst aber schon in der Schweiz auf – ihr Vater hinterlässt ihr allerdings nur Schulden, die sie aus Stolz auch noch übernimmt. Als Schweizerin wird sie von den Hiesigen aber trotzdem nie anerkannt. Dazu kommen eine sehr dürftige Schulbildung und die Unvorsichtigkeiten der Jugend – sie heiratet aus Liebe einen italienischen Arbeiter und bekommt eine Tochter als der schon wieder in den Süden Italiens abgetaucht ist. Für Adeline spricht ihr Fleiß und ihr starker Wille, sich und das Kind mit harter Arbeit in der Fabrik durchzubringen. Als sie dann einen Schweizer Grafiker und Unternehmer kennenlernt, scheint sich – obwohl sie ihn nicht liebt – das Blatt zu wenden. Doch natürlich stellt sich auch dieser als Schuft heraus, der eigentlich nur an dem Kind interessiert war. Adeline gerät in ihrer Verzweiflung über das von ihm entführte Kind sogar in die Nähe von Aktivisten der berüchtigten Brigate Rosse, deren Kampf sie als Deklassierte natürlich nachvollziehen kann. Sie lässt sich als Botin missbrauchen – im Gegenzug soll sie ihr Kind wiederbekommen. Das Ende scheint vorgezeichnet, Hoffnung spendet Bärfuss nicht. Aber hat Adeline überhaupt ein Recht auf ihr Kind, wenn sie ihm keine Zukunft bieten kann? Das muss sie sich als Mutter fragen.

„Die Krume Brot“ ist ein gut lesbarer Roman zu einem Thema, vor dem sich bekanntlich viele Autoren drücken. Bärfuss kenn das Milieu aber genau, er hat Erfahrungen als Arbeiter und war in seiner Jugend sogar mehrfach obdachlos. In einem Interview erklärte er: „Ich weiß, was es heißt, arm zu sein.“ Ein Buch, das nachdenklich machen sollte.


Lukas Bärfuss: Die Krume Brot
Rowohlt
224 Seiten
€ 23,50

Vom ganz normalen durchgeknallten Alltag – Heinz Strunks neues Buch mit kurzen Geschichten.

Vom ganz normalen durchgeknallten Alltag – Heinz Strunks neues Buch mit kurzen Geschichten

Heinz Strunk wurde mit seinem auch später verfilmten Roman „Fleisch ist mein Gemüse“ bekannt, in dem er von einem jungen Musiker in einer Tanzband, die auf diversen Dorffesten spielt, erzählte. Mit dem Roman über einen Hamburger Frauenmörder „Der Goldene Handschuh“ – so der Name der Kneipe, in der der asoziale Killer verkehrte – erreichte er einen literarischen Höhepunkt.

Insgesamt hat der 1962 in Bevensen geborene Autor, Musiker und Schauspieler bereits 11 Bücher veröffentlicht, die meisten davon sind satirisch und oft sarkastisch, wobei sich Strunk nicht scheut, sich im sogenannten bildungsfernen Milieu zu bewegen. Sein neuestes umfasst 30 Miniaturen, einige nur so lang wie Gedankenbilder, andere sind durchaus Erzählungen. Es beginnt schon mit einem Abendessen zweier Paare, die sich im Urlaub kennengelernt hatten und nun – da sie nicht weit voneinander wohnen – ihre Freundschaft auf die Probe stellen wollen. Daraus wird aber nichts, denn beim gemeinsamen Essen im Restaurant müssen sie erkennen, dass ihre Lebensweisen komplett verschieden sind. Strunk ist ein sehr genauer Beobachter deutscher Kleinbürger und natürlich ein exzellenter Satiriker. Seine Hiebe sitzen immer.

Schwer auszuhalten ist etwa seine Geschichte über einen älter gewordenen Sportfanatiker, der die Anweisung seines Arztes – höchste Arthrosegefahr – ignoriert und im Keller seines Hauses weiter ohne Hemmungen an den Geräten trainiert. Zu den Knochenbrüchen, die er sich zuzieht, kommt die Unmöglichkeit, Hilfe zu holen, dazu. Er verendet qualvoll in einer Truhe, was Strunk sehr genau und wohl auch mit Genuss beschreibt. Das ist hart, auch wenn der Typ natürlich alles andere als sympathisch erscheint.

