Beiträge

Vom ganz normalen durchgeknallten Alltag – Heinz Strunks neues Buch mit kurzen Geschichten

Heinz Strunk wurde mit seinem auch später verfilmten Roman „Fleisch ist mein Gemüse“ bekannt, in dem er von einem jungen Musiker in einer Tanzband, die auf diversen Dorffesten spielt, erzählte. Mit dem Roman über einen Hamburger Frauenmörder „Der Goldene Handschuh“ – so der Name der Kneipe, in der der asoziale Killer verkehrte – erreichte er einen literarischen Höhepunkt.

Insgesamt hat der 1962 in Bevensen geborene Autor, Musiker und Schauspieler bereits 11 Bücher veröffentlicht, die meisten davon sind satirisch und oft sarkastisch, wobei sich Strunk nicht scheut, sich im sogenannten bildungsfernen Milieu zu bewegen. Sein neuestes umfasst 30 Miniaturen, einige nur so lang wie Gedankenbilder, andere sind durchaus Erzählungen. Es beginnt schon mit einem Abendessen zweier Paare, die sich im Urlaub kennengelernt hatten und nun – da sie nicht weit voneinander wohnen – ihre Freundschaft auf die Probe stellen wollen. Daraus wird aber nichts, denn beim gemeinsamen Essen im Restaurant müssen sie erkennen, dass ihre Lebensweisen komplett verschieden sind. Strunk ist ein sehr genauer Beobachter deutscher Kleinbürger und natürlich ein exzellenter Satiriker. Seine Hiebe sitzen immer.

Schwer auszuhalten ist etwa seine Geschichte über einen älter gewordenen Sportfanatiker, der die Anweisung seines Arztes – höchste Arthrosegefahr – ignoriert und im Keller seines Hauses weiter ohne Hemmungen an den Geräten trainiert. Zu den Knochenbrüchen, die er sich zuzieht, kommt die Unmöglichkeit, Hilfe zu holen, dazu. Er verendet qualvoll in einer Truhe, was Strunk sehr genau und wohl auch mit Genuss beschreibt. Das ist hart, auch wenn der Typ natürlich alles andere als sympathisch erscheint.

Dazu kommen als Personal ein schwer drogenabhängiger Afghane, militante Tierschützer, diverse Rentner, ein nervtötender weiblicher Fan, das Opfer einer Thai-Massage und weitere Versager von nebenan. Eine etwas andere Urlaubslektüre. In der Titelgeschichte geht es übrigens um den Traum eines Schriftstellers von einem anderen berühmten Schriftsteller.


Heinz Strunk: Der gelbe Elefant
Rowohlt
208 Seiten
€ 22,70

Heimito von Doderers „verleugnetes Leben“ – Die Biografie des Schriftstellers zur Einstimmung auf den D-Day am 21. September

Am 21. September feiern wir bereits den 3. D-Day für Doderer – Heuer im Justizpalast! Helmut Schneider spricht mit dem Historiker und früheren Leiter der Büchereien Wien Alfred Pfoser über den Justizpalastbrand in Doderers Roman „Die Dämonen“, Chris Pichler wird Stellen aus dem Roman vorlesen. Der Eintritt ist frei.

Heimito von Doderer (1896 – 1966) war zweifelsohne ein Monomane und sein Werk steht wie ein erratischer Block in der Landschaft der Literatur – sogar in der an Eigenwilligkeiten nicht mangelnden österreichischen. Trotzdem wollte der Autor der „Strudlhofstiege“ und der „Dämonen“ zeitlebens hinter seinem Werk als Person verschwinden, wollte ein „Autor ohne Biografie“ werden. Dass dergleichen zumal heutzutage nicht gelingen kann, ist offensichtlich. Aber bis 1996 nahm trotzdem niemand das Wagnis einer Doderer-Biografie auf. Da erschien bei Kremayr & Scheriau Wolfgang Fleischers fast 600seitiges Buch „Das verleugnete Leben – Die Biographie des Heimito von Doderer“. Fleischer war – als blutjunger Student – in den letzten 3 Lebensjahren des Autors so etwas wie sein Privatsekretär gewesen, Doderer hatte ihm Briefe diktiert und bald auch in seinem Namen schreiben lassen. Fleischers Doderer-Bio ist deswegen aber keineswegs unkritisch – im Gegenteil, er schont Doderer in keiner Phase seines Lebens, räumt mit Mythen auf und gibt ein faires Bild von dessen politischen Fehlern und Ahnungslosigkeiten. Sogar Doderers sehr spezielles Sexualleben wird – ohne sensations- oder sonstwie -lüstern zu werden – nüchtern aufgearbeitet. Leider ist dieses Schlüsselwerk zu Doderer nur noch als ebook lieferbar.

