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Buchtipp: Kim Hye-Jin, Die Tochter

Annäherung zwischen Generationen


Annäherung zwischen Generationen – Kim Hye-Jins Mutter-Tochter-Roman aus Südkorea. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.


Ein Blick in die Untiefen der Wirtschaftsboom-Region Südkorea: Kim Hye-Jin zeigt uns in ihrem ersten auf Deutsch erhältlichen Roman „Die Tochter“ Menschen, die kaum etwas vom großen Wohlstand abbekommen und die an der noch immer sehr traditionellen Gesellschaft leiden. Die Mutter besitzt zwar nach dem Tod ihres Mannes ein Mietshaus, doch das ist so desolat und die Mieter so knapp bei der Kasse, dass sie auch noch im Alter in einem Seniorenheim als Pflegerin arbeiten muss, während ihre Tochter Green trotz Studiums nur eine kaum bezahlte Assistentenstelle an der Uni hat. Doch das macht der Mutter weniger Sorgen als Greens Beziehungsstatus, denn diese lebt mit einer Köchin zusammen, die im Roman immer nur das Mädchen genannt wird. Aus der Traum vom sicheren Hafen der Ehe mit Enkelkindern. Gleichgeschlechtliche Beziehungen sind in Korea bestenfalls vom Gesetz geduldet, in der Gesellschaft aber weiterhin verpönt.

Kim Hye-Jin erzählt aus der Sicht der Mutter, wir bekommen somit ihre große Abneigung gegen die Partnerin ihrer Tochter unmittelbar mit. Aber im Lauf der Handlung dürfen wir erleben, dass die beiden mehr gemeinsam haben als sie zugeben würden. Um Geld zu sparen, das sie nicht haben, ziehen die Tochter und das Mädchen bei der Mutter ein. Green engagiert sich auf der Uni für Lehrende, denen man aufgrund ihrer Homosexualität ohne Angabe von Gründen den Lehrvertrag nicht mehr verlängert hatte. Ein aussichtsloser Kampf bei dem Green schließlich sogar brutal von Gegendemonstranten verprügelt wird.

Aber die Mutter ist auf ihre Art nicht weniger engagiert. Als sie mitbekommt, dass ihre demente Patientin trotz der großen Summen, die sie für das Seniorenheim bezahlt hat, in eine Abteilung ohne intensive Pflege abgeschoben wird, „befreit“ sie diese kurzerhand und bringt sie zu sich nach Hause. Kim Hye-Jin zeichnet das Bild einer sozialdarwinistischen Gesellschaft, in der nicht einmal mehr Reichtum ein gutes Leben garantiert. Wenn sich niemand um einen kümmert, kümmert es eben niemand mehr. Ein hartes, aber notwendiges Buch, das Wert ist, gelesen und diskutiert zu werden.    


Kim Hye-Jin: Die Tochter
Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee
Hanser Berlin
ISBN: 978-3-446-27232-3
172 Seiten
€ 20,60

Vorlesetag 2022

 „Vorlesen für den Frieden“ – am 24. März ist der Österreichische Vorlesetag


Ganz im Zeichen des Friedens findet am 24. März der Österreichische Vorlesetag statt. Er ist auch der erste mit internationalem Zugang: Ein Teil davon ist die Kick-off-Veranstaltung, der European BookDay.
Foto: Stefan Joham


Beim European BookDay werden Autor:innen aus mehreren Ländern im Wiener Rathaus ihre Geschichten vorlesen. Zusätzlich ruft der Verein „Auslandsösterreicher Weltbund“ tausende Österreicher:innen, die im Ausland leben, zum Mitmachen auf. Der Österreichische Vorlesetag umfasst bundesweit zahlreiche öffentliche Veranstaltungen und Online-Vorlesungen mit Prominenten, die viertelstündlich auf der Website www.vorlesetag.eu freigeschaltet werden.

Das Motto des Österreichischen Vorlesetages am 24. März wird heuer entsprechend der derzeitigen Weltlage erweitert: „Vorlesen für den Frieden“ soll überall stattfinden. An einer Straßenecke, im Park, im Wirtshaus, zu Hause. Egal wie wir vorlesen, ob privat, öffentlich, digital oder hybrid. Wir bündeln unsere geistigen Kräfte für ein stabiles Weltgefüge.

„Lesen bildet. Vorlesen verbindet. Gemeinsam sind wir stärker.“ – Dafür braucht es Menschen, die Vorbild sein wollen, sich ein Herz und die Zeit nehmen, und für ihre Mitmenschen aus einem Buch vorlesen. Zeit, Bücher hör- und verstehbar zu machen, um daraus neue Geschichten entstehen zu lassen. Geschichten für den Frieden.

Auf der Website www.vorlesetag.eu gibt es heuer einen eigenen Button, unter dem man „Friedensgeschichten“ downloaden kann. Es sind Geschichten und Gedichte, die sowohl Kinder, junge Erwachsene als auch Erwachsene ansprechen können.

