Kneipengespräche – Daniel Kehlmanns „Nebenan“ am Burgtheater

Daniel Kehlmann hat sein Drehbuch zum Film von Daniel Brühl fürs Burgtheater adaptiert. Es geht um einen erfolgreichen Schauspieler (Florian Teichtmeister), der gerade zu einem Casting in die USA aufbrechen will, und seinen armen Nachbarn (Norman Hacker), der über Kreditkartenrechnungen Peinliches über ihn herausfindet. Doch das präsentiert der ehemalige Ossi in der herabgekommenen Berliner Kneipe nur in kleinen Dosen, sodass der gestresste und nervös auf seinem Handy telefonierende Promi erst nach und nach das Ausmaß dieses Stalkings erkennt. Das ist mäßig spannend und höchstens so komplex wie weniger gute Netflix-Serien. Klar betrügt ihn die Partnerin und klar benützt er halblegale Sexplattformen. Warum ihn der Nachbar aber so hasst, wird nicht schlüssig erklärt. Weil er ihn ignoriert? – na da könnte man viele Menschen ans Messer liefern wollen. Weil er in einem Haus wohnt, das gentrifiziert wurde? Weil er ihn beneidet? Gar ein Klassenkampf? 

Martin Kušej inszenierte mit allerhand netten Details – die dünne und wenig komplexe Berliner Kneipen-Suppe wird aber dadurch auch nicht gehaltvoller. Die riesige Burg-Bühne (Jessica Rockstroh) wirkt deplatziert. Für die meiste Spannung sorgen da noch zwei Nebenfiguren mit ganz wenig Text: Katharina Pichler als resolute Wirtin und Stefan Wieland als Trinker am Tresen, der von Zeit zu Zeit einen unverständlichen Wutsager loslässt, den die Chefin sofort unterbindet. Und das Publikum ist schon erheitert, wenn im Radio von kilometerlangen Staus an der österreichischen Grenze berichtet wird.


INFOS: burgtheater.at

Die großen Kriege in Ostafrika – „Nachleben“, der Roman des Nobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah

Auch große Erzähler brauchen mitunter einen Preis, um hier im deutschen Sprachraum entdeckt zu werden. Der 1948 im (damaligen) Sultanat Sansibar geborene Abdulrazak Gurnah hatte schon viele bemerkenswerte Romane veröffentlicht, die auch ins Deutsche übersetzt wurden, aber erst der Literaturnobelpreis 2021 machte den in England lebenden und dort auch als Literaturprofessor an der Universität von Kent tätigen Autor auch bei uns bekannt. Jetzt wurde sein bisher jüngster Roman „Nachleben“, veröffentlicht 2020 in England, frisch ins Deutsche übertragen. Und der zeigt, was dieser aus Afrika stammende Erzähler draufhat.

„Nachleben“ beschreibt anhand des Schicksals einiger weniger Figuren die Umbrüche im ehemaligen Deutsch-Ostafrika vor und nach dem 1. Weltkrieg. Es zeigt ein von Stämmen dominiertes multikulturelles Land, das erst durch die Kolonisation seine staatliche Form erhielt.

Wir erleben wie sich der junge indisch-stämmige Khalifa mit Ilyaz, einen jungen Mann, der als Kind weggelaufen und auf eine deutsche Missionsschule geraten war, anfreundet. Doch bald schon fokussiert der Erzähler auf die Schwester von Ilyaz, die sozial völlig vernachlässigt bei Nachbarn aufwächst. Die kleine Afiya lernt bei ihm lesen – etwas, das damals noch etwas Kostbares war. Dass sie Lesen kann, erzürnt ihre Gastfamilie so sehr, dass sie brutal geschlagen wird. Inzwischen hat sich Ilyaz aus einer absurden Verbundenheit mit den Deutschen der Kolonialarmee des Kaisers im Ersten Weltkrieg angeschlossen. Seine Spur verliert sich, doch Afiya kann von Freund Khalifa in Sicherheit gebracht werden.