Lebensweg

Heimito von Doderer hatte alles andere als ein typisches Schriftstellerleben. Weder zeigte sich seine Begeisterung für Sprache früh – er war ein miserabler Schüler – noch wurde ihm sein Schriftstellerleben bis zum Erfolg der „Strudlhofstiege“ – da war er schon 55! – leicht gemacht. Die meiste Zeit war er von Zuwendungen – vor allem von seiner Mutter – abhängig und ganze 11 Jahre war er beim Militär, die Zeiten der Gefangenschaft mit eingerechnet. Ausgerechnet im russischen Gefangenenlager – Doderer geriet 1916 in Gefangenschaft – in Sibirien an der Grenze zu China entdeckte er die Dichtkunst und beschloss, Schriftsteller zu werden. Nun behandelten die Russen auch noch in den Zeiten des Bürgerkriegs nach der Revolution, Offiziere viel besser als normale Soldaten. Die Häftlinge konnten in den Lagern eine Art Schulprogramm aufbauen und die Kameraden konnten sich gegenseitig weiterbilden. Die vier Jahre in Krasnojarsk waren aber sicher nicht nur angenehm, viele starben an Seuchen. Und im Chaos des russischen Bürgerkrieges war auch die Rückkehr nach Österreich durch ganz Sibirien über Sankt Petersburg nicht ungefährlich.

In Wien studierte Doderer schließlich Geschichte und schaffte auch einen Abschluss, bemühte sich aber auch Erzählungen und journalistische Arbeiten bei Verlagen unterzubringen – mit mäßigem Erfolg.

Zu dieser Zeit hatte er auch eine erste Freundin. Mit der aus einer jüdischen Arztfamilie stammenden Gusti Hasterlik, katholisch getauften jungen Dame, die ihm bildungsmäßig stark überlegen war, ging er eine mehr als ein Jahrzehnt dauernde wechselvolle Beziehung ein, die in einer Ehe mündete – ausgerechnet als ihr Verhältnis längst getrübt war. Denn Doderer war nicht nur bisexuell – sein erster Geliebter als Schüler war sein Hauslehrer Albrecht Reif gewesen, der später auch mit ihm in Sibirien das Gefangenenlager teilte –, sondern hatte sehr spezielle Vorlieben. Besonders dicke Frauen erregten ihn und am meisten genoss er Folterspiele, wobei der die Auserwählten nicht wirklich verletzte, da er sich mit einer Samtpeitsche begnügte. Um das zu erklären würde es wohl einer psychoanalytischen Analyse bedürfen, klar ist aber, dass Doderer sich in seiner Familie immer unterdrückt fühlte. Sein Vater war einer der erfolgreichsten Bauunternehmer, der maßgeblich an vielen Eisenbahnprojekten und an der Regulierung des Wienfluss beteiligt gewesen war.

Krisenjahre

Doderer war zeitlebens politisch nicht interessiert, er sehnte sich nach einer Art idealen Vielvölkerstaat, doch diverse Krisen ließen ihn – der als Adeliger die Massen verachtete und nicht einmal ein Radio in seiner Wohnung duldete – gemeinsam mit seinem Freund, den Maler und Schriftsteller Albrecht Paris Gütersloh, 1933 in die NSDAP beitreten. Just als sich in Österreich gerade der Austrofaschismus etablierte und die Nazis verboten wurden. Doderer erhoffte sich bessere Möglichkeiten bei deutschen Verlagen und er schaffte es dann auch tatsächlich, Autor von C. H. Beck in München zu werden. Natürlich musste er dafür auch in die Reichsschrifttumskammer aufgenommen werden. Noch vor dem Krieg wurde freilich eine andere Bewegung für ihn viel wichtiger, zumal ihn die Nazis in ihrer tatsächlichen Herrschaft zunehmend widerlich wurden. Er trat als evangelischer Christ zum Katholizismus über und las mit Begeisterung die Schriften des mittelalterlichen Dogmatikers Thomas von Aquin. Ausgerechnet, denn Aquin schuf auch die Grundlagen für den so fatalen Hexenglauben – ein Hexenprozess kommt später auch in Doderers „Dämonen“ vor. Aber bald folgte sowieso seine Einberufung in die Wehrmacht. Doderer musste an viele Kriegsschauplätze, wenn auch nicht in vorderster Front – als Offizier soll er seine Mannschaft immer geschont haben. Bei Kriegsende wurde er in Norwegen gefangen genommen.

Sein NSDAP-Zwischenspiel wirkte sich nach dem Krieg dann äußerst ungünstig auf den noch immer um Anerkennung Ringenden aus. Es kostete ihm viel Zeit und Geld als unbelastet eingestuft zu werden. Der österreichische PEN, der ihn später für den Nobelpreis vorschlug, lehnte zweimal seine Mitgliedschaft ab. Doderer hatte zeitlebens viele jüdische Freunde und sogar Förderer. Nach dem Krieg verkehrte er etwa mit Hans Weigel und Hilde Spiel und selbst der in Sachen verdrängter Geschichte des Nazitums sehr sensible Helmut Qualtinger wurde zu einem Saufkumpan.

Erfolg

Das Erscheinen der „Strudlhofstiege“ 1951 änderte schließlich alles für ihn. Er wurde mit Ehren überschüttet und überall eingeladen, sein Underdog-Schicksal war Geschichte. Als 1956 „Die Dämonen“ herauskamen, war der Nobelpreis für ihn in Griffweite, denn erstaunlicherweise wurde das fast 1400-Seiten-Werk auch in andere Sprachen übersetzt – dabei ist ein sehr langes Kapitel in Mittelhochdeutsch geschrieben. Doch ein – natürlich anonymer – Brief im Umkreis des österreichischen PEN machte das Nobelpreiskomitee dezidiert auf Doderers NSDAP-Mitgliedschaft aufmerksam.

In den letzten Jahren seines Lebens schrieb Doderer an seinem Roman No7 – in Anlehnung an Beethovens 7. Symphonie, seinem Lieblingsstück, sollte dieses Werk vier Bände (Sätze) haben. Nur der erste – „Die Wasserfälle von Slunj“ – konnte vollendet werden und erschien 1963 als eigener Roman. Zwischendurch verfasste Doderer auch das „Schelmenstück“, seinen Roman „Die Merowinger oder Die totale Familie“. 1966 starb er – kurz nach seinem 70. Geburtstag – an einem zu spät erkannten Darmkrebs. Seine behandelnde Ärztin, die sich um das Begräbnis kümmerte, verhinderte das Abspielen des 2. Satzes der A-Dur Symphonie – der letzte Wunsch des Autors – weil sie das Werk als zu weltlich empfand.

Sein Biograf Wolfgang Fleischer – er starb 2014 – hatte sich später zu einem anerkannten Experten für Feuchtbiotope entwickelte und Seerosen gezüchtet.


INFO
Facebook.com/D-Day für Doderer

Zeit für ein Gedicht – Mit der poesiegalerie gibt es endlich eine Plattform für Lyrik

Frieda Paris, Sara Schmiedl & Hannah Bründl beim „Fest der Poesie“ 2022. – ©poesiegalerie

Eigentlich sind Gedichte die ideale Literaturform für heute: Schnell konsumierbar wären sie ideal für Social Media-Kanäle und endlich einmal ein intelligentes „Futter“ für Smartphones. Allein: die Zahl der Lyrik-Fans scheint überschaubar – Verlage trauen sich kaum, Lyrik zu veröffentlichen, denn die Verkaufszahlen sind in der Regel niedrig. Deshalb sind private Initiativen so wertvoll.

In Wien gibt es seit 2018 die poesiegalerie (www.poesiegalerie.at). Initiiert von Udo Kawasser will sie ein Podium für die Präsentation der Vielfalt zeitgenössischer Lyrik in Österreich sein und als Forum für Information, Austausch und Vernetzung fungieren. Die poesiegalerie wird vom Verein „poesiegalerie. verein zur förderung der zeitgenössischen dichtkunst“ getragen, zu dessen Gründungsmitgliedern im Jänner 2019 auch Peter Clar und Monika Vasik zählten.

Die Ziele der poesiegalerie sind Öffentlichkeit, die größere Wahrnehmung österreichischer Lyrik und eine breitere Auseinandersetzung mit Poesie.

Neben dem Online-Auftritt www.poesiegalerie.at ist die poesiegalerie auch auf Facebook, Twitter, Instagram und Youtube präsent.

Mehrmals wöchentlich wird in der Rubrik Ausgestellt ein Gedicht von heute vorgestellt. Es sind Texte aus dem aktuellen Schaffen österreichischer Lyriker*innen bzw. von Autor*innen, die in österreichischen Verlagen publizieren. Anlassbezogen wird auch über die Grenzen Österreichs hinausgesehen. Es gibt Besprechungen von Lyrikbänden, sowie  Werkstattgespräche und Interviews.

Die poesiegalerie gibt zudem Schreibimpulse und lädt die Lyrik-Community ein, sich mit vorgegebenen Themen auseinanderzusetzen.

Außerdem findet jährlich im Herbst an drei aufeinanderfolgenden Abenden ein „Fest der Poesie“ statt, wo auch Newcomern eine Bühne geboten wird. Es ist Zeit für ein Gedicht!


Glasgow in den 90ern – Douglas Stewarts Außenseiterroman „Young Mungo“

Das Aufwachsen in einer Sozialsiedlung in der schottischen Arbeiterstadt Glasgow war in den 90er-Jahren mit Sicherheit herausfordernd. Aber wenn man wie Mungo noch dazu eine Alkoholikerin als Mutter hat, die sich meist von irgendwelchen Liebhabern aushalten lässt und daher abwesend ist und einen älteren Bruder, der eine Karriere als Boss einer Halbstarken-Gang eingeschlagen hat, dann ist das die Hölle pur. Zumal wenn man wie der Glasgower Schutzpatron Mungo heißt und noch dazu entdeckt, anders, nämlich schwul zu sein.