PROGRAMM:

Der Österreichische Vorlesetag beginnt um 9:00 Uhr mit dem EUROPEAN BOOK DAY im Wiener Rathaus. Vier internationale Autor:innen werden ihre persönlichen Geschichten vorlesen:

aus Schweden: JONA ELINGS KNUTSSON

aus Rumänien: ION ANDREI PUICAN

aus Deutschland: ANDREA PENKUES

aus Österreich: CHRISTOPH MAUZ

Prominente Vorleser in Österreich:

ORF-Generaldirektor Roland Weißmann, Jugendstaatssekretärin Claudia Plakolm, WKO-Präsident Harald Mahrer, Burgschauspieler Peter Simonischek, Sängerin Elisabeth Engstler, Kabarettist Thomas Maurer, Vorturner„der Nation“ Philipp Jelinek, Moderatorin Vera Russwurm, Moderator Dominik Heinzl, Talkerin Barbara Karlich, Dompfarrer Toni Faber, Schauspielerin Lilian Klebow, Style-Expertin Martina Reuter, Sängerin Missy May, Schauspieler Christian Dolezal, Autor Bernhard Aichner, Moderatorin Eser Akbaba

Alle Infos gibt es auf: www.vorlesetag.eu

Buchtipp – Abigail Assor, So reich wie der König

Als junge, arme Französin in Marokko – Helmut Schneiders Buchtipp über Abigail Assors harten Liebesroman „So reich wie der König“.

Marokko in den 90ern


Als junge, arme Französin in Marokko – Helmut Schneiders Buchtipp über Abigail Assors harten Liebesroman „So reich wie der König“.


Marokko in den 90ern: Die Masse der Menschen ist bitterarm, doch einige wenige schwimmen in Geld und Luxus. Mit Autos und Rolex-Uhren wird der Status angezeigt. Sarah ist 16, bildschön und geht auf die französische Schule in Casablanca, wo ihre Klassenkameraden vom Chauffeur nach Hause gebracht werden. Doch sie selbst ist darauf angewiesen, sich ein Mittagessen zu schnorren, die Schule kann sie nur besuchen, weil französische Staatsbürger hier kein Schulgeld zahlen müssen. Aber Sarah hat begüterte Freunde, die sie gerne auf ein Panini einladen. Ihre Mutter, die ihr ganzes Geld an einen Betrüger verloren hat, ist eine bessere Prostituierte. Beiden leben sie am Rande einer Barackensiedlung, haarscharf vom untersten Elend der Stadt getrennt.

Sarahs einziges Kapital ist ihre Schönheit, ihre Liebhaber spendieren ihr allerdings nicht viel mehr als Jeans und ein paar Mahlzeiten. Da hört sie von Driss, dessen Familie reicher sein soll als der König. Sarah träumt davon, seine Frau zu werden und im Familienpalast zu wohnen. Aber Driss ist ein Einzelgänger, der sich fast nur für sein Motorrad zu interessieren scheint. Sarah schafft es letztendlich doch, seine Geliebte zu werden. Ja, es sieht sogar bald nach echter Liebe aus. Auf seine Weise ist allerdings auch Driss ein Gefangener seiner Herkunft. Sein Vater, der größte Textilfabrikant des Landes, hält ihn für einen Versager. Ein Deal mit einem amerikanischen Partner geht schief. In Sarah findet er endlich jemanden, der  ihm zuhört und der zu ihm zu gehören scheint. Als Driss seiner Familie eröffnet, Sarah heiraten zu wollen, erntet er nur Hohn und Ablehnung. In der Schlüsselszene des Romans kommt Sarah anlässlich des islamischen Opferfestes zum ersten Mal ins Haus der Familie. Sarah ist absichtlich schwanger geworden, um ihre Chancen auf eine Hochzeit zu erhöhen. Allerdings hat sie nicht mit der Kaltschnäuzigkeit der Reichen gerechnet. Die Mutter eröffnet ihr unumwunden, was mit den Geliebten ihres Mannes, die ein Kind von ihm haben, passiert. Sie werden ganz einfach aus dem Haus geworfen.

Abigail Assor wurde 1990 in Casablanca geboren und studierte in Paris und London. Ihr Debütroman „So reich wie der König“ schaffte es bereits auf die Shortlist für den Prix Goncourt. Denn Assor ist ohne Zweifel ein erzählerisches Talent. In ihrem Roman wird Casablanca zum nach Armut und Verfall stinkenden Moloch, mit heruntergekommenen Jugendlichen, fliegenverseuchten Imbissbuden und überquellenden Mülleimern. Die Botschaft des Romans ist einfach und brutal – sowohl bei den ganz Armen als auch bei den Reichen dreht sich alles immer nur um Geld.


Als junge, arme Französin in Marokko – Helmut Schneiders Buchtipp über Abigail Assors harten Liebesroman „So reich wie der König“.