Dazu kommen als Personal ein schwer drogenabhängiger Afghane, militante Tierschützer, diverse Rentner, ein nervtötender weiblicher Fan, das Opfer einer Thai-Massage und weitere Versager von nebenan. Eine etwas andere Urlaubslektüre. In der Titelgeschichte geht es übrigens um den Traum eines Schriftstellers von einem anderen berühmten Schriftsteller.


Heinz Strunk: Der gelbe Elefant
Rowohlt
208 Seiten
€ 22,70

Das Aufwachsen in einer Sozialsiedlung in der schottischen Arbeiterstadt Glasgow war in den 90er-Jahren mit Sicherheit herausfordernd.

Glasgow in den 90ern – Douglas Stewarts Außenseiterroman „Young Mungo“

Das Aufwachsen in einer Sozialsiedlung in der schottischen Arbeiterstadt Glasgow war in den 90er-Jahren mit Sicherheit herausfordernd. Aber wenn man wie Mungo noch dazu eine Alkoholikerin als Mutter hat, die sich meist von irgendwelchen Liebhabern aushalten lässt und daher abwesend ist und einen älteren Bruder, der eine Karriere als Boss einer Halbstarken-Gang eingeschlagen hat, dann ist das die Hölle pur. Zumal wenn man wie der Glasgower Schutzpatron Mungo heißt und noch dazu entdeckt, anders, nämlich schwul zu sein.

Douglas Stewart wurde mit seinem ähnlich gelagerten Sozialroman „Shuggie Bain“, der 2020 mit dem Booker-Prize ausgezeichnet wurde, schlagartig berühmt. „Young Mungo“ spielt im gleichen Milieu und ist sozusagen eine Weiterentwicklung des Themas. Man liest staunend vom Alltag eines Teenagers, der von mangelhafter Ernährung, Diskriminierung und schließlich auch von körperlicher Gewalt geprägt ist. Da sich Mungo zu oft mit einem nur 1 Jahr älteren Jungen bei dessen Taubenschlag herumtreibt, will seine Mutter ihn abhärten, ihm echte Männersachen lehren und schickt ihn ausgerechnet mit 2 verurteilten Missbrauchstätern, die sie nur aus Meetings bei den Anonymen Alkoholikern kennt, zu einer Angeltour. Die höchst dramatische Geschichte in den Wäldern nahe Glasgow ist die Klammer des Romans. Wie sich zeigen sollte, ist der 15jährige Mungo wehrhafter als befürchtet.

Dazwischen gibt es Einbrüche und brutale Kämpfe zwischen den katholischen und protestantischen Jugendlichen zu überstehen. Die verschiedenen Konfessionen sind sowieso völlig irrelevant – niemand ist gläubig –, gesucht sind bloß Objekte für Wut. 

Sophie Zeitz hat den schottischen Sozialsiedlungs-Jargon in eine deutsche Umgangssprache übertragen, es ist klar, dass das ohne Reibungsverluste unmöglich ist. Doch die Dialoge lesen sich flüssig, die reduzierte Sprache wird erlebbar.


Douglas Stuart: Young Mungo
Aus dem Englischen von Sophie Zeitz
Hanser Berlin
416 Seiten
€ 26,80

Eine Brutalität, die nachwirkt – Anne Rabes Roman über eine Kindheit in einer DDR-Familie nach dem Mauerfall

In der Geschichte gibt es keine Stunde Null, denn alles, was in Gegenwart und Zukunft geschieht oder geschehen wird, hat bereits eine Vorgeschichte. Anne Rabe demonstriert diesen Grundsatz anhand einer Familie, in der nach dem Zusammenbruch der DDR die Brutalität des Regimes weiterlebt. Das Mädchen Stine – die Erzählerin des Romans – kommt 1986 zur Welt, erlebt die DDR also nicht mehr bewusst. Und doch wollen Stines Eltern die neue Realität nicht wirklich wahrhaben, zumal sich zu Hause nicht viel ändert. Denn im Gegensatz zu vielen anderen in Rostock können die Eltern schnell in ihren Jobs weiterarbeiten. Mutter ist Erzieherin und das bedeutet für Stine nichts Gutes, denn in der DDR war die schwarze Pädagogik Standard. Mit Erziehungsmaßnahmen wurde alles Abweichlerische unterdrückt und hart bestraft. Prügel sind daher in Stines Familie Alltag, auch den jüngeren Bruder Tim kann das Mädchen nicht vor Mutters Schlägen schützen. Und Papa tut sowieso immer unbeteiligt.

Als Stine älter wird, drohen neue Gefahren. Die ehemalige DDR wird zum Aufmarschgebiet der Neonazis, die schon an den Schulen nicht nur sogenannte Ausländer verdreschen und demütigen. Aber auch bei ihren Freundinnen hat Stine Schwierigkeiten, gelten doch die Mitglieder ihrer Familie als „Rote Socken“, also die ehemaligen Nutznießer der DDR. Überhaupt haben es die, die den Umsturz herbeigeführt haben, später schwerer als die Mitläufer und Angepassten, denn anders als den Oppositionellen war ihnen eine höhere Bildung nicht verwehrt – und mit bessrer Bildung gibt es eben mehr Jobmöglichkeiten.

Stine möchte später die Geschichte ihrer Vorfahren, vor allem ihres Großvaters, der überzeugter Kommunist war, recherchieren. Auch weil er schon vor dem Krieg im Elend leben musste und dem Tod an der Ostfront nur knapp entkommen ist.

Wie ein Krake versucht Stines Mutter bis zuletzt noch noch ihre Enkelkinder in ihre Einflusssphäre zu ziehen. Dabei lebt Stine da schon längst in Berlin. Und schickt sich an, Autorin zu werden. Als Leser denkt man da natürlich an die Verfasserin des Buches, denn viele biografische Details finden sich im Roman wieder.

Mit ihrem Prosadebüt „Die Möglichkeit von Glück“ ist Anne Rabe ein gut lesbarer Roman über die langen Nachwirkungen von undemokratischen Staatsformen gelungen.


Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück
Klett-Cotta
384 Seiten
25,50 €

Aufwachsen im Schatten Kaliforniens – „Avalon“, Nell Zinks berührendes Porträt eines Mädchens

Aufwachsen im Schatten Kaliforniens – „Avalon“, Nell Zinks berührendes Porträt eines Mädchens

Die Mutter verzieht sich in ein buddhistisches Kloster, der Vater ist längst ohne Adresse zu hinterlassen nach Australien ausgewandert. Und so wachsen Bran – Abkürzung von Brandy – und ihr Halbbruder auf einer Pflanzenfarm bei der Familie des letzten Freundes ihrer Mutter im Hinterland von Los Angeles auf. Die Familie gehört einer Motorradgang an und betreibt nebenbei recht krumme Geschäfte – sogar das Land, auf dem sie die Pflanzen für reiche Abnehmer und Firmen züchten, scheint nicht wirklich ihr Besitz zu sein. Doch Bran ist klug und schafft mühelos die Highschool, was ihr in den USA allerdings ohne weitere Collegeausbildung nur Jobs mit geringster Bezahlung ermöglicht. Zudem hat sie keine Papiere und auch keinen Führerschein, was sie allerdings nicht daran hindert, sich einen billigen Gebrauchtwagen zu besorgen und damit in die Unabhängigkeit zu starten, denn auf der schmutzigen Farm wird sie bloß als billige Arbeitskraft ausgenützt.

Nell Zink stammt aus Kalifornien, lebt aber schon seit Jahren südlich von Berlin. Dass sie erzählen kann, hat sie bereits mit Romanen wie „Nikotin“ und „Vrginia“ bewiesen. In „Avalon“ zeichnet sie ein anderes Bild ihrer Heimat an der Westküste. Eines der großen Gegensätze, denn Brans Freunde sind, wenn schon nicht reich, so zumindest guter Mittelstand. Etwa der schwule Jay, der trotz mangelnden Talents und ausgerechnet bei einer blinden Lehrerin Flamenco lernen und tanzen will und später die Filmhochschule besucht. Bran kann gut Geschichten schreiben – soll sie eine unwahrscheinliche Karriere als Drehbuchautorin wagen?

Und dann lernt sie den Studenten Peter kennen, der an der Ostküste studiert und bereits mit einem reichen, schönen Mädchen aus einem arabischen Clan verlobt ist. Zwar wissen beide, dass nichts aus ihrer Liebe werden kann, aber die Anziehung bleibt. Für Peter und seine Freunde sind alle Reichen und Erfolgreichen Faschisten, in Wirklichkeit erliegt er aber sehr leicht den Verlockungen des Kapitalismus. „Avalon“ – übrigens eine Insel vor L.A. auf dem sich ein Vergnügungspark befindet – endet auf der Party eines berühmten Schriftstellers und es ist klar, dass sich die Liebe von Peter und Bran in Erinnerung auflösen wird. Ein interessanter Roman abseits aller Kalifornien-Klischees.


Aufwachsen im Schatten Kaliforniens – „Avalon“, Nell Zinks berührendes Porträt eines Mädchens ist Helmut Schneiders Buchtipp.

Nell Zink: Avalon
Aus dem Englischen von Thomas Überhoff
Rowohlt
272 Seiten
€ 24,70

Zwei Geschwister im Trubel nach der Wende – Susanne Gregors Roman „Wir werden fliegen“.

Zwei Geschwister im Trubel nach der Wende – Susanne Gregors Roman „Wir werden fliegen“

Miša und Alan sind Geschwister und wachsen in einer slowakischen Industriestadt auf. Kurz vor dem Zusammenbruch des Ostblocks flieht der ältere Alan über dir Grenze und wird Hilfsarbeiter in Hamburg. Nach einem schlimmen Arbeitsunfall zieht er zu den Eltern, die inzwischen nach der Wende in Wien leben. Er studiert Medizin und wird Orthopäde am AKH. Aber trotzdem er wie seine Schwester Miša perfekt Deutsch spricht und im Job einer der besten ist, scheint ihm etwas zu fehlen. Nachdem er unverschuldet für eine schadhafte Prothese den Kopf hinhalten muss, dafür aber eine viel besser bezahlte Stelle in einer anderen Klinik angeboten bekommt, verschwindet er plötzlich und taucht – ziellos durch Südosteuropa fahrend – unter. Eltern, Schwester und Freundin sind besorgt.

„Wir werden fliegen“ geht dort weiter wo Gregors erster Roman „Das letzte rote Jahr“, das die Jahre vor der Wende in Žilina aufgehört hat. Schon dieses Buch war eine bemerkenswerte Talentprobe.

Susanne Gregor kennt die mentale Heimatlosigkeit ihres Geschwisterpaares aus eigenem Erleben, denn sie kam selbst als Kind aus der Slowakei nach Österreich. Die kulturellen Unterschiede zwischen Ost und West bestehen für sie auch noch mehr als 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Vasallenstaaten. Viele der einstigen Migranten sind inzwischen zwar bestens integriert, aber wer interessiert sich etwa heute bei uns, wie die Familien der Pflegerinnen aus Rumänien leben?

„Wir werden fliegen“ ist ein Roman über Familie und Identität. Einst stellten sich Miša und Alan – in einem Swimming-Pool in einem Ostblockhotel – den Westen als ein Reich ohne Grenzen und mit einem reich gedeckten Tisch für alle vor, wo immer ein Pool bereitstehen würde. Aber Freiheit ist auch bei offenen Grenzen nicht leicht zu haben. Die sensible Miša ist weit weniger geradlinig in ihren Zielen als ihr Bruder und muss gerade in ihren Beziehungen einiges einstecken. Doch dafür ist sie etwas ehrlicher zu sich selbst.

Susanne Gregor erzählt ebenso spannend wie geschickt, indem sie das Verschwinden Alans als Cliffhanger gleich an den Beginn des Romans stellt und oft auch aus der Sicht von Nebenfiguren – wie der Diplomatentochter Nora – Alans Freundin – auf die Handlung blickt.

Ein kluger Roman, der uns auch zeigt, dass das Projekt Europa in einigen wichtigen Bereichen noch ganz am Anfang steht.


Zwei Geschwister im Trubel nach der Wende – Susanne Gregors Roman „Wir werden fliegen“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Susanne Gregor: Wir werden fliegen
Frankfurter Verlagsanstalt
254 Seiten
€ 24,70

Würgeschlangen & andere Katastrophen – T. Coraghessan Boyles Endzeitroman „Blue Skies“.

In Florida endet die Hurrikansaison überhaupt nicht mehr, in Kalifornien gibt es dafür nur noch Sonne und dazu Waldbrände. Eine durchschnittliche amerikanische Familie muss im neuen Roman des US-Autors mit diesen und anderen Katastrophen umzugehen lernen. Nicht alle sind unvermeidlich. Dass sich etwa die studienabbrechende Tochter Cat in Florida eine Python zulegt, weil sie die Zeichnung der Schlangenhaut so toll findet, und sie mit der Schlange um den Hals als Influencerin durchstarten will, scheint nicht erst gefährlich, als sie Zwillingsmädchen bekommt. Und wenn ausgerechnet der mit einer Zeckenforscherin liierte Sohn Cooper zu spät seinen Zeckenbiss nach Studien im kalifornischen Valley behandeln lässt – obwohl sein Vater noch dazu Mediziner ist – schüttelt man wohl den Kopf als er dann eine Hand verliert. Aber Boyle kennt eben die Psyche seiner Figuren und damit unser aller Schwächen nur zu gut. Oft sind es ja gerade die kleinen Fehler und Unachtsamkeiten, die uns in den Abgrund blicken lassen. Am normalsten scheint noch Mutter Ottilie, die sich an der Küste auf einen geruhsamen Lebensabend mit ihrem Mann einrichtet. Cooper zuliebe steigt sie von Fleisch auf Insekten um, damit die Ökobilanz wieder stimmt. Auch Wasser setzt sie sparsam ein, obwohl sowieso längst alles vergeblich erscheint wenn ringsum Häuser durch Feuer zerstört werden.

Dem in Santa Barbara, CA, wohnenden Bestsellerautor T. C. Boyle kann man sicher nicht vorwerfen, jetzt erst auf die Ökowelle aufgesprungen zu sein. In seinen Romanen hat er die Umweltproblematik genauso oft behandelt wie seine anderen großen Themen Gewalt, Drogen, Sex oder überhaupt den American Way of Life. „Blue Skies“ ist auch keine Dystopie – denn leider sind einige der vom Autor beschriebenen Szenarien bereits eingetroffen. Warum der Roman unbedingt lesenswert ist: Boyle kann einfach verdammt gut erzählen und er hat ein wunderbares Gespür für Spannung. Wir erleben gerne die Kämpfe von „Normalos“ gegen die Auswirkungen der Klimakatastrophe und ertragen es, dass wohl manches bald auch unser Leben stark beeinträchtigen wird. Der Roman für Unerschrockene!

Am Montag, den 12. Juni, 20 Uhr, ist T. C. Boyle mit einer Lesung zu Gast im Theater im Park, im Schwarzenberggarten am Belvedere – Eingang Prinz-Eugen-Straße/Ecke Plößlgasse (Straßenbahnlinie D), Tickets: theaterimpark.at/programm-tickets


Würgeschlangen & andere Katastrophen – T. Coraghessan Boyles Endzeitroman „Blue Skies“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

T. C. Boyle: Blue Skies
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Hanser
400 Seiten
€ 28,80

Die Hölle ist eine Eliteschule in Wien – Tonio Schachingers Schulroman „Echtzeitalter“

Bei 600 Euro Schulgeld pro Semester bleibt man unter sich. Im Halbinternat Marianum bereiten sich die Kinder des gehobenen Wiener Bürgertums darauf vor, in die Elite einzutreten. Manche sind ja so reich, dass sie eigentlich ihr Leben lang keinem Brotberuf nötig haben. Tonio Schachinger lässt in seinem Roman den Schüler Till im Marianum, das allein aufgrund der topografischen Verortung als Theresianum leicht zu entschlüsseln ist, allerdings die Hölle autoritärer Erziehung erleben. Denn wer dort das Pech hat, den Dolinar als Klassenvorstand zu bekommen, lebt sozusagen in einer Enklave innerhalb der Schule. Beim Dolinar werden auch leichte Vergehen mit großer Härte bestraft und selbst außerhalb der Schule kann man als Schüler nie sicher sein, von ihm nicht beobachtet zu werden. Ist man bei ihm person non grata, wird man etwa gnadenlos ignoriert – nicht einmal die Mitschüler dürfen mit diesen Ausgestoßenen sprechen. Eine Isolationshaft ohne Ketten und Mauern.

Till hat freilich als Ausgleich ein großes Talent für ein bestimmtes Computerspiel und schafft es sogar international in die Top-Liga. Das ist sozusagen seine zweite Welt, in die er zeitweilig flüchtet. Er erreicht sogar eine Einladung zu einer Gameshow nach Shanghai. Aber natürlich muss er sich dieselben Fragen wie alle Pubertierenden stellen: Bin ich auch cool genug? Habe ich die richtigen Freunde? Wie komme ich bei Mädchen an? Liebt sie mich, oder doch nicht? Zwischendurch bekommen wir einen interessanten Einblick in die Welt der Wiener Reichen und Schönen. Die Schüler wissen ja nur zu gut, dass sie einmal ein Vielfaches von Dolinars Gehalt zur Verfügung haben werden. Auch Till erbt von seinem Vater reichlich.

Schachinger ist dabei ohne Zweifel ein Erzähltalent. Es gelingen ihm durchaus witzige Passagen. Die Beschreibungen von Computerspielszenen kann man ja auch überblättern, sie haben für die Dramatik des Romans keine Bedeutung. Und das ist auch die Schwäche dieses in den Feuilletons vielgelobten Romans. Man spürt als Leser nicht, worauf der Autor hinauswill. Die oft unterhaltsamen Beschreibungen ergeben kein Gesamtbild. Eine gut erzählte Lebensepisode ergibt noch keinen Roman. Warum erzählt er etwa seitenlang von einem peinlichen Schülerstreich oder dem Besuch des KZ Mauthausen? Das Lehrerekel Dolinar, der selbst immer zu spät kommt und dem die Kollegenschaft und die Schule viel zu lasch sind, wäre durchaus eine interessante Romanfigur – seine Lebensumstände werden freilich nur angedeutet. So bleibt am Ende des Menüs nur ein guter Geschmack, aber kein wohliges Sättigungsgefühl zurück.


Tonio Schachinger: Echtzeitalter
Rowohlt
368 Seiten
€ 24,70

Ein intellektueller Spaß mit einer berühmten Familie – Joshua Cohens Roman „Die Netanjahus“.

Ein intellektueller Spaß mit einer berühmten Familie – Joshua Cohens Roman „Die Netanjahus“

Schreibt ein bekannter amerikanischer Autor ein Buch mit dem Titel „Die Netanjahus“ tendiert die Erwartungshaltung in Richtung Schlüsselroman (wobei bei einem solchen natürlich keine echten Namen verwendet würden). Noch dazu, wenn der Untertitel „Oder vielmehr der Bericht über ein nebensächliches und letztlich sogar unbedeutendes Ereignis in der Geschichte einer sehr berühmten Familie“ lautet. Der in Brooklyn lebende Joshua Cohen – Liebling der Intellektuellenmedien wie Village Voice und NYT – spielt natürlich mit unserer Gier nach Klatsch und Skandalen. Das heißt aber nicht, dass er am Ende doch noch Pikantes berichten würde. Doch bevor die „Netanjahus“ tatsächlich ins Geschehen kommen, ist das halbe Buch um.

Seine Hauptperson und Erzähler ist ein Historiker namens Ruben Blum, der das Pech hat in den 50er-Jahren, der einzige Jude in Corbindale – einer völlig unbedeutenden Universität am Rande des Staates New York – zu sein. Er ist noch dazu – eines der vielen Klischees, die Cohen genüsslich auftischt – auf Steuern spezialisiert („Eine Geschichte Amerikas in zehn Steuern“ ist eines seiner Bücher) und muss nicht nur wegen seines eindrucksvollen Barts jedes Jahr den Weihnachtsmann für das College spielen, sondern wird noch dazu bei allen Fragen betreffs Judentums um Rat gefragt, obwohl er sich längst als Amerikaner fühlt. Und da beginnt die Misere für ihn. Er soll auf Geheiß seines Rektors einen jüdischen Professor beurteilen, der sich am College beworben hat, und ihn sozusagen der Kollegenschaft präsentieren. Blum ist gar nicht begeistert, ist doch dieser Ben-Zion Netanjahu, wie er schnell herausfindet, bereits in ganz Israel verhasst. Er bekommt sogar regelrechte Warnungen vor diesem obskuren Historiker zugespielt.

Der taucht dann auch leibhaftig bei Blum auf – und zwar mitsamt seiner Mischpoche – also seiner rechthaberischen Frau und seinen drei ungezogenen Söhnen Jonathan, Benjamin und Iddo. Das bringt Chaos in das beschauliche Leben von Ruben Blum, der sehr zurückgezogen mit seiner Frau und pubertierenden Tochter in der Vorstadt lebt. Im Folgenden geht nicht nur der teure Farbfernseher zu Bruch als die Netanjahus um Geld für das Hotel zu sparen bei den Blums einziehen. Das ist zweifelsohne sehr lustig und wunderbar elegant erzählt. Schenkelklopferischen Klamauk darf man sich von diesem Roman allerdings nicht erwarten, Cohen handelt seitenweise die haarsträubenden Thesen von Ben-Zion Netanjahu über die Judenverfolgung und den Holocaust ab. „Die Netanjahus“ bleiben ein intellektueller Spaß, für

Joshua Cohen 2022 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde.

Die Figur des Ruben Blum erinnert laut Experten an den Literaturwissenschaftler Harold Bloom, der Cohen kurz vor seinem Tod vom Campusbesuch „eines obskuren israelischen Historikers Ben-Zion Netanjahu“ in New Haven erzählt hatte. Das letzte Kapitel des Romans stellt die geschilderten Geschehnisse dann noch einmal auf eine andere Ebene.