Douglas Stewart wurde mit seinem ähnlich gelagerten Sozialroman „Shuggie Bain“, der 2020 mit dem Booker-Prize ausgezeichnet wurde, schlagartig berühmt. „Young Mungo“ spielt im gleichen Milieu und ist sozusagen eine Weiterentwicklung des Themas. Man liest staunend vom Alltag eines Teenagers, der von mangelhafter Ernährung, Diskriminierung und schließlich auch von körperlicher Gewalt geprägt ist. Da sich Mungo zu oft mit einem nur 1 Jahr älteren Jungen bei dessen Taubenschlag herumtreibt, will seine Mutter ihn abhärten, ihm echte Männersachen lehren und schickt ihn ausgerechnet mit 2 verurteilten Missbrauchstätern, die sie nur aus Meetings bei den Anonymen Alkoholikern kennt, zu einer Angeltour. Die höchst dramatische Geschichte in den Wäldern nahe Glasgow ist die Klammer des Romans. Wie sich zeigen sollte, ist der 15jährige Mungo wehrhafter als befürchtet.

Dazwischen gibt es Einbrüche und brutale Kämpfe zwischen den katholischen und protestantischen Jugendlichen zu überstehen. Die verschiedenen Konfessionen sind sowieso völlig irrelevant – niemand ist gläubig –, gesucht sind bloß Objekte für Wut. 

Sophie Zeitz hat den schottischen Sozialsiedlungs-Jargon in eine deutsche Umgangssprache übertragen, es ist klar, dass das ohne Reibungsverluste unmöglich ist. Doch die Dialoge lesen sich flüssig, die reduzierte Sprache wird erlebbar.


Douglas Stuart: Young Mungo
Aus dem Englischen von Sophie Zeitz
Hanser Berlin
416 Seiten
€ 26,80

Eine Brutalität, die nachwirkt – Anne Rabes Roman über eine Kindheit in einer DDR-Familie nach dem Mauerfall

In der Geschichte gibt es keine Stunde Null, denn alles, was in Gegenwart und Zukunft geschieht oder geschehen wird, hat bereits eine Vorgeschichte. Anne Rabe demonstriert diesen Grundsatz anhand einer Familie, in der nach dem Zusammenbruch der DDR die Brutalität des Regimes weiterlebt. Das Mädchen Stine – die Erzählerin des Romans – kommt 1986 zur Welt, erlebt die DDR also nicht mehr bewusst. Und doch wollen Stines Eltern die neue Realität nicht wirklich wahrhaben, zumal sich zu Hause nicht viel ändert. Denn im Gegensatz zu vielen anderen in Rostock können die Eltern schnell in ihren Jobs weiterarbeiten. Mutter ist Erzieherin und das bedeutet für Stine nichts Gutes, denn in der DDR war die schwarze Pädagogik Standard. Mit Erziehungsmaßnahmen wurde alles Abweichlerische unterdrückt und hart bestraft. Prügel sind daher in Stines Familie Alltag, auch den jüngeren Bruder Tim kann das Mädchen nicht vor Mutters Schlägen schützen. Und Papa tut sowieso immer unbeteiligt.

Als Stine älter wird, drohen neue Gefahren. Die ehemalige DDR wird zum Aufmarschgebiet der Neonazis, die schon an den Schulen nicht nur sogenannte Ausländer verdreschen und demütigen. Aber auch bei ihren Freundinnen hat Stine Schwierigkeiten, gelten doch die Mitglieder ihrer Familie als „Rote Socken“, also die ehemaligen Nutznießer der DDR. Überhaupt haben es die, die den Umsturz herbeigeführt haben, später schwerer als die Mitläufer und Angepassten, denn anders als den Oppositionellen war ihnen eine höhere Bildung nicht verwehrt – und mit bessrer Bildung gibt es eben mehr Jobmöglichkeiten.

Stine möchte später die Geschichte ihrer Vorfahren, vor allem ihres Großvaters, der überzeugter Kommunist war, recherchieren. Auch weil er schon vor dem Krieg im Elend leben musste und dem Tod an der Ostfront nur knapp entkommen ist.

Wie ein Krake versucht Stines Mutter bis zuletzt noch noch ihre Enkelkinder in ihre Einflusssphäre zu ziehen. Dabei lebt Stine da schon längst in Berlin. Und schickt sich an, Autorin zu werden. Als Leser denkt man da natürlich an die Verfasserin des Buches, denn viele biografische Details finden sich im Roman wieder.

Mit ihrem Prosadebüt „Die Möglichkeit von Glück“ ist Anne Rabe ein gut lesbarer Roman über die langen Nachwirkungen von undemokratischen Staatsformen gelungen.


Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück
Klett-Cotta
384 Seiten
25,50 €

„Ich tue alles, um mein Publikum zu unterhalten“ – T. C. Boyle

T. C. Boyle in Wien – ein Interview mit dem Bestsellerautor aus Santa Barbara.

T. C. Boyles neuer Roman „Blue Skies“ wird weltweit bejubelt. Niemand sonst versteht es, die Auswirkungen der Klimakatastrophe ebenso drastisch wie unterhaltsam anhand einer gewöhnlichen Familie in den USA darzustellen. Sein Auftritt bei „Theater im Park“ im Schwarzenbergpark am Montag vor hunderten Fans wurde heftig akklamiert – sein Schriftstellerkollege Michael Köhlmeier las Stellen aus dem Roman auf Deutsch, T. C. Boyle diskutierte mit Ö1-Redakteurin Renata Schmidtkunz über Leben und Werk.

In „Blue Skies“ ist die Klimakatastrophe längst Alltag – in Kalifornien regnet es nie und Waldbrände fressen sich auch durch die Siedlungen, während in Florida sich Hurrikane täglich abwechseln und Häuser vom Meer verschluckt werden.

Wienlive konnte mit dem Autor, der 2013 mit seinem Roman „América“ Gast bei unserer Gratisbuchaktion „EineSTADT.EinBUCH.“ war, bei einem Mittagessen in der „Hollerei“– T. C. Boyle lebt weitgehend vegetarisch – sprechen.

Von Helmut Schneider

Nach den Klimabüchern „Ein Freund der Erde“ 2000 und jetzt „Blue Skies“ – fühlen Sie sich nicht ein bisschen wie Kassandra?

Ja, absolut – aber ich schreibe meine Romane nicht, um Menschen zum Handeln zu bewegen – das ist nicht mein Job als Künstler. Ich bin nur sehr beunruhigt. Wir alle begreifen inzwischen, dass es bei der Umweltkatastrophe keine Beschränkungen gibt – wir sind längst über der Grenze. Was uns Menschen erwartet, ist purer Horror. Ich habe keine Lösung für das Problem, ich kann nichts dagegen tun – außer Menschen bewusst machen, was ihnen bevorsteht. Romane können Menschen nicht von schädlichem Handeln abhalten.

Wir müssen uns also nicht vor Ihrem nächsten Roman fürchten?

Ich hoffe nicht, aber ich weiß noch nicht, worüber ich schreiben werde – aber es wird sicher wieder etwas ganz Anderes sein.

Nebenbei bemerkt – Kassandra ereilte ja ein schlimmes Schicksal…

Ja, das ist wahr. Aber irgendwie erwartet uns das ja alle…

Alle Ihre Bücher sind unterhaltsam, aber „Blue Skies“ finde ich ihr bisher witzigstes. War das so geplant?

Jede meiner Geschichten hat einen anderen Sound, eine andere Stimmung. Ich habe gestern mit Vergnügen gehört, wie die deutsche Fassung von „Blue Skies“ aufgenommen wurde. Aber ich plane keine Witze in die Geschichte ein, sondern diese entwickeln sich daraus.

Ist Humor nicht inzwischen die einzige Option, der Situation unserer Welt zu begegnen?

Ja, ob es nun die Klimaerwärmung ist, oder einfach die Tatsache, dass wir in einem sinnlosen Universum leben und irgendwann sterben werden – klar braucht man dabei Humor.

Es heißt ja auch, nur böse Witze sind gute Witze…

Das ist wahr. Meine Rezensenten waren sehr glücklich mit dem Buch, meinten aber, es wäre sehr schwarzhumorig. Mir war das aber gar nicht bewusst. Das liegt einfach in meiner Mentalität und es ist der Weg, den die Geschichte eingeschlagen hat. Aber bei Gesprächen mit dem Publikum merkte ich schon, dass viele einen Guru erwarten oder Lösungen und zumindest etwas Hoffnung. Damit kann ich allerdings nicht dienen.

In vielen Ihrer Bücher kommen Tiere in entscheidenden Rollen vor – Schimpansen, Löwen, Ratten, Vögel – nun eben Insekten und Schlangen. Es sind gar nicht mehr so viele Tiere übrig für Ihre nächsten Bücher, vielleicht noch ein Nilpferd?

Ja, Pablo Escobars Nilpferde sind ja berühmt und würden eine gute Story ergeben – obwohl das schon sehr bekannt ist. Aber ich bin einfach von der Natur und Biologie fasziniert. Wahrscheinlich wäre ich auch als Biologe glücklich. Aber es ist lustig – vielleicht gehen mir ja als Autor tatsächlich einmal die Tiere aus. Aber ich glaube fest daran, dass die Insekten, die in den letzten Jahren sehr reduziert wurden, wieder zurückkommen.

Sie bewegen sich sehr gerne – wie oft beschrieben – in der Natur. Aber warum sind Sie meistens allein unterwegs?

Das ist mein Weg, den Puls der Erde zu fühlen, wenn dabei dein Blut durch deine Venen strömt – ohne Ablenkung. Als junger Mann liebte ich es auch, mit Freunden durch die Gegend zu wandern, oft zugedröhnt und dann ins Wasser zu springen – das war auch toll. Aber unter meinen jetzigen Lebensumständen und vielleicht auch meinem Alter geschuldet bin ich bei meinen Wanderungen am liebsten unbegleitet. Ich will alles auf meine Weise sehen – ein bisschen so wie als Kind.

Sie hatten ja schon sehr viele Lesungen in den USA und Europa – unterscheidet sich da ihr Publikum sehr?

Eigentlich nicht. Aber in Deutschland und Österreich ist das literarische Publikum besser. Ich habe natürlich auch Hardcore-Fans in den USA, aber das normale Publikum scheint sich nicht so viel aus Literatur zu machen. Die Menschen, die zu meinen Lesungen kommen, sind ähnlich – sie lieben Literatur und ich versorge sie mit meiner, und ich habe das Glück, dass sie das lieben, was ich ihnen liefere. Vielleicht bestehen in Deutschland und Österreich bisweilen höhere formale Erwartungen, aber ich versuche das herauszunehmen, denn ich finde, Literatur wie eben auch Musik und generell Kunst soll für alle erfahrbar sein. Man muss nicht immer einen akademischen Schirm über alles halten – das kann auch spannend sein, aber ich liebe es, wenn Menschen Literatur einfach als Unterhaltung genießen. Literatur ist eine Geschichte, die dich emotional bewegt. Wer meine tiefgreifenden Gedanken haben will, soll meine Bücher lesen. Und wer sich unterhalten will, soll zu meinen Lesungen kommen, denn ich werde alles tun, um mein Publikum zu unterhalten. Das ist genau das, was meine Mutter getan hat, als sie mir als Kind Geschichten vorgelesen hat. Es ist eine Show, es ist Spaß. Ich denke, wir vergessen das nur zu oft.

Interessant, sie wuchsen ja in einer schwierigen Familie auf, aber Ihre Mutter hat Ihnen immer vorgelesen?

Meine Mutter hat mir tatsächlich das Lesen beigebracht – obwohl ich ein hyperaktives Kind war und anfangs auch gar nicht gut in der Schule. Deshalb hat sie begonnen, mir vorzulesen. Ich höre noch immer ihre Stimme, wenn ich lese, sogar auf der Bühne. Daneben gab es auch noch einen Lehrer, der Amateurschauspieler war. Wenn wir brav waren, hat er uns am Freitag eine Geschichte vorgelesen, eigentlich als Schauspieler aufgeführt. Das war pures Vergnügen, ich bin zitternd da rausgegangen. Als ich vor vielen Jahren in meinem Job angefangen habe, wusste ich von Beginn an, dass das eine Show sein musste. Einigen Hochschulprofessoren gefällt das nicht so, sie meinen, man sollte sich ernsthaft mit Literatur auseinandersetzen. Da stimme ich auch zu, aber jeder kann sich meine Arbeit auf seine Weise aneignen. Denn Kunst ist Freude – das ist das Einzige, was uns von den Tieren unterscheidet.  


T. C. Boyle: Blue Skies. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Hanser, 400 Seiten, € 28,80

Aufwachsen im Schatten Kaliforniens – „Avalon“, Nell Zinks berührendes Porträt eines Mädchens

Die Mutter verzieht sich in ein buddhistisches Kloster, der Vater ist längst ohne Adresse zu hinterlassen nach Australien ausgewandert. Und so wachsen Bran – Abkürzung von Brandy – und ihr Halbbruder auf einer Pflanzenfarm bei der Familie des letzten Freundes ihrer Mutter im Hinterland von Los Angeles auf. Die Familie gehört einer Motorradgang an und betreibt nebenbei recht krumme Geschäfte – sogar das Land, auf dem sie die Pflanzen für reiche Abnehmer und Firmen züchten, scheint nicht wirklich ihr Besitz zu sein. Doch Bran ist klug und schafft mühelos die Highschool, was ihr in den USA allerdings ohne weitere Collegeausbildung nur Jobs mit geringster Bezahlung ermöglicht. Zudem hat sie keine Papiere und auch keinen Führerschein, was sie allerdings nicht daran hindert, sich einen billigen Gebrauchtwagen zu besorgen und damit in die Unabhängigkeit zu starten, denn auf der schmutzigen Farm wird sie bloß als billige Arbeitskraft ausgenützt.

Nell Zink stammt aus Kalifornien, lebt aber schon seit Jahren südlich von Berlin. Dass sie erzählen kann, hat sie bereits mit Romanen wie „Nikotin“ und „Vrginia“ bewiesen. In „Avalon“ zeichnet sie ein anderes Bild ihrer Heimat an der Westküste. Eines der großen Gegensätze, denn Brans Freunde sind, wenn schon nicht reich, so zumindest guter Mittelstand. Etwa der schwule Jay, der trotz mangelnden Talents und ausgerechnet bei einer blinden Lehrerin Flamenco lernen und tanzen will und später die Filmhochschule besucht. Bran kann gut Geschichten schreiben – soll sie eine unwahrscheinliche Karriere als Drehbuchautorin wagen?

Und dann lernt sie den Studenten Peter kennen, der an der Ostküste studiert und bereits mit einem reichen, schönen Mädchen aus einem arabischen Clan verlobt ist. Zwar wissen beide, dass nichts aus ihrer Liebe werden kann, aber die Anziehung bleibt. Für Peter und seine Freunde sind alle Reichen und Erfolgreichen Faschisten, in Wirklichkeit erliegt er aber sehr leicht den Verlockungen des Kapitalismus. „Avalon“ – übrigens eine Insel vor L.A. auf dem sich ein Vergnügungspark befindet – endet auf der Party eines berühmten Schriftstellers und es ist klar, dass sich die Liebe von Peter und Bran in Erinnerung auflösen wird. Ein interessanter Roman abseits aller Kalifornien-Klischees.


Aufwachsen im Schatten Kaliforniens – „Avalon“, Nell Zinks berührendes Porträt eines Mädchens ist Helmut Schneiders Buchtipp.

Nell Zink: Avalon
Aus dem Englischen von Thomas Überhoff
Rowohlt
272 Seiten
€ 24,70

Literaturverlag am Alsergrund – Edition Atelier

Bild: ©Stefan Diesner

Vor zehn Jahren übernahmen Sarah Legler und Jorghi Poll den Literaturverlag Edition Atelier.

Die Verlagsgeschichte geht zurück bis in die 80er-Jahre, als der legendäre Politiker Jörg Mauthe zu seinem „Wiener Journal“ einen Verlag einrichtete, der dann später von der Wiener Zeitung fortgeführt wurde.

Im Dezember 2011 machte sich die „Edition Atelier“ von der Wiener Zeitung unabhängig und übersiedelte in die Schwarzspanierstraße im 9. Wiener Gemeindebezirk. Sarah Legler als Geschäftsführerin und Jorghi Poll als Lektor wurden zu je 50 Prozent Eigentümer.

Poll: „Wir sind ein kleines Team und allesamt Allrounder. Sarah hilft auch beim Lektorat aus und ich gestalte als Grafiker und Zeichner auch unsere Bücher. Das Programm gestalten wir gemeinsam. Bernadette Lietzow macht die Pressearbeit und betreut Veranstaltungen.“
Vor anderthalb Jahren übersiedelte der Verlag in ein Gassenlokal in der Nussdorfer Straße 62, in dem neben dem Büro auch eine Buchhandlung mit kleiner Auswahl an Neuerscheinungen und natürlich dem gesamten eigenen Sortiment Platz findet. Da es in der Nachbarschaft keine alternative Buchhandlung gibt, kommen Anrainer auch gerne hierher, um Bücher zu bestellen.

Literatur & Widerentdeckungen

Was ist nun das Besondere an diesem Wiener Kleinverlag?

Sarah Legler: „Wir legen viel Wert auf den Kontakt mit unseren Autorinnen und Autoren. Viele betreuen wir ja schon seit Jahren und sie bleiben auch bei uns.“
Natürlich kommen auch sehr viele unverlangte Texte beim Verlag an. Meist kann aber schnell entschieden werden, ob ein Manuskript für eine Veröffentlichung taugt. Als bisherigen Bestseller nennen Poll und Legler den Roman „Reibungsverluste“ der in Sarajewo geborenen und längst in Wien lebenden Autorin und Übersetzerin Mascha Dabić. In dem Buch geht es um eine Dolmetscherin für Geflüchtete, die an den Leidensberichten der Menschen, die sie täglich hören muss, zu verzweifeln droht. Gerade ist eine Paperback-Ausgabe erschienen.

In der Regel werden pro Titel aber etwa 1.000 bis 1.500 Exemplare gedruckt. Die „Edition Atelier“ braucht natürlich Mittel aus der Verlagsförderung des Bundes und bei Wiener Autorinnen und Autoren kann auch bei der Stadt Wien um Unterstützung angesucht werden. Dass die Bücher des Verlages unverwechselbar sind, dafür sorgt Jorghi Poll als Grafiker und Zeichner. Gerade ist seine erste Graphic Novel erschienen. Die Wiener Fahrrad-Publizistin Petra Sturm hat ein Porträt der Radrennpionierin Cenzi Flendrovsky (1872–1900) verfasst, das durch seine Zeichnungen zu einer Bildgeschichte wurde.

Ein weiteres Standbein des Verlags sind Wiederauflagen von in Vergessenheit geratenen Autorinnen und Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Heuer ist etwa der Roman „Maskerade“ von Hans Flesch-Brunningen (1895–1981) erschienen, in dem es um eine Dreiecksbeziehung in Rom vor dem Hintergrund des drohenden Weltkriegs geht.

Infos: editionatelier.at

Zwei Geschwister im Trubel nach der Wende – Susanne Gregors Roman „Wir werden fliegen“

Miša und Alan sind Geschwister und wachsen in einer slowakischen Industriestadt auf. Kurz vor dem Zusammenbruch des Ostblocks flieht der ältere Alan über dir Grenze und wird Hilfsarbeiter in Hamburg. Nach einem schlimmen Arbeitsunfall zieht er zu den Eltern, die inzwischen nach der Wende in Wien leben. Er studiert Medizin und wird Orthopäde am AKH. Aber trotzdem er wie seine Schwester Miša perfekt Deutsch spricht und im Job einer der besten ist, scheint ihm etwas zu fehlen. Nachdem er unverschuldet für eine schadhafte Prothese den Kopf hinhalten muss, dafür aber eine viel besser bezahlte Stelle in einer anderen Klinik angeboten bekommt, verschwindet er plötzlich und taucht – ziellos durch Südosteuropa fahrend – unter. Eltern, Schwester und Freundin sind besorgt.

„Wir werden fliegen“ geht dort weiter wo Gregors erster Roman „Das letzte rote Jahr“, das die Jahre vor der Wende in Žilina aufgehört hat. Schon dieses Buch war eine bemerkenswerte Talentprobe.

Susanne Gregor kennt die mentale Heimatlosigkeit ihres Geschwisterpaares aus eigenem Erleben, denn sie kam selbst als Kind aus der Slowakei nach Österreich. Die kulturellen Unterschiede zwischen Ost und West bestehen für sie auch noch mehr als 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Vasallenstaaten. Viele der einstigen Migranten sind inzwischen zwar bestens integriert, aber wer interessiert sich etwa heute bei uns, wie die Familien der Pflegerinnen aus Rumänien leben?

„Wir werden fliegen“ ist ein Roman über Familie und Identität. Einst stellten sich Miša und Alan – in einem Swimming-Pool in einem Ostblockhotel – den Westen als ein Reich ohne Grenzen und mit einem reich gedeckten Tisch für alle vor, wo immer ein Pool bereitstehen würde. Aber Freiheit ist auch bei offenen Grenzen nicht leicht zu haben. Die sensible Miša ist weit weniger geradlinig in ihren Zielen als ihr Bruder und muss gerade in ihren Beziehungen einiges einstecken. Doch dafür ist sie etwas ehrlicher zu sich selbst.

Susanne Gregor erzählt ebenso spannend wie geschickt, indem sie das Verschwinden Alans als Cliffhanger gleich an den Beginn des Romans stellt und oft auch aus der Sicht von Nebenfiguren – wie der Diplomatentochter Nora – Alans Freundin – auf die Handlung blickt.

Ein kluger Roman, der uns auch zeigt, dass das Projekt Europa in einigen wichtigen Bereichen noch ganz am Anfang steht.


Zwei Geschwister im Trubel nach der Wende – Susanne Gregors Roman „Wir werden fliegen“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

Susanne Gregor: Wir werden fliegen
Frankfurter Verlagsanstalt
254 Seiten
€ 24,70

Würgeschlangen & andere Katastrophen – T. Coraghessan Boyles Endzeitroman „Blue Skies“.

In Florida endet die Hurrikansaison überhaupt nicht mehr, in Kalifornien gibt es dafür nur noch Sonne und dazu Waldbrände. Eine durchschnittliche amerikanische Familie muss im neuen Roman des US-Autors mit diesen und anderen Katastrophen umzugehen lernen. Nicht alle sind unvermeidlich. Dass sich etwa die studienabbrechende Tochter Cat in Florida eine Python zulegt, weil sie die Zeichnung der Schlangenhaut so toll findet, und sie mit der Schlange um den Hals als Influencerin durchstarten will, scheint nicht erst gefährlich, als sie Zwillingsmädchen bekommt. Und wenn ausgerechnet der mit einer Zeckenforscherin liierte Sohn Cooper zu spät seinen Zeckenbiss nach Studien im kalifornischen Valley behandeln lässt – obwohl sein Vater noch dazu Mediziner ist – schüttelt man wohl den Kopf als er dann eine Hand verliert. Aber Boyle kennt eben die Psyche seiner Figuren und damit unser aller Schwächen nur zu gut. Oft sind es ja gerade die kleinen Fehler und Unachtsamkeiten, die uns in den Abgrund blicken lassen. Am normalsten scheint noch Mutter Ottilie, die sich an der Küste auf einen geruhsamen Lebensabend mit ihrem Mann einrichtet. Cooper zuliebe steigt sie von Fleisch auf Insekten um, damit die Ökobilanz wieder stimmt. Auch Wasser setzt sie sparsam ein, obwohl sowieso längst alles vergeblich erscheint wenn ringsum Häuser durch Feuer zerstört werden.

Dem in Santa Barbara, CA, wohnenden Bestsellerautor T. C. Boyle kann man sicher nicht vorwerfen, jetzt erst auf die Ökowelle aufgesprungen zu sein. In seinen Romanen hat er die Umweltproblematik genauso oft behandelt wie seine anderen großen Themen Gewalt, Drogen, Sex oder überhaupt den American Way of Life. „Blue Skies“ ist auch keine Dystopie – denn leider sind einige der vom Autor beschriebenen Szenarien bereits eingetroffen. Warum der Roman unbedingt lesenswert ist: Boyle kann einfach verdammt gut erzählen und er hat ein wunderbares Gespür für Spannung. Wir erleben gerne die Kämpfe von „Normalos“ gegen die Auswirkungen der Klimakatastrophe und ertragen es, dass wohl manches bald auch unser Leben stark beeinträchtigen wird. Der Roman für Unerschrockene!

Am Montag, den 12. Juni, 20 Uhr, ist T. C. Boyle mit einer Lesung zu Gast im Theater im Park, im Schwarzenberggarten am Belvedere – Eingang Prinz-Eugen-Straße/Ecke Plößlgasse (Straßenbahnlinie D), Tickets: theaterimpark.at/programm-tickets


Würgeschlangen & andere Katastrophen – T. Coraghessan Boyles Endzeitroman „Blue Skies“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.

T. C. Boyle: Blue Skies
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Hanser
400 Seiten
€ 28,80