Während man als Leser erwartet, jetzt vom Schicksal Ilyaz‘ zu erfahren, führt Gurnah eine weitere Figur ein, anhand der wir tatsächlich den brutalen Weltkrieg in Afrika erleben. Der junge Hamza meldet sich bei der deutsche Schutztruppe, weil diese bei den Einheimischen großen Respekt genießt – denn alle fürchten sich vor den gnadenlosen Deutschen. Hamza ist schmächtig, aber hübsch und so findet ein deutscher Offizier Gefallen an ihm. Mithilfe dieses Offiziers überlebt er den Krieg trotzdem nur knapp, völlig mittellos kommt er in die Stadt, in der Khalifa bei einer Tischlerei angestellt ist. Er heiratet Afiya, die noch immer vergeblich auf Nachrichten von ihrem Bruder hofft. Erst auf den letzten Seiten erfahren wir von dessen Schicksal – Ilyaz gerät nach dem Krieg nach Deutschland, er wird Sänger und schließlich von den Nazis in ein KZ gesteckt.

An die erzählerischen Sprünge muss man sich erst gewöhnen, aber Gurnah schafft es mühelos, dass wir immer gebannt bei der Stange bleiben. Ein Roman über ein verdrängtes Kapitel Zeitgeschichte in Afrika.


Die großen Kriege in Ostafrika – „Nachleben“, der Roman des Nobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah.

Abdulrazak Gurnah: Nachleben
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Penguin Verlag
384 Seiten
€ 26,80

Theater als Comic – „Mehr als alles auf der Welt“ im Akademietheater

Vier Schauspielerinnen (Isabella Knöll, Stefanie Dvorak, Alexandra Henkel und Andrea Wenzel) und ein Schauspieler (Markus Meyer) bewegen sich in einem höchst originell gezeichneten und animierten Comic (Bühne: Paul Barritt) – eine Comicfigur, ein kleiner Junge (Stimme: Gregor Benner), spielt sogar mit. Das funktioniert am Akademietheater erstaunlich gut, die Geschichte für junge Menschen ab 8 könnte ein Theaterhit werden.

Die 2005 gegründete britische Theatergruppe „1927“ hat mit „Mehr als alles auf der Welt“ ein ungemein bewegendes Stück über die Schwierigkeiten für Heranwachsende mit einem abwesenden Elternteil geschaffen – verschärft dadurch, dass der Vater im Gefängnis sitzt und die beiden Kinder es noch nicht wissen. Geld ist auch knapp, ein höchst prekärer Unterschichtshaushalt könnte man sagen. Dafür gibt es jede Menge Fantasie und Träume. Der abwesende Vater schickt seiner Tochter nämlich laufend Berichte über seine gerade erlebten Abenteuer – als Erklärung, warum er nicht bei ihnen sein kann. Er wird bestohlen und auf der Suche nach dem Dieb gerät er von einem Schlamassel ins andere. Die Lebenswirklichkeit der Familie daheim ist dabei auch nicht gerade frei von Herausforderungen. Da gibt es die böse Nachbarin und eine mafiöse Schulgang. Und die Sozialarbeiterin, die sie mit Keksen anfüttert, entpuppt sich als Abgesandte einer Internatsschule, die mittellose Kinder anwirbt.

Das alles wird sehr liebevoll und mitreißend gespielt. Quasi die Hauptperson sind die wunderbaren, animierten Zeichnungen, die unschwer als die englischen Originale zu erkennen sind. Regisseurin und Autorin Susanne Andrade lässt die nachdenklich machende Geschichte perfekt ablaufen. Eine Produktion, die tatsächlich – wie es im Programmheft heißt, für alle „von 8 bis 108“ zu empfehlen ist.


Infos: burgtheater.at

Einstein & Planck in den letzten Kriegstagen – ein Doku-Roman von Steffen Schroeder

Einstein & Planck in den letzten Kriegstagen – ein Doku-Roman von Steffen Schroeder.

Die beiden Väter der modernen Physik verband nicht nur eine Freundschaft, sondern auch die Liebe zur Musik. Albert Einstein spielte bekanntlich Geige, Max Planck verfügte über ein absolutes Gehör und überlegte sogar zunächst, Musik zu studieren – beide musizierten gerne auch gemeinsam. Und sie hatten beide auch – allerdings ganz unterschiedliche Probleme – mit ihren Söhnen. Einsteins hochsensibler Sohn Eduard lebte die meiste Zeit in einem Schweizer Sanatorium, Plancks Sohn Erwin war Politiker der Weimarer Zeit und Mitwisser bei Stauffenbergs Hitler-Attentat. Und als solcher wurde er nach dem gescheiterten Putsch auch sofort festgenommen. Bis zuletzt hoffte der berühmte Vater, seinen Sohn noch vor der Hinrichtung retten zu können.

Der Schauspieler (u.a. am Burgtheater unter Peymann) und Schriftsteller Steffen Schroeder hat für „Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor“ sehr genau recherchiert und stellt in seinem Roman die letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs aus der Sicht des Umfelds der beiden Physiker dar. Während Einstein in Princeton mit dem zunehmend seltsamer werdenden österreichischen Logiker Kurt Gödel täglich seinen Heimweg aus der Universität antritt, wird Erwin Planck vom berüchtigten Nazi-Richter Freisler zum Tod verurteilt. Und während Einstein nicht weiß, dass seine russische Geliebte eine sowjetische Spionin ist, plagt sich Planck nicht nur mit der Gewissheit des Endes seines Sohnes, sondern auch mit seiner schmerzhaften Arthritis.

Es geht in diesem Roman weniger um Physik und Politik, sondern vielmehr um die menschlichen Tragödien vor denen auch Berühmtheiten nicht gefeit sind. Auch die Ängste von Eduard Einstein im keineswegs idyllischen Burghölzli werden detailliert geschildert. Und wir erleben wie die Ärzte und Schwestern an der Charité bis zur völligen Erschöpfung um das Leben ihrer Patienten kämpfen – denn Erwin Plancks Frau ist Medizinerin. Ein spannendes Buch mit viel Atmosphäre über Schicksale in einer sehr schwierigen und gefährlichen Zeit.


Ein Tschechow wie von Beckett – „Onkel Wanja“ im TAG-Theater in der Gumpendorfer Straße

Die russische Provinz als der Ort, an dem zumindest alle denkenden Wesen an Stumpfsinnigkeit und Langeweile leiden, ist in den Dramen von Anton Tschechow immer präsent. In seinem vielgespielten Stück „Onkel Wanja“ landet ein Kunstprofessor, weil er sich das Leben in der Stadt nach seiner Pensionierung nicht mehr leisten kann, auf dem Gut seiner ersten Frau. Für Spannung dort sorgt, dass seine zweite Frau ungewöhnlich schön und auch viel jünger ist.

Der litauische Theatermacher Arturas Valudskis inszeniert im Theater TAG mit dem engagierten kleinen Team mit Georg Schubert, Andreas Gaida, Ida Golda, Michaela Kaspar und Jens Claßen einen „Onkel Wanja“, der sehr gestrafft, aber auch punktgenau wirkt. Im TAG war man in den vergangenen Jahren ja oft mit starken Neubearbeitungen konfrontiert. Dieser „Onkel Wanja“ hält sich freilich ziemlich an Tschechow. Wobei das Komödiantische auch diesmal nicht zu kurz kommt. Es gibt witzige Pantomimen und die Mannsbilder messen sich von Zeit zu Zeit an einem schweren Steinblock. Was auffällt ist die Nähe Tschechows zum Existenzialismus und zum absurden Theater. Oft scheinen die Protagonisten einem Beckett-Stück entsprungen. Viel verdienter Applaus bei der Premiere.


Infos & Karten: dastag.at

Marokko in der Hippie-Ära – der Familienroman „Schaut, wie wir tanzen“ von Leila Slimani

Leïla Slimani wurde 1981 in Marokko geboren, lebt aber seit ihrem Studium in Paris. Ihr Roman „Dann schlaf auch du“ wurde nicht nur zu einem Bestseller, sondern auch mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. In „Schaut, wie wir tanzen“ beschreibt sie anhand einer Familiengeschichte Marokkos Jahre nach der Unabhängigkeit in den 60er-Jahren. Im Mittelpunkt stehen der marokkanische Farmer und Patriarch Amine Belhaj und seine aus dem Elsass stammende Frau Mathilde. Kennengelernt hatten sie sich, als Amine im 2. Weltkrieg dort stationiert war. Der Roman beginnt mit dem Bau des Swimmingpools am Anwesen der Belhajs. Mathilde hat Jahre gebraucht, bei ihrem Mann diesen Luxus durchzusetzen, denn in seinen Knochen ist Amine immer noch Bauer und einer der von früh bis spät gewohnt ist, hart zu arbeiten. Außerdem will er keineswegs den Neid seiner Arbeiter wecken. Auch Mathilde hat fleißig am Aufbau ihres Wohlstandes gearbeitet, in ihrer Freizeit leistet sie einfache medizinische Hilfe für die Landbevölkerung.

An den beiden Kindern und am Schicksal der Schwester Amines zeigt Slimani den Wandel Marokkos von einer reinen Agrargesellschaft zu einem modernen Staat – mit all seinen Verwerfungen. Der regierende König überlebt mehrere Attentate, die intellektuelle Elite schielt auf den Kommunismus und verlangt eine Bodenreform. Doch während die Tochter Aïcha brav studiert und Ärztin werden will, ist der für Marokko ungewöhnlich große und blonde Sohn Selim ein Schulversager und anfällig für Ablenkungen. So verliebt er ich ausgerechnet in seine Tante, die von Amine kurzerhand mit seinem Vorarbeiter verheiratet wurde, nachdem sie von einem anderen schwanger geworden war. Und nach einem Zwischenspiel in einer Hippiekommune geht Selim ohne irgendjemanden zu informieren in die USA.

Slimani erzählt das Schicksal der Belhajs sehr anschaulich und mit viel Gespür auch für die weibliche Sicht der Ereignisse. Mathilde nimmt hin, dass Amine ständig Affären hat und findet sich als Ausländerin auch sehr gut in die Verhältnisse in Marokko ein. Ihre Tochter Aïcha lernt beim Studium in Straßburg natürlich auch eine liberalere europäische Gesellschaft kennen, doch sie bleibt auf ihren Job als Ärztin fixiert. Ihr Ehemann macht währenddessen eine Verwandlung durch, die all die Widersprüche des Landes zeigt. Als Student wurde er Karl Marx genannt, weil er Schriftsteller werden wollte und fest an die Revolution glaubte. Zum Beamten geworden verfolgt er zielstrebig seine Karriere und sieht es nicht gerne, wenn sich seine Frau emanzipiert. In einem der letzten Kapitel sitzt er im Gefängnis, wobei Slimani uns nicht über die Umstände aufklärt. „Schaut, wie wir tanzen“ ist zwar als zweiter Teil einer Trilogie angelegt, sollte aber auch als eigenständiges Werk funktionieren. Ein Leseerlebnis ist das Buch aber allemal.


In „Schaut, wie wir tanzen“ beschreibt sie anhand einer Familiengeschichte Marokkos Jahre nach der Unabhängigkeit in den 60er-Jahren.

Leïla Slimani: Schaut, wie wir tanzen
Aus dem Französischen von Amelie Thoma
Luchterhand Verlag
382 Seiten
€ 22,70

Stephen King wurde 75 – sein neues Buch ist ein Fantasyroman

Stephen King ist nicht nur einer der erfolgreichsten Autoren aller Zeiten, sondern längst auch ein Phänomen der Pop-Kultur. Über die zahlreichen Verfilmungen – „Shining“, „Carrie“, „Christine“, „Es“ um nur einige zu nennen – kennen ihn auch Menschen, die noch keine Zeile von ihm gelesen haben. In seiner 2000 erschienenen Autobiografie „Das Leben und das Schreiben“ berichtet er sehr offen über seine Anfänge als er als junger Autor eine Familie ernähren musste und dabei alkohol- und drogenabhängig wurde. An das Schreiben einiger Romane aus dieser Zeit kann er sich gar nicht mehr erinnern. Seiner Frau zuliebe ging er in eine Entzugsklinik und ist seither trocken.

Alkoholsucht kommt aber in seinem bekanntlich höchst umfangreichen Werk sehr oft vor. Etwa in „Shining“ – in Kubricks Verfilmung steht Jack Nicholson mehrmals in der Bar bevor er über seine Familie herfällt. Auch in seinem neuesten Roman – den 900-Seiten Fantasyriegel „Fairy Tale“ – verfällt der Vater des Erzählers Charlie nach dem Unfalltod seiner Frau dem Alkohol. Es gelingt ihm zwar mithilfe der Anonymen Alkoholiker wieder auf Spur zu kommen, doch Charlie lebt in ständiger Angst vor einem Rückfall seines Vaters.

„Fairy Tale“ ist ein – im Lockdown geschriebener – untypischer Stephen King-Roman, denn Fantasy ist nicht seine Domäne. Aber viele Themen, die das King-Universum ausmachen, sind auch in diesem Buch vorhanden. Hauptperson ist der 17jährige Charlie – einerseits Baseball-Star und 100 Kilo-Prügel, andererseits aber ist er hochsensibel und vielfach auch noch ziemlich kindlich. Sein Leben nimmt jäh eine Wendung, als er einem alten Nachbarn das Leben rettet als dieser von der Leiter fällt und sich nicht mehr ins Haus schleppen kann, um Hilfe zu rufen. Der alte Kauz Mr. Bowditch hat auch eine ebenso alte Schäferhündin namens Radar und bald schon sind der Hund und Charlie dicke Freunde. Als Mr. Bowditsch immer schwächer wird, vertraut er Charlie sein Geheimnis an. In Wirklichkeit ist er weit mehr als 100 Jahre alt – seine Verjüngung und seinen Reichtum verdankt er einer Art zweiten Welt, deren Eingang sich geradewegs im Schuppen auf seinem riesigen Grundstück befindet. Dieses Reich ist zwar von der Anlage her ziemlich märchenhaft, allerdings hat sich dort eine Katastrophe ereignet, die aus der Märchenwelt ein Horrorreich werden ließ. Um wenigstens Radar vor dem nahen Tod zu bewahren, steigt Charlie schließlich in diese alternative Welt hinunter.

Bevor er dies tut, vergehen schon einmal locker 200 Seiten und auch die detaillierten Beschreibungen der Anderwelt sind nicht immer spannend. „Fairy Tale“ gehört sicher nicht zu den besten Werken des Autors, dafür kann man aber das Erfolgsgeheimnis des Stephen-King-Universums sehr gut studieren. Natürlich spielt King mit unseren starken emotionalen Bindungen an unsere Haustiere. Wir leiden seitenweise mit der alten Hündin. Für amerikanische Leser sind auch die vielen Baseball-Sport-Szenen wichtig. Zwar wird schließlich in der Anderwelt ein höchst grausames Spiel auf Leben und Tod aufgezogen, die sportlichen Referenzen sind freilich für die Geschichte essenziell. Und andauernd spielt King auf literarische Vorlagen an – sei es alte Volksmärchen oder das Horroruniversum von H. P. Lovecraft. Klar kommt es in „Fairy Tale“ letztendlich zu einem Kampf zwischen den Guten und den bösen Monstern, die „Game of Thrones“-Mechanismen und Tricks beherrscht King allerdings weit nicht so gut wie den reinen Horror wie er ihn etwa in „Es“ beschrieben hat. Am besten ist er aber sowieso wenn er ganz nahe an den menschlichen Abgründen bleibt und sich der Horror aus der Psychologie der Protagonisten ergibt. Trotzdem: Happy Birthday für einen Autor, der sehr, sehr viele Menschen zum Lesen gebracht hat.


Stephen King ist nicht nur einer der erfolgreichsten Autoren aller Zeiten, sondern längst auch ein Phänomen der Pop-Kultur. Sein neues Buch ist ein Fantasyroman.

Stephen King: Fairy Tale
Aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt
Heyne
880 Seiten
€ 28,80

Am Auslöser – Goethes FAUST im Volkstheater

Bevor es noch losgeht, schießt ein Fotograf (Marcel Urlaub) ein paar Fotos vom brav auf die Aufführung wartenden Publikum, die sofort riesengroß auf der Projektionswand erscheinen. Ein Aha-Effekt. Das Klicken der Kamera – bei Digitalkameras bekanntlich nur noch eine Soundspielerei – wird man an dem Abend noch oft hören. Während etwa einer der Faust-Darsteller vorne deklamiert, sehen wir Fotos vom gerade stattfindenden Geschehen mit alternativen Faust-Darstellern. Gretchen gibt es auch gleich mehrfach. Mephisto ist zwischendurch weiblich.

Volkstheater-Hausherr Kay Voges beißt sich in seiner Inszenierung am Augenblick und somit am Bild fest – Faust verspricht Mephisto bekanntlich „Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehn!“. Nach dem berühmten Dialog zwischen dem Theaterdirektor und dem Dichter aus dem Stück – quasi eine Zustandsbeschreibung aktueller Theaterwirklichkeiten – streiten in dieser Inszenierung der Teufel und Gott – dargestellt wie der Computer in Kubricks Odyssee 2001 in rot – um Gut und Böse und die Seele des Menschen. Allein so richtig in Schwung kommt die Wette an diesem Abend nicht. Denn Voges verfährt nach dem Motto von „Willkommen Österreich“ – Gags, Gags, Gags, geschmiert mit Popmusik und Carmina Burana.

Als ob er sich tatsächlich an Goethes Theaterdirektor hielte: „In bunten Bildern wenig Klarheit, viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit“, wobei man die Wahrheit tatsächlich mit der Lupe suchen müsste. Das Schicksal seines Titelhelden scheint ihn wenig zu interessieren und am Schluss weiß man gar nicht, womit der Dr. Faustus sein Seelenheil gerettet hätte. Warum aber spielt man dann aber überhaupt die paar Szenen aus Faust II. Die engagierten Darsteller (Andreas Beck, Claudio Gatzke, Frank Genser, Hasti Molavian, Lavinia Nowak, Gitte Reppin, Uwe Rohbeck, Uwe Schmieder, Friederike Tiefenbacher) machen gute Miene zum seichten Spiel. „Mehr Licht!“ heißt es am Ende, die angeblich letzten Worte des Dichterfürsten zitierend. Eher eine Anweisung für einen Fotografen als eine Aufforderung für ein genaueres Hinschauen.


Infos und Karten: volkstheater.at

Populismus siegt über Wahrheit – Henrik Ibsens „Ein Volksfeind“ im Theater in der Josefstadt

Schon 140 Jahre hat Henrik Ibsens Paradestück über die Mechanismen politischer Entscheidungsfindung „Ein Volksfeind“ auf dem Buckel. Aber jede Generation findet für sich heraus, wie dieses Drama gerade wieder zur aktuellen Themenlage passt. Die Handlung ist relativ simpel: Ein Kurarzt findet heraus, dass das Wasser der gerade wieder erweiterten Therme gesundheitsgefährdend ist und sein Bruder, der Bürgermeister tut alles, um diesen Bericht zu verunglimpfen. Volk und Presse stehen bald schon auf der Seite des Bürgermeisters, denn eine auch nur vorübergehende Schließung der Therme würde sie Wohlstand kosten. Wenn wie aktuell der Populismus scheinbar wirtschaftlich begründet ist, lässt sich schwer mit Vernunft dagegen ankämpfen.

Denn natürlich hat der Kurarzt (den Roman Schmelzer in der Josefstadt als naiven Wissenschaftler interpretiert) gegen den allglatten und rhetorisch exzellenten Politiker (Günter Franzmeier) nicht die geringste Chance. Regisseur David Böschs „Ein Volksfeind“-Inszenierung in der spielerprobten Arthur-Miller-Bearbeitung ist bewusst eingängig, aber in einigen Details durchaus auch witzig. So gibt es lustige Plakate zur schönen neuen Thermenwelt und gespielt wird auch auf einer Baustelle. Denn nicht nur die Therme wird gebaut, sondern auch das neue Eigenheim für die Familie des Kurarztes. Als es letztendlich  um die Existenz der eigenen Familie geht, hat der Kurarzt praktisch keine Wahl mehr.

So nebenbei zerlegt Ibsen in diesem Stück auch gleich die Illusion einer freien Presse. Erst knickt der Eigentümer des Volksblatts (André Pohl), dann auch der anfangs kämpferische Chefredakteur (Oliver Rosskopf) ein. Die Wahrheit kostet nicht nur der Zeitung, sondern auch den Steuerzahlern einfach zu viel Geld.

Dem Premierenpublikum gefiel es – viel Applaus für eine unterhaltsame Politfarce, die ihre Aktualität wohl – leider – niemals verlieren wird.


Infos: www.josefstadt.org

Politsatire – Christoph Peters: Der Sandkasten

Kurt Siebenstädter ist der beliebteste Morgeninterviewer und Moderator in einer öffentlich-rechtlichen Radiosendung in Berlin. Er stellt zur Aufstehzeit respektlos Fragen sowohl an Minister als auch an Oppositionspolitiker, Wissenschaftler und Skeptiker, Imame und Geistliche, was ihm in den Jahren den Ruf der Unbestechlichkeit einbrachte. Von den Leitartiklern nicht für ernst genommen, gefällt er sich in seiner Rolle als kritischer Hinterfrager. Glücklich ist dieser Skeptiker in Christoph Peters Politroman „Der Sandkasten“ allerdings schon lange nicht mehr. Seine jüngere Frau, die als Lehrerin arbeitet, nimmt er nicht für voll, seine pubertierende Tochter entgleitet ihm – sie will auf Schüleraustausch in die USA, all die Dinge, die er sich vorgenommen hat, ihr zu zeigen und mit ihr zu machen, sind niemals geschehen.

Und jetzt deutet ihm ausgerechnet eine Politikerin der SPD, die er noch dazu sexuell anziehend findet, in einem vertraulichen Gespräch mit, dass an seinem Stuhl gesägt wird. In Zeiten der Pandemie gehören sich gewisse Fragen nicht. Besonders nicht, wenn es um die Regierung geht, die gerade jetzt in Pandemiezeiten alle Macht unhinterfragt in Händen hält. Das erfährt er wenig später auch von seinem Chefredakteur. Denn dieser Roman spielt nur in einem sehr kleinen Zeitfenster – Siebenstädter kommt abends nach Hause, geht wieder zu Terminen und moderiert am nächsten Morgen seine letzte Sendung. Offenbar achtet er nämlich beim Überqueren einer Straße fatalerweise nicht auf den Verkehr.

Wobei in „Der Sandkasten“ selbst nur oberflächlichen Kennern der deutschen Politik sofort bei den sehr detailfreudig gezeichneten Politikern reale Akteure in den Sinn kommen. Da ist etwa der manisch-vorsichtige Gesundheitssprecher der SPD, ein „hypochondrischer Zwangsneurotiker“ wie es im Buch heißt, oder der aalglatte Liberalenchef und der karrieregeile, stumpf-rechte aktuelle Gesundheitsminister der Union. Man muss das aber alles gar nicht wissen oder beachten – ähnliche Typen gab es ja überall.

Interessanter ist sowieso wie der Autor die schnell vorgenommenen Transformationen in den Medien und der Politik beschreibt. Christoph Peters hat etwa sehr genau beobachtet, wie uniform sich die Mehrzahl der Medien in der Pandemie verhalten haben und wie sie dabei eine Menge an Glaubwürdigkeit einbüßten. Wobei sich Peters dabei keineswegs verbissen an die Materie heranmacht – seine Lust an pointierten Beschreibungen offenkundig. Man erhält in diesem Roman dann aber doch eine ziemlich echt scheinende und noch dazu kurzweilige Darstellung der Mechanismen in der heutiger Politik und in den Medienunternehmen.