Abigail Assor: So reich wie der König
Aus dem Französischen von Nicola Denis
Insel Verlag
ISBN: 978-3-458-64284-8
220 Seiten
€ 23,70

Buchtipp – Michel Houellebecq, Vernichten

Der Literatur-Agent-Provocateur


Michel Houellebecq überrascht mit einem Familienroman. Eine Buchkritik von Helmut Schneider.


Ganz ehrlich – die letzten Romane des französischen Starschreibers Michel Houellebecq waren kein Vergnügen für Leser, blieb man doch stets völlig deprimiert zurück. Alter weißer Mann schimpft auf die Gesellschaft, deren Niedergang er zugegebenermaßen sehr beredt und kompromisslos seziert – dafür reichte es aber auch, die Standard-Kommentare zu lesen. „Vernichten“, der neue mehr als 600 Seiten starke neue Roman des Parisers, ist trotz des wenig hoffnungsvollen Titels und die nicht minder traurigen Vorkommnisse, die darin geschildert werden, aber anders. Denn Houellebecq zeigt uns, wie eine Familie irgendwie doch zusammenhält und das Wachkoma des Vaters zu bewältigen versucht und wie sogar eheliche Liebe in schwierigen Zeiten wieder aufzublühen vermag.

Der Plot: Paul ist ein gutverdienender Finanzexperte im Stab des französischen Wirtschaftsministers Bruno, der ihm fast ein Freund geworden ist. Seine Luxusmaisonette ist nur wenige Schritte vom Ministerium entfernt, seine ebenfalls im Staatsdienst arbeitende Frau Prudence sieht er seit 10 Jahren allerdings kaum noch. Sie haben sich auseinandergelebt und ihre Zeiten in der gemeinsamen Wohnung so getaktet, dass sie sich so gut wie nie sehen. Im Bett läuft sowieso schon längst nichts mehr.

Beunruhigend im Büro sind einige Cyberattacken auf den Wirtschaftsminister – ein Meme zeigt gar seine Enthauptung als perfekt gemachten Comic-Strip. Die Geheimdienste der freien Welt stehen vor einem Rätsel. Wir sind dabei mitten in einer heiklen politischen Situation – der Sanierer Bruno steigt zum starken Mann in Frankreich auf, weil der Präsident nach seinen 2 Regierungsperioden (unverkennbar Macron) jetzt einen Platzhalter bis zur wieder möglichen Kandidatur braucht. Der Roman spielt im Jahr 2027 und der tatsächlich als Präsident kandidierende Mann ist ein substanzloser Fernsehmann und Populist, der letztendlich nur gegen seinen geschickten jungen Konkurrenten von der Rechten gewinnt, weil die Terroristen vor der Wahl ein Massaker im Mittelmeer verüben.

Houellebecq zeigt uns in „Vernichten“, wie eine Familie irgendwie doch zusammenhält und das Wachkoma des Vaters zu bewältigen versucht. – ©Pensamento Porto Alegre 2016

Just da bekommt Pauls Vater einen Schlaganfall und fällt in ein Wachkoma, das heißt er versteht alles, was um ihn herum geschieht, kann aber nur blinzeln und bestenfalls den Finger bewegen. Die Familie – neben Paul gibt es noch die überzeugte Katholikin Cécile und den lebensfremden jüngeren Bruder Aurélien – findet sich um die zweite Frau des Vaters – die herzensgute, aber ungebildete Madleine – im großen Haus der Familie in der Provinz ein. Dabei war der alte Mann anscheinend ein führender Geheimdienstler, was er vor seiner Familie aber gut versteckt hatte. Bald wird klar: Wenn der Vater im Spital bleibt, wird er sterben, denn die Betreuung in den staatlichen Einrichtungen ist nach den Budgetkürzungen katastrophal – Houellebecq scheut sich nicht, diesen Umstand Euthanasie zu nennen. Also lässt die Familie – eingefädelt durch Céciles Ehemann, einen arbeitslosen Notar mit Verbindungen zur rechtsextremen Szene – den Vater aus dem Spital entführen. Die Ärzte erstatten sowieso keine Anzeige. Doch leider hat das Auswirkungen auf die helfende Krankenschwester, die längst zur Geliebten von Aurélien geworden ist und die noch dazu keine bleibende Aufenthaltsgenehmigung hat. Der erste Hammerschlag: Aurélien bringt sich um. Der zweite folgt wenig später. Paul geht nach längeren Zahnschmerzen endlich zum Zahnarzt und der hat sofort den Verdacht, dass bei ihm ein Mundhöhlenkrebs wuchert. Es folgt eine ziemlich detaillierte Schilderung der Behandlung durch Chemotherapie – eine komplizierte, aber lebensverlängernde Operation, die ihm das Kiefer und die Zunge kosten würde, lehnt Paul entschieden ab.

Schwere Kost also, doch schon vor der Erkrankung haben Paul und Prudence wieder zueinander gefunden, sie erleben einen zweiten Frühling in ihrer Beziehung – für Houellebecq eine Gelegenheit, wieder ein paar Sexszenen einzufügen. Die hätte man ehrlicherweise genauso wenig gebraucht wie die vielen Träume von Paul, die im Buch auftauchen. Früher hieß es unter Schriftstellern: Erzähle einen Traum und die verlierst einen Leser, aber Houellebecq kann sich das anscheinend leisten. Am Ende gewährt er dem Paar einen fast heiligen Frieden. Das ist dann echt berührend, wenn der Grantscherm der modernen Literatur die letzten innigsten Momente eines Ehepaars mit gröstmöglicher Anteilnahme schildert. Ein Houellebecq also, den man auch psychisch weniger gefestigten Lesern empfehlen kann. Die vielen Unwahrscheinlichkeiten und die doch ziemlich undifferenzierte Darstellung der Terroristen – wer sie sind, wird nie aufgeklärt – nimmt man da in Kauf.


Michel Houellebecq: Vernichten
Aus dem Französischen von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek
DuMont Verlag
ISBN: 978-3-8321-8193-2
622 Seiten
€ 28,80

John Irving

John Irving wird 80


John Irving wird 80 – wir bringen ein Interview, das in Vorbereitung auf seinem Wien-Besuch 2005 bei „EineStadt.EinBuch.“ entstand.
Text: Helmut Schneider / Foto: Basso Cannarsa


John Irving, geboren 1942 in Exeter, New Hampshire, ist einer der erfolgreichsten Autoren weltweit. Viele seiner Romane wurden zu Weltbestseller, vier davon wurden verfilmt. 2000 erhielt er einen Oscar für die beste Drehbuchadaption für die Verfilmung seines Romans Gottes Werk und Teufels Beitrag.

Seit Jahren lebt Irving mit seiner kanadischen Frau in Toronto, wo ich ihn anlässlich der Wiener Gratisbuchaktion „EineStadt.EinBuch.“ auch besuchen durfte. 2005 wurde nämlich sein Erstlingsroman „Laßt die Bären los!“ in 100.000 Exemplaren in Wien verteilt. Irving lebte nämlich nach dem Weltkrieg eine Zeitlang in Wien und „Laßt die Bären los!“ ist eine Wiener Geschichte. Wie es zu diesem Buch kam, erzählte er mir im Interview – siehe unten. Wir gratulieren John Irving zu seinen 80. Geburtstag am 2.3.2022. 2023 soll wieder ein umfangreicher Roman von John Irving erscheinen.

Interview mit John Irving, geführt am 21. Dezember 2005 in Irvings Wohnung in Toronto

Das erste Buch eines Schriftstellers ist ja immer etwas Besonderes. Was sind Ihre Gefühle, wenn Sie an „Laßt die Bären los!“ zurückdenken?

IRVING: Es war ein Glücksfall für mich. Denn ich wählte zufällig eine Geschichte, die ich kannte, und somit hatte ich für meinen Roman sozusagen ein Fundament in der Faktenwelt. Eine der Geschichten, die ich in Wien erfuhr, war nämlich, dass während des Krieges die Tiere im Zoo sicher waren. Niemand bedrohte sie. Aber als die Wiener wussten, dass die Stadt fallen und von den Russen eingenommen werden würde, waren die Tiere des Zoos plötzlich verschwunden. Die Wiener waren sicher schon vorher hungrig und verzweifelt – aber sie beschützten den Zoo. Als sie hörten, dass die Sowjets kämen, wollten sie ihnen anscheinend die Tiere nicht überlassen. Es gibt allerdings keine schriftlichen Aufzeichnungen von dieser Geschichte, sondern das war etwas, was sich die Menschen in Wien erzählt haben. Ich habe mit Überlebenden darüber gesprochen; auch mit Menschen, die im Zoo arbeiteten, als die Stadt bombardiert wurde, und die die Tiere damals in Sicherheit gebracht haben.

Diese Zoo-Geschichte hat mich bewegt. Daneben zog ich Parallelen zu meiner Generation in den USA. Meine Generation wuchs auf, als Krieg in Vietnam war; aber sie wuchs auch auf mit den Erinnerungen an die Vätergeneration, die in einem anderen Krieg – dem Zweiten Weltkrieg – gewesen war. Die Vätergeneration konnte ja stolz sein auf ihren Einsatz im Weltkrieg. In meiner Generation war aber niemand mehr stolz darauf, im Vietnamkrieg zu kämpfen. Ich sah die österreichischen Studenten, die eine ähnliche, aber auch unterschiedliche Erfahrung wie ich hatten. Sie waren stolz auf einige Geschichten, die sie über ihren Krieg gehört hatten, aber ganz sicher nicht auf alle. Sie hatten das Gefühl, dass sich ein wichtiger Moment in der Geschichte bereits ereignet hatte, bevor sie auf die Welt gekommen waren. Aber für sie war das bereits Vergangenheit und sie fühlten sich nicht mehr dafür verantwortlich.

Was mich damals bewegte, war nun Folgendes: Ich fand zwar, dass es gute Beweggründe für einen Protest gegen den Vietnamkrieg gab, aber persönlich habe ich nie daran geglaubt, dass das irgendetwas bewirken könnte. Wir – die Amerikaner – sind letztendlich aus Vietnam abgezogen, weil wir verloren hatten und nicht weil wir auf irgendeine Meinung gehört hätten. Ich wollte dazu eine Geste finden, die ähnlich gut gemeint war, aber völlig dumm ist. Diese Jugendlichen in „Laßt die Bären los!“ haben ein gutes Herz, aber sie irren sich ja vollkommen – die Befreiung des Zoos endet in einem Desaster.

Ich hatte das Gefühl, die Frustrationen meiner Generation beschreiben zu müssen, obwohl ich persönlich mit Glück dem Vietnamkrieg entkommen bin. Ich war 1961 zu einer Offiziersausbildung vorgemerkt, weil ich damals Ringer war, und ich dachte, falls ich einen Einbruch hätte und nicht mehr ringen könnte, würde das Militär für mich die restliche Universitätsausbildung bezahlen. Das war für mich eine Absicherung. Ich wäre 1965 als Leutnant sicher nach Vietnam gekommen. Die Armee dachte damals, es wäre gut, wenn ich mein Deutsch verbessern würde und in ein deutschsprachiges Land käme. Aber als ich von Wien zurückgekommen war, habe ich gesehen, dass niemand mit meiner Ausbildung zum Dienst nach Berlin kommen würde. Ich bin da einer Katastrophe entkommen.

Darüber zu schreiben, war für mich nicht sinnvoll – weil das damals ja jeder tat. Jeder wurde auf die eine oder andere Weise vom Vietnamkrieg vereinnahmt. Ich dachte daher, dass ich einige Aspekte der Verunsicherung meiner Generation besser darstellen könnte, wenn meine Helden Österreicher und nicht Amerikaner wären. Und wenn sie gegen eine andere Historie rebellieren würden. Meine persönliche Biografie war hingegen wieder vom Zufall bestimmt. Ich heiratete, bevor ich Europa verließ, und mein erster Sohn wurde geboren, als ich noch an der Uni war. Das machte mich unantastbar für das Militär, denn sie nahmen keine Väter.

Sie hatten also einfach Glück.

Ja, das hatte ich. Denn dadurch sind mir die ganzen Überlegungen, was ich tun soll, erspart geblieben. Damals haben die jungen Menschen ja viele Dinge angestellt, um nicht nach Vietnam zu kommen – von Finger abschneiden bis sich ins Bein schießen. Aber ich hatte sozusagen eine Freikarte und schrieb stattdessen meinen ersten Roman „Laßt die Bären los!“

„Laßt die Bären los!“ ist also doch auch ein amerikanischer Roman.

Der Vietnamkrieg und die Generation, die mit diesem Krieg leben musste, waren der Hintergrund für das Buch. Denn man kann die Geschichte manchmal nicht richtig beurteilen, wenn sie gerade passiert. Aber es war leicht für mich, eine geschichtliche Periode zu beschreiben, die bereits vorbei war – konkret eben all die Verrücktheiten in Jugoslawien während des Zweiten Weltkrieges. Und es war leichter, diese Geister zum Leben zu erwecken und die zwei jungen, naiven österreichischen Studenten zu erschrecken. Und ich konnte es so aus dem amerikanischen Kontext nehmen, gleichzeitig aber das Thema behandeln.

Als das Buch zum ersten Mal erschien, bekam es gute Kritiken, wurde aber von den Lesern nicht viel beachtet. Aber ich verkaufte die Taschenbuchrechte und jemand wollte sogar einen Film daraus machen. Ich ging sogar zurück nach Wien, um am Drehbuch zu arbeiten. Es passierten interessante Dinge, aber nicht ein Kritiker von „Laßt die Bären los!“ sah Parallelen zum Vietnamkonflikt. Erst als das Buch in einige europäische Sprachen übersetzt wurde – speziell ins Französische und ins Deutsche –, erkannten die jeweiligen Kritiker, dass die Fatalität und Verzweiflung viel mit Vietnam zu tun hat. Die Franzosen und Deutschen sahen das als eine Art Parodie auf Vietnam. Allerdings wurde „Laßt die Bären los!“ eben erst zehn Jahre später, nämlich nach meinem Erfolg mit „Garp“, übersetzt.

Sie müssen für „Laßt die Bären los!“ viel  österreichische und jugoslawische Geschichte studiert haben.

Mein Vater war Geschichtslehrer und so wusste ich von ihm, wie man sich Geschichte aneignet. Und ich wusste auch, dass die interessantesten Aspekte der Geschichte nicht die großen sind, sondern die eng umrissenen. Spannend ist sozusagen eine Art Tunnelblick auf die Geschichte. Man muss ganz tief in ein sehr begrenztes Feld gehen, um den Schlüssel für eine Zeit oder Epoche zu finden. Beispielsweise den Prozess studieren, in dessen Verlauf Mihailovic´ von einem Helden zu einem Schurken wurde und dann wieder zu einem Helden. Das ist ja noch immer nicht abgeschlossen im früheren Jugoslawien. Offensichtlich haben aber die Deutschen im Zweiten Weltkrieg mit ihrem Überfall auf Jugoslawien ahnungslos einen bereits bestehenden Krieg unterbrochen.

Weiters war für mich jene Zeit interessant, als Wien geteilt war. Einer meiner Lieblingsfilme als Jugendlicher war „Der dritte Mann“, mit den Szenen auf dem Schwarzmarkt und dem Leben im Untergrund. Das hat mich fasziniert.

Ich hatte jedenfalls schon mit dem Schreiben angefangen, als ich nach Wien gekommen bin, und der Lehrer, den ich hatte – auch ein Schriftsteller – riet mir, dass ich ins Ausland gehen solle. Denn all die Dinge, die einem in all den Jahren als normal vorkommen – so simple Sachen wie eine Milchflasche oder eine Zahnpastatube –, sieht man dann ganz anders. Wenn man ins Ausland geht, heißt das automatisch, dass einem die Augen geöffnet werden für  einfachste Dinge – wie etwa dass der Kaffee in einem anderen Häferl serviert wird. Völlig unbedeutende, alberne Sachen. Aber die Erfahrung, wenn man in einem fremden Land lebt, ist die, dass man dort zunächst jedes Detail bewusst wahrnimmt. Und das gehört ja zum Handwerkszeug eines Schriftstellers, etwas, das ich durch meine erste Reise erfahren habe.

Ich habe hier in Wien zum ersten Mal begriffen, dass ich mein Leben lang immer wieder aus meiner Heimat herauskommen muss. Ich würde immer reisen müssen. Eine Zeit lang ging ich mindestens zwei bis drei Mal im Jahr nach Europa. Ich lebe sehr gerne einen Teil des Jahres in Kanada, nicht nur weil es das Heimatland meiner Frau ist, sondern weil es immer wichtiger wird, sein eigenes Land von außen zu sehen. Wenn man immer nur als Inländer sein Land betrachtet, sieht man gar nichts. Ich behaupte: Wenn mehr Amerikaner ihr Land mit den Augen anderer sehen würden, könnte Bush niemals ihr Präsident sein.

Ich lernte in Wien viel über eine bestimmte Phase der österreichischen und jugoslawischen Geschichte. Das sieht man ja auch im Roman. Aber im Rückblick war die Zeit in Wien nicht deshalb so wichtig für mich, weil ich so viel über Wien erfahren habe, sondern weil es meine erste Erfahrung damit war, meine Heimat aus der Distanz zu sehen. Ich verbringe heute noch viel mehr Zeit mit meinen europäischen Verlegern als mit meinen Verlegern in New York. Dort ist das, offen gesagt, einfach eine Geschäftssache, es gibt da keine persönliche Beziehung. Ich mache in den USA auch viel weniger in den Medien als in Europa. Und ich habe auch mehr mit meinen kanadischen Verlegern als mit meinen amerikanischen zu tun. Und natürlich ist es auch viel interessanter für mich und meine Familie, nach Berlin, Hamburg oder Wien zu fahren als nach Kansas City.

Und nicht zuletzt lernte ich in Wien viel über Musik. Ich habe damals schon gerne Opern gehört – obwohl ich nie eine im Theater gesehen habe. Aber viele meiner Romane haben auch etwas Opernhaftes. Man könnte sagen, dass meine Geschichten viel mehr Gemeinsamkeiten mit Opern haben als mit Romanen anderer Autoren.

Auch meine ersten Erfahrungen im Drehbuchschreiben habe ich in Wien gemacht. Ich hatte keine Ahnung, wie man ein Drehbuch schreibt, als mich Direktor Irvin Kershner einlud, mit ihm das Drehbuch zu „Laßt die Bären los!“ zu schreiben. Ich hatte absolut keine Idee, wie man diesen Roman verfilmen könnte. Aber gefreut hat mich vor allem, dass ich dafür nach Wien geschickt wurde.

Sie waren ja im Schloss Eichbüchl untergebracht – einem für die österreichische Geschichte wichtigen Ort –, also gar nicht in Wien.

Ja, aber ich kam fast jeden Tag nach Wien und war viel im Theater. Aber auch das Schloss habe ich sehr geliebt. Da wohnte mein ehemaliger Professor, den ich von meiner Studienzeit her kannte.

„Laßt die Bären los!“ ist gekennzeichnet durch die für Sie sehr spezielle Mischung aus Komödie und Tragödie. Wir lernen da zwei junge Menschen kennen und lieben und dann stirbt einer ganz unvermutet. So etwas erwartet man nicht – es sei denn, man ist ein gelernter Irving-Leser.

Ja, das wurde sehr charakteristisch für mich. Die Figuren in meinen Romanen tun oft etwas, weil Menschen verloren gehen. Hannes Graff hat nicht einmal die Hälfte von Siggis Vorstellungsvermögen und er hat auch nicht annähernd so viel historischen Hintergrund. Graff ist ein Gefolgsmann. Es war meine erste Erfahrung als Autor mit dem Thema Verlust eines geliebten Menschen. Ich habe das später noch ausführlicher dargestellt.

In der Figur von Graff spiegelt sich aber auch so etwas wie die naive erste Annäherung eines Amerikaners an die europäische Kultur wider. Da sind auch meine Erfahrungen als Amerikaner in Wien drinnen. Ich stieß hier in Wien auf eine Kultur, die bis zum Römischen Reich zu-rückreicht, während unsere eigene ja gerade einmal ein paar hundert Jahre ausmacht. Dabei kam ich ja vom einzigen Teil Amerikas, wo es wirklich so etwas wie eine Historie gibt. Wir waren ja zumindest eine englische Kolonie. Dabei stellt sich Neuengland höchst unterschiedlich zum Rest von Amerika dar. Es war etwa definitiv keine gute Wahl, John Kerry gegen Bush ins Rennen zu schicken. Weil Kerry den ältesten, am besten gebildeten und geschichtsbewusstesten Teil der USA repräsentiert. Die meisten Amerikaner fühlen sich da nicht angesprochen.

Komödie und Tragödie waren in meinem Denken immer beisammen. Das hängt auch mit meinen Leseerfahrungen als Heranwachsender zusammen. Meine erste Liebe als Leser war Charles Dickens. Dickens ist auch in einer Minute tragisch und in der nächsten voll Komik. Und in meiner Zeit in Wien habe ich die „Blechtrommel“ von Günter Grass gelesen. Keine Frage, dass Grass auf mein erstes Buch Einfluss hatte. Und auch bei Grass gibt es diese Kombination von Tragödie und Komödie – da stirbt auch jemand von einer Minute auf die andere. Grass ist eben auch sehr „dickenshaft“. Auch in dem Punkt, dass er eine soziale Intention hat. Grass ist ein Moralist – genauso wie ich. 

Wie entwickeln Sie Ihre manchmal ja sehr ungewöhnlichen Ideen?

Was ich brauche, ist Folgendes: Ich muss jene Obsessionen meiner Charaktere kennen, die sie nicht kontrollieren können. Denn es muss etwas geben, das sie außerhalb der Norm agieren lässt, sie sogar zu Helden machen kann. Wenn ich eine Romanfigur gefunden habe, die von etwas besessen ist, weiß ich, dass ich damit arbeiten kann.

Nach meiner Erfahrung haben Sie in Wien besonders viele weibliche Fans. Überrascht Sie das?

Das ist sicher richtig, aber keine österreichische Besonderheit. Ich denke, dass einfach viel mehr Frauen Romane lesen als Männer. Wenn Männer überhaupt lesen, lesen sie eher Sachbücher. Das ist in den USA so wie auch überall sonst. Jedes Mal wenn ich in ein Flugzeug steige, sehe ich, dass wenn Männer überhaupt Romane lesen dann jene von John Grisham oder Tom Clancy. Aber meistens lesen Rechtsanwälte Bücher über Gesetze usw. Wenn mich jemand anspricht – im Flugzeug oder wie gestern beim Weihnachtseinkauf –, dann ist das in neun von zehn Fällen eine Frau. Oder – was auch vorkommt – ein Mann erzählt mir, dass ich der Lieblingsschriftsteller seiner Frau, seiner Tochter oder seiner Mutter bin.

Lesen Sie selbst aktuelle amerikanische Literatur?

Ich war ein sehr eifriger Leser als Kind und Heranwachsender. Jetzt lese ich nur dann viel, wenn ich gerade zwischen zwei meiner Romane bin. Wenn ich also gerade einen neuen Roman abgeschlossen habe und mir nur Notizen für den nächsten mache. Da schreibe ich dann zwei Stunden am Tag anstatt zehn. In dieser Phase kann ich dann auch viel lesen. Im Prozess des Schreibens arbeite ich sehr lange Zeit jeden Tag am neuen Roman und lese gar nichts. So gibt es eben nur alle drei, vier, fünf Jahre diese Periode – die ungefähr ein halbes bis ein ganzes Jahr dauert –, in der ich lesen kann. Leider habe ich aber auch mit dem Drehbuchschreiben begonnen, sodass meine Schreib-pausen immer kürzer werden. So bin ich nicht mehr der eifrige Leser, der ich einmal war. Aber es gibt natürlich Autoren, die ich lese und schätze. Nicht allzu viele amerikanische – Hemingway verabscheue ich geradezu und ich war auch nie an Faulkner oder Fitzgerald interessiert wie viele meiner intellektuellen Freunde. Am bedeutendsten sind für mich, wie gesagt, Dickens und auch Thomas Hardy.

Von den lebenden Autoren schätze ich Günter Grass, Gabriel García Márquez und Salman Rushdie. Und kanadische Autoren finde ich besonders interessant. Ich habe mehr Freude an kanadischer Literatur, weil Toronto die Stadt ist, in der ich einen Teil des Jahres lebe. Dann habe ich natürlich auch Freunde, deren Bücher ich immer lese, wie den bereits erwähnten Salman Rushdie oder Julian Barnes, mit dem ich eng befreundet bin. Ebenso verbunden bin ich mit Michael Ondaatje und Peggy Atwood. Seit dem Tod von Robertson Davies schlage ich jetzt immer Alice Munro vor, wenn mich das Nobelpreiskomitee fragt. Bei Davies bin ich ja nicht erfolgreich gewesen. Ich hoffe, dass Alice den Preis bekommt, bevor sie stirbt.

Für Freizeitbeschäftigungen haben Sie demnach – außer fürs Ringen – nicht mehr viel Zeit.

Ringen mache ich seit meiner Verletzung nicht mehr – das habe ich meiner Frau versprochen. Zumal die Verletzung einen Finger betroffen hat, mit dem ich schreibe. Das konnte ich dann sechs Monate lang nicht. Aber ein bisschen Boxen und Kickboxen mache ich wieder. Und ich bin jeden Tag im Fitnessraum. Daneben laufe ich, fahre ich Rad, aber auch Ski und spiele ich Tennis.

(Das Interview führte Helmut Schneider – Alice Munro hat 2013 dann tatsächlich den Nobelpreis für Literatur bekommen.)


Buchtipp – Wolfgang Hermann, Insel im Sommer

Wiedererwachen in der Provence


Helmut Schneiders Buchtipp: Wolfgang Hermanns Erzählung „Inseln im Sommer“.


Ein Mann leidet, denn sein minderjähriger Sohn war einfach so im Bett gestorben. „Die Angst überfiel mich wie ein Raubtier…“ – der Erzähler, ein Mitarbeiter an einer Universität in Wien, stürzt in eine schwere, langanhaltende Depression. Er reist nach Paris, wo er vor Jahren schon gelebt hatte. Aber die Stadt ist ihm zu laut, will zu viel von ihm und er kann nichts zurückgeben. Erst in der Provence, wo er ein befreundetes Paar besucht, findet er langsam wieder zu sich. Zumal er die Österreicherin Klara und ihre Tochter Maria kennenlernt und mit ihnen ein paar wundervolle Tage am Strand und am See verbringt. Klara ist Künstlerin – sie macht Skulpturen, die Töne erzeugen, wenn der Wind durch sie durchströmt – und sie hat ebenfalls eine unerfreuliche Geschichte mit ihrem Ex-Mann – ausgerechnet ein ehemaliger Mönch aus einem Zen-Kloster –, der sie stalkte, zu verarbeiten.

Hermann braucht nur knapp 70 Seiten, um eine Geschichte zu erzählen, die voller Emotionen ist. Wir leiden mit dem Vater, freuen uns, wenn er wieder ein Zipfelchen von Glück zu fassen bekommt und nehmen das ungewisse Ende doch als eine Verheißung besserer Tage.

Wolfgang Hermann wuchs in Dornbirn in Vorarlberg auf und studierte ab 1981 Philosophie und Germanistik an der Universität Wien. 1986 promovierte er mit einer Arbeit über Friedrich Hölderlin zum Doktor der Philosophie. Anschließend war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Wien. Seit 1987 ist er freier Schriftsteller. Er hat schon ein beachtliches Werk geschaffen – mit zahlreichen Romanen, Theaterstücken und Libretti. Zu einiger Bekanntheit gelangte er durch seinen Roman „Herr Faustini verreist“, dem noch einige Faustini-Romane folgten. „Inseln im Sommer“ ist ein empfehlenswertes Leseabenteuer.


Wolfgang Hermann, Inseln im Sommer – Erzählung
Czernin Verlag
ISBN: 978-3-7076-0754-3
74 Seiten
€ 17,-

Textauszug – Meinhard Rauchensteiner

Gegenverkehr


Meinhard Rauchensteiner hat Miniaturen geschrieben, die – so André Heller im Vorwort – „sprachlich präzise und lesenswert“ sind. Lesen Sie hier eine Kostprobe.
Foto: Ingo Pertramer


Soziales Gefälle

Wien hat zwei Seiten, welche eine abschätzig Transdanubien genannt wird, wohingegen die andere nicht Cisdanubien heißt, wie es sich eigentlich gehörte, sondern, zumal den dort Anrainenden, schlicht Wien.

Es soll solche »Wiener« geben, die noch nie einen Fuß auf das andere, das nördliche Ufer der Donau gesetzt haben. Demensprechend besuchen sie das Krapfenwaldlbad, eingefügt zwischen die Döblinger Villen und herausgeputzten Buschenschanken, die auch Tafelspitz auf der Speisekarