Beiträge

Am 21. September findet wieder der D-Day für Doderer statt – heuer im Wiener Justizpalast.

Die Dämonen der Republik – D-Day für Doderer im Justizpalst

Bild: ©Helmut Schneider

Am 21. September findet wieder der D-Day für Doderer statt – heuer im Wiener Justizpalast.

Am 15. Juli 1927, also vor fast schon 100 Jahren, fand in Wien ein Ereignis statt, das die 1. Republik heftig erschütterte und Österreich an den Rand eines Bürgerkrieges brachte. Die Gegensätze zwischen dem Roten Wien und fast dem konservativ-klerikalen Rest der Republik versuchten die Christlichsozialen bekanntlich später mit der Errichtung einer Diktatur und der Ausschaltung des Parlaments zu lösen und leiteten damit den Untergang Österreichs im Nationalsozialismus ein. 

Die Vorgeschichte

Am Abend des 14. Juli wurde das Urteil im Prozess gegen die Mitglieder der Freikämpfervereinigung Deutsch-Österreich bekannt. Ein Geschworenengericht hatte die drei Täter, die im burgenländischen Schattendorf ein 6jähriges Kind und einen Kriegsinvaliden bei einem Zusammenstoß mit Sozialdemokraten von hinten erschossen hatten, freigesprochen.

Am 15. Juli 1927 schalteten die Arbeiter in den städtischen Elektrizitätswerken den Strom ab, der öffentliche Verkehr kam zum Erliegen. Demonstranten zogen über den Ring und wollten sogar in die Universität eindringen. Ein Polizeiwachzimmer und die Redaktion einer Zeitung wurde verwüstet, ehe die Menge vor dem Justizpalast aufmarschierte. Mehrere sozialdemokratische Führer versuchten inzwischen mäßigend auf die Demonstranten einzuwirken. Der spätere Bundespräsident Renner half Justizbeamten mittels eines Tricks – sie wurden als Verwundete getarnt – zur Flucht aus dem Justizpalast. Der Justizpalast brannte schließlich. Polizeipräsident Johann Schober wollte das Militär einsetzen – er scheiterte aber am Veto des Bürgermeisters Karl Seitz und sogar des christlichsozialen Heeresministers. Allerdings verschaffte sich Schober Gewehre aus Bundesheerbeständen, mit denen er die Polizisten ausrüstete. Die schreckliche Bilanz: 84 tote Demonstranten, 5 tote Polizeibeamte, hunderte Verletzte. Karl Kraus sprach vom größten „Verbrechen aller zivilisierten Zeiten“ und startete eine Kampagne gegen Johann Schober mit Plakaten und Texten (Schoberlied).

Der Justizpalastbrand in Doderers „Die Dämonen“

Wie für seine Kollegen Elias Canetti („Masse und Macht“) und Manès Sperber („Wie eine Träne im Ozean“) bedeutete für Heimito von Doderer das Massaker beim Justizpalast der Anfang vom Ende der Ersten Republik. In seinem Mammutwerk „Die Dämonen“ lässt Doderer seine Hauptpersonen den 15. Juli 1927 erleben. Das „Cannae der österreichischen Freiheit“ (Doderer im Roman) bildet den Höhepunkt des 1400-Seiten-Buches.

René Stangeler, den wir schon aus der Strudlhofstiege kennen, macht sich auf den Weg ins Hotel Ambassador am Neuen Markt, um einem amerikanischen Historiker ungarischer Herkunft seine Entdeckung – eine Handschrift über einen skurrilen Hexenprozess aus dem Spätmittelalter – zu zeigen. Wie Quapp – Charlotte von Schlaggenberg, die Schwester eines der drei Chronisten Kajetan von Schlaggenberg – wundert ihn zunächst nur, dass die Straßenbahnen nicht fahren. Der ehemalige Fabriksarbeiter Kakabsa ist bereits Bibliothekar und verhindert bei seinem Besuch in der Universität, dass diese gestürmt wird.  Am nächsten kommt dem Justizpalast der schon im Titel des Romans genannte Chronist Georg von Geyrenhoff, der just an diesem Tag zum Frühstück bei seinem ehemaligen Chef eingeladen ist und von dessen Wohnung am  Schmerlingplatz den Justizpalast sehen kann. Er beobachtet, dass eine alte Frau erschossen wird – ihr Blut vermischt sich mit der Mich aus den zerbrochenen Milchflaschen, die sie geholt hatte. Und er sieht auch wie ein ungarischer Hochstapler und ehemalige Freund, der erst eine Rede hält und dann auf die Polizei schießt, ums Leben kommt.

Die dramatischen Ereignisse holt Doderer freilich immer wieder auf die Ebene seiner Figuren. Frau Mayrinker will im 9. Bezirk Obst einkochen und setzt dabei ihre Küche in Brand. Durch ihr beherztes Eingreifen kann sie das Feuer löschen – ganz im Gegensatz zum inzwischen bereits brennenden Justizpalast. Von oben, am Cobenzl, sieht Quapp und ihr neuer Verlobter das Feuer in der Stadt „wie ein Wimmerl“.

Doderers Darstellung der Kämpfe ist geradezu großkoalitionär – die Polizei wollte am Beginn gar nichts Böses und die Schutzbündler tragen sogar verwundete Polizisten ins Spital. Schuld an dem Chaos sind die Gauner aus dem Prater oder – wie es im Roman heißt – „der Ruass“. Man sieht keine Arbeiter mehr, sondern nur noch Krawallmacher und Berufsverbrecher.

Dass nicht alles den Tatsachen entspricht, darüber wird am 21. September, 18.30 Uhr, im historischen Verhandlungssaal (oben) im Justizpalast wienlive-Herausgeber Helmut Schneider mit dem Historiker Alfred Pfoser, dem ehemaligen Leiter der Büchereien Wien, sprechen. Die Schauspielerin und Autorin Chris Pichler wird Stellen aus den „Dämonen“ lesen. Die Buchhandlung analog aus der Otto-Bauer-Gasse (buchhandlunganalog.at) wird einen Büchertisch anbieten. Der Eintritt ist frei, Gäste müssen allerdings durch einen Sicherheitscheck, da der Justizpalast ja ein Gerichtsgebäude ist. Freie Platzwahl.


21. September 2023
18.30 Uhr
Historischer Verhandlungssaal im Justizpalast
Schmerlingplatz 10-11, 1010 Wien

Kinder alleingelassen – Der Erzählungsband „Mann im Mond“ von Lana Bastašić

Kinder alleingelassen – Der Erzählungsband „Mann im Mond“ von Lana Bastašić

Ein Sportlehrer verhöhnt eine Schülerin, weil sie zwar gut in Mathematik ist, aber beim Laufen nicht mit den anderen mithalten kann. Immer wieder lässt er sie im Kreis laufen, während die Mitschülerinnen längst wieder in ihren Klassen sitzen. Da bekommt er plötzlich keine Luft mehr und das Mädchen muss sich entscheiden, ob sie ihm zu Hilfe kommen soll. Eine alte Erbtante präsentiert in einem skurrilen alten Haus ihre Nichte ihren nackten Busen und lässt ihn von ihr anfassen. Ein Bub wird von seinem Vater zum Schwimmunterricht genötigt. Da erscheint ihm sein Idol Spiderman und reicht ihm nicht nur die fehlende Klopapierrolle auf der Toilette, sondern verschafft ihm auch den Mut, sich gegen Papa zu wehren. Die in Zagreb geborene und in Bosnien aufgewachsene Schriftstellerin Lana Bastašić, die inzwischen vor allem in Barcelona lebt, zeigt uns in ihren Erzählungen Kinder, die mit ihren Sorgen alleingelassen werden. Sie müssen Alkohol aus dem Laden holen oder auf ihrem Instrument üben, obwohl sie kein Talent haben. Die Autorin schafft es, die existenziellen Nöte dieser Kinder direkt in Sprache zu verwandeln. Ein verstörendes Buch.


Lana Bastašić: Mann im Mond
Erzählungen
Aus dem Bosnischen von Rebekka Zeinzinger
S.Fischer
206 Seiten
€ 25,50 

Wolf Haas erinnert in einem berührenden Buch an seine Mutter.

Wolf Haas erinnert in einem berührenden Buch an seine Mutter

Am Land ist das halt so. Man muss in einem eigenen Haus wohnen, denn zur Miete leben nur die Versager. Der vor allem als Krimischriftsteller erfolgreiche Wolf Haas hat die Geschichte seiner Mutter aufgeschrieben und herausgekommen ist ein Stück Heimatliteratur der anderen Art. Als er seine Mutter, die nur noch wenige Stunden von ihrem Tod entfernt ist, besucht, geht es ihr zum ersten Mal gut – was den Sohn ziemlich überrascht, hatte sie doch ihr Leben lang nur geklagt. Und zweifelsohne gab es auch viel zu klagen. Ihre Vorfahren, kleine Bauern in Salzburg, verloren durch den Wunsch, sich zu vergrößern, alles und immer, wenn sie genug für eine Anzahlung auf einen Grund gespart hatten, betrug die Anzahlung bereits das Doppelte. Die Mutter arbeitet nach dem Krieg in der Schweiz und erhält mit ihrem geringen Verdienst als „Servierschwester“ die Familie. Zurückgekommen wird sie im Haus, das sie selbst mitfinanziert hatte, nur geduldet und erkämpft sich eine Wohnung von der Gemeinde. Das große Ziel ihres Lebens wird ihr quasi erst mit dem Grab erfüllt – die paar Meter auf dem Friedhof nimmt sie mit dem Begräbnis in Besitz. Das erinnert an das berühmte Gedicht von Bertolt Brecht (Mein Bruder war ein Flieger): „Der Raum, den mein Bruder eroberte/Liegt im Guadarramamassiv/Er ist lang einen Meter achtzig/Und einen Meter fünfzig tief”.

Haas schildert das sparsame Leben seiner Mutter respektvoll, aber genau. Wie die Inflation das Geld vernichtete, wie sie als Übersetzerin für die Amerikaner arbeitete und im Krieg fern der Heimat Arbeitsdienst verrichten musste. Er nimmt aber auch immer wieder Details in die Erzählung. Etwa wie der Totengräber – die Gemeindewohnung lag direkt am Friedhof –  seiner schweren Arbeit nachging. Frag etwa, warum beim Begräbnis von Männern immer die Blechbläser spielen und bei jenen der Frauen nur der Chor singt. Zwischendurch blitzt natürlich auch der Humor von Wolf Haas auf: „Genervt von der tausendfach gestellten Frage ,Kann man vom Schreiben leben?‘ wäre ich auf den Titel gekommen ,Kann man vom Leben schreiben?‘“. Und während seine Mutter begraben wird, denkt der Erzähler darüber nach, ob er das gerade Erlebte und Gedachte für eine Poetik-Vorlesung verwenden, oder seinen Auftritt lieber absagen soll. Ein wunderbares kleines Buch zu einem großen Thema.


Wolf Haas erinnert in seinem neuen, berührenden Buch „Eigentum“ an seine Mutter. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Wolf Haas: Eigentum
Hanser
160 Seiten
€ 23,50

Schräg, schön, abgründig - das neue Sachbuch "Bibliothek des Wahnsinns " (Knesebeck Verlag) beherbergt seltsame Bücher, skurrile Manuskripte und literarische Kuriositäten aus aller Welt.

Skurrile Bücher in „Bibliothek des Wahnsinns“

Schräg, schön, abgründig – das neue Sachbuch „Bibliothek des Wahnsinns “ (Knesebeck Verlag) beherbergt seltsame Bücher, skurrile Manuskripte und literarische Kuriositäten aus aller Welt. Von den meisten dieser Bücher dürften die Leser noch nie etwas gehört haben.

Bestseller-Autor Edward Brooke-Hitching nimmt die Leserschaft in seinem neuen Werk mit auf eine Reise durch die Literaturgeschichte und taucht ein in ihre dunkelsten Gefilde und bizarrsten Momente. Er spürt die außergewöhnlichsten Bücher auf und erzählt die Geschichten ihrer Entstehung. Vom Koran, der mit dem Blut von Saddam Hussein geschrieben wurde, über in Menschenhaut gebundene Bücher oder eine Bibel, die eine Pistole versteckt, bis hin zu Unterhaltungen mit Marsmenschen, Diktaten aus dem Jenseits oder Bücher, so groß, dass man einen Motor zum Umblättern braucht.

Exzentrische Schriftstücke

Die „Bibliothek des Wahnsinns“ ist bestückt mit einer Vielzahl an exzentrischen Schriftstücken aus aller Welt, von denen viele völlig in Vergessenheit geraten sind. Darunter winzige Bücher, Bücher, die mit Blut geschrieben wurden, und Bücher, die töten, Bücher des Wahnsinns und Bücher, die die Welt in die Irre führten, Bücher, die für das bloße Auge unsichtbar sind, und Bücher voller Codes und Chiffren.


Ein indischer Thriller – Der Aufsteigerroman „Zeit der Schuld“ von Deepti Kapoor

Ein indischer Thriller – Der Aufsteigerroman „Zeit der Schuld“ von Deepti Kapoor

Ajay ist ein Kind als plötzlich die Hausziege im Garten eines Nachbarn Gemüse frisst und der sich furchtbar rächt. Der Vater wird erschlagen, Ajay und seine Schwester getrennt gefangen und verkauft. In der Gegend um den Himalaya muss er bei einem Bauern arbeiten, man erzählt ihm, sein Lohn werde an seine Mutter geschickt. Eine Lüge, denn Ajay ist nur ein Leibeigener – und als sein Herr stirbt, hat er nicht einmal eine Bleibe. Im Café, in dem er arbeitet lernt er Sunny kennen, den Sohn eines Reichen und Mächtigen, der ihn schließlich zu seinem persönlichen Diener macht. Ajay gewinnt Ansehen, denn Sunny ist der einzige Sohn aus dem Wadia-Clans – sein Vater Bunty ist ebenso korrupt wie gefürchtet, er macht mit dem Ministerpräsidenten gemeinsame Sache. Doch dann gerät Sunny durch Drogen und Fehlplanungen auf die schiefe Bahn. Ajay muss ihn decken und geht sogar für ihn ins Gefängnis.

Die 1980 in Maradabad geborene Deepti Kapoor arbeitete zunächst als Journalistin ehe sie als Autorin bekannt wurde. „Zeit der Schuld“ ist das erste Buch von ihr, das auf Deutsch erscheint. Der Roman entwickelt von Beginn an einen ungeheuren Sog. Man ist fasziniert vom noch immer herrschenden Clan-System in Indien, wo sich niemand daran stößt, dass Korruption herrscht – das ist eben so und wer reich ist, wird geachtet. Kapoor erzählt geschickt und baut in ihren Roman gleich mehrere Höhepunkte ein. Eine Liebesgeschichte gibt es auch, denn Sunny verliebt sich ausgerechnet in eine junge Journalistin, die sogar von ihm schwanger wird und vom Patriachenvater nach London zum Studieren abgeschoben wird. Es ist wie eine spannungsgeladene Netflix-Serie mit vielen Höhepunkten, unerwarteten Wendungen und Stoff zum Grübeln – und „Zeit der Schuld“ soll auch bereits verfilmt werden. Ein trotz des Umfangs von fast 700 Seiten ein ungemein kurzweiliges Buck.


Deepti Kapoor: Zeit der Schuld
Aus dem Indischen von Astrid Finke
Blessing Verlag
688 Seiten
€ 29,50

Am 10. Oktober wird schon die 19. Ausgabe des beliebten Krimi-Festivals gefeiert. Mit vielen heimischen Stars.

19. Wiener Kriminacht mit vielen heimischen Stars

Am 10. Oktober wird schon die 19. Ausgabe des beliebten Krimi-Festivals gefeiert. Mit vielen heimischen Stars.

Alle Autorinnen und Autoren, die einmal bei der Kriminacht in den Wiener Kaffeehäusern waren, schwärmen von der ganz speziellen Stimmung bei diesem Festival, das heuer am 10. Oktober in etwa 30 Locations über die Bühne gehen wird. Denn anders als bei den meisten anderen Lesungen sind die Gäste bei Kaffee oder Spritzer entspannt. Und nachher kommen viele Lesenden mit -ihren Fans ins Gespräch.

Da die heimischen Krimischreiber*innen sehr fleißig sind, können sie fast jedes Jahr einen neuen Thriller vorstellen. So etwa Eva Rossmann, die gleichzeitig auch in Buchingers „Gasthaus zur alten Schule“ als Köchin arbeitet, wann immer sie Zeit hat. Ihr neuer Thriller „Fine Dying“ spielt auch in einem Restaurant. Zur Tradition der Kriminacht gehört es mittlerweile, dass alle Nominierten für den Leo-Perutz-Preis – der beim Kriminacht-Auftakt im Hotel Imperial vergeben wird – bei der Kriminacht lesen. Heuer sind das Markus Deisenberger mit „Winter in Wien“, Peter Lorath mit „Fluch der Venus – Wiener Abgründe“, Beate Maly mit „Aurelia und die letzte Fahrt“, Günther Mayr mit „Herr Kuranaga“ und Kurt Palm mit „Der Hai im System“. Mit dabei sind auch Publikumslieblinge wie Max Gruber, Stefan Slupetzky, Beate Maly, Sabina Naber oder Edith Kneifl. Freier Eintritt bei allen Lesungen.

kriminacht.at

„Der Grenzwald“ – Anmerkungen zu Heimito von Doderers Romanfragment zur Einstimmung auf den D-Day am 21. September

Nach dem Riesenerfolg des 1400-Seiten starken Romans „Die Dämonen“ 1956 plante Heimito von Doderer ein noch größeres Werk, das vier Teile umfassen sollte. Fast hätte Doderer ja schon den Nobelpreis errungen, in der deutschsprachigen Literatur machte ihm den Meistertitel niemand streitig. Er war jetzt 60 Jahre alt und hatte noch viel vor. Seinen Romankomplex nannte er im Tagebuch Roman No 7, in Anlehnung an den verehrten Ludwig van Beethoven und seine 7. Symphonie. Den ersten Teil stellte Doderer noch fertig – 1963 erschien mit „Die Wasserfälle von Slunj“ der „Kopfsatz“. Der zweite Satz „Der Grenzwald“ sollte aber unvollendet bleiben, den Doderer starb 1966 an einem zu spät erkannten Darmkrebs.

„Der Grenzwald“ erschien 1967 als Fragment und unterscheidet sich in vielfacher Hinsicht von Doderers bisherigem Werk. Der zweite Satz einer Symphonie ist für gewöhnlich ein langsamer. Wir erfahren von einigen jungen Männern, die bald schon in den Kriegsdienst einrücken müssen und bald auch schon in russische Gefangenschaft geraten. Sie landen in einem Lager im tiefsten Sibirien. Da sie aber allesamt Offiziere sind, geht es ihnen in der Gefangenschaft erstaunlich gut. Sie lernen Fremdsprachen – vor allem Russisch, können musizieren und sich mit Büchern oder mitgefangenen Gelehrten auch weiterbilden. Sogar ein Ausgang ist möglich und nach und nach übernehmen die Gefangenen auch viele Arbeiten im Lager aber auch im nahen Städtchen. Einer von ihnen – Heinrich Zienhammer aus einem (erfundenen) niederösterreichischen Dorf – wird sogar Verantwortlicher für die Holzbesorgung, denn aufgrund des Bürgerkriegs nach der Revolution liegt es mit der Organisation auch der notwendigen Infrastruktur schlimm im Argen. Im Lager gibt es aber natürlich die verschiedenen Nationalitäten der k.u.k. Monarchie, von der man freilich bereits hört, dass sie zerfallen ist. Und so wird Zienhammer Zeuge eines Massakers der Tschechen an den Ungarn, ja er soll diese sogar verraten haben. Aus den Tagebucheintragungen wissen wir, dass Zienhammer nach der Befreiung in Wien Angst hat, vor Gericht gestellt zu werden und einen Mitwisser umbringt. Der vorliegende Text des Romans behandelt freilich nur das Lagerleben und einen missglückten Versuch, mit der Eisenbahn wieder nach Deutschland oder Österreich zu kommen.

Was auffällt ist, dass Doderer im „Grenzwald“ einen für ihn ungewöhnlichen einfache Stil schreibt. Er setzt kurze Sätze ein, manche lässt er sogar bewusst unfertig. Es wirkt vielfach wie stenografiert. Natürlich arbeitet Doderer im „Grenzwald“ seine eigene Kriegsgefangenschaft in Sibirien auf – er war ja nicht weniger als 4 Jahre lang unfrei. Was man noch an dem 240-Seiten-Fragment auffällt: Doderer geht es immer mehr um Atmosphäre, um den Raum und weniger um die Personen. Zienhammer ist kein Verbrecher, sondern ein unscheinbarer Mitläufer, der aufgrund der Ereignisse schuldig wird. Im Tagebuch schreibt Doderer noch 1966: „Zienhammer ist ein wahrer Repräsentant unserer Zeit: ein Mann der routinehaften, impotenten Wurstigkeit, unansprechbar aber auch unangreifbar: es ist daher ganz selbstverständlich, daß er siegt, daß er vernichtet, was ihm in den Weg gerät.“

Und: „Das Tempo Null bleibt der Kern erzählender Prosa…“ Doderer war und ist vielleicht moderner, als viele nur oberflächliche Leser vermuten würden.

Am 21. September feiern wir wieder den D-Day für Doderer – und zwar um 18.30 Uhr im Justizpalast, denn es geht diesmal mit dem Historiker Alfred Pfoser und der Schauspielerin Chris Pichler um den Brand des Justizpalasts in den „Dämonen“. Eintritt frei, keine Anmeldung möglich.


Billie sucht ihren Vater – Der spannende Entwicklungsroman „Paradise Garden“ von Elena Fischer

Auch mit zwei Jobs – im Krankenhaus und in einer Bar – reicht das Geld kaum aus, um Mutter Marika und ihre 14-jährige Tochter Billie im reichen Deutschland ein Leben oberhalb der Armutsgrenze zu ermöglichen. Doch Trübsal blasen ist nicht ihr Ding. Marika gelingt es immer wieder, das Leben in der Sozialsiedlung mit Witz und Phantasie aufzuheitern. Nur wenn Billie wissen will, wer ihr Vater ist, schweigt die Mutter beharrlich.

Die junge deutsche Schriftstellerin Elena Fischer erzählt aus der Perspektive von Billie, als Leser schlüpft man in die Gedankenwelt des Teenagers ein, ihre Sprache ist einfach und direkt, will Billie doch Schriftstellerin werden. Der Roman beginnt mit dem Tod von Marika, der erste Teil ist also eine Rückblende. Das Unglück der beiden beginnt, als Billies Großmutter aus Ungarn bei ihnen in die kleine Wohnung einzieht, weil sie den Ärzten ihrer Heimat Ungarn nicht vertraut. Die können nämlich keinen Grund für ihre Beschwerden finden – wie bald darauf auch ihre deutschen Kollegen. Beim Streit mit Oma fällt Marika fatalerweise auf den Glastisch und stirbt. Billie steht plötzlich vor den Trümmern ihrer Kindheit, sie kommt in ein Heim für Minderjährige, woraus sie allerdings bald flieht – sie will unbedingt ihren Vater suchen, obwohl sie kaum Hinweise und kaum Geldmittel besitzt. In der Klapperkiste ihrer Mutter startet sie in den Norden, wo ihre Mutter nach ihrer Migration aus Ungarn wohnte.

„Paradise Garden“ ist streckenweise ein Road Novel, durch die kindlichen Gedanken Billies gerät die Erzählung bisweilen in die Nähe von Klischees. Doch Fischer weiß, wie sie die Nöte eines Teenagers darstellen kann. Der Showdown mit ihrem Beinahe-Vater gibt uns das Bild einer beschaulichen Biografie im Norden Deutschlands auf einer Insel mit nur wenigen wortkargen Menschen. Sozusagen ein Gefühls-Thriller.


Elena Fischer: Paradise Garden
Diogenes Verlag
348 Seiten
€ 24,50

Kultur trifft Wellness: Karl Markovics liest im Kurhaus Marienkron

Kultur trifft Wellness: Karl Markovics liest im Kurhaus Marienkron

Bild: ©Marienkron/Steve Haider

Am 5. August gibt es im Kurhaus Marienkron ein ganz besonderes Kultur- & Wellness-Angebot. Tagsüber das einzigartige Spa genießen und sich kulinarisch verwöhnen lassen – den Tag krönt am Abend Schauspielerlegende Karl Markovics mit einer Lesung aus Alfred Polgars „Über die Menschen“.

Angebot in Marienkron: Tagsüber das Spa genießen und abends bei kulinarischer Verwöhnung der Schauspielerlegende Karl Markovics lauschen.
Am 5. August um 19.00 Uhr liest Karl Markovics aus Polgars Werk „Über die Menschen“ im Kurhaus Marienkron. – ©Stefan Diesner

Lesung

„Der Erzähler Polgar hatte viele Themen. An seinem Tisch im Kaffeehaus – für Polgar ein „Ort der Leidenschaften“ – schrieb er über Städte und Landschaften, Dinge und Tiere. Doch vor allem schrieb er über die Menschen – und nicht zuletzt auch immer über sich selbst.“

Alfred Polgar war ein österreichischer Schriftsteller und Kritiker des 20. Jahrhunderts. Bekannt für seinen scharfen Verstand und Humor, prägte er die Literaturszene seiner Zeit. Mit seinen Werken hinterließ er einen bleibenden Eindruck bei seinen Zeitgenoss*innen. Polgars brillante Beobachtungsgabe und feinsinnige Analyse machten ihn zu einem bedeutenden Intellektuellen seiner Ära. Am 5. August um 19.00 Uhr liest Karl Markovics aus Polgars Werk „Über die Menschen“.

Kombination Lesung & Regenerations-Day Spa inkl. Kulturgenuss am Abend: € 155,- p.P.

Mittags- & Abendbuffet mit vegetarischer Kulinarik und Fisch
1x Entspannungswickel
1x Meditation
1x Bewegungstraining
1x Schnupperguss
Nutzung Indoorpool mit großer Liegeterrasse zum Naturpark, Sauna & Dampfbad, Kneipptretbecken, flauschiger Bademantel, Badepantoffel Tageszimmer für den persönlichen Rückzug
KULTUR.Genuss & Sektempfang mit Karl Markovics am Abend um 19:00

Lesung inklusive Sektempfang: € 30,- p.P.

Karl Markovics liest Alfred Polgar „Über die Menschen“ ab 19.00 Uhr


KARTEN & INFO
5. 8. 2023
19.00 Uhr
02173 80205 0
info@marienkron.at
marienkron.at/kultur

KAFKA am Semmering – Sprache & Musik im Südbahnhotel

Bild: Für die musikalische Darbietung sorgt Nikola Djoric. – ©Nancy Horowitz

Im Rahmen des Sommerprogramms („Liebst du um Schönheit“) im Südbahnhotel gestaltet der Schriftsteller, Regisseur, wienlive-Autor und Moderator Otto Brusatti an zwei Sonntagen im August um 13.30 Aufführungen zu Franz Kafkas Erzählung „Ein Landarzt“. Die musikalische Darbietung besorgt der bekannte Akkordeonist Nikola Djoric. Mit dem Cellisten Valentin Erben (Alban Berg Quartett) gründete Djoric das Duo „Ex Equo“ und mit dem Bariton Bo Skovhus schuf er eine besondere Interpretation von Schuberts Winterreise. 

Otto Brusatti bereitet im echomedia buchverlag zu Franz Kafkas 100. Todestag 2024 ein Buch mit neuen Kurzgeschichten von österreichischen und internationalen Autorinnen und Autoren im Andenken an Franz Kafka vor.

Die Performance findet statt im Rahmen des Mottos: Das 20. Jahrhundert im Brennpunkt eines Menschen statt.

Franz Kafka: Ein Landarzt  –  Gestaltung: Otto Brusatti/ Musik (Akkordeon): Nikola Djoric


Sonntag, 6. August & Sonntag 13. August 2023 – jeweils 13.30 Uhr
Südbahnhotel
+436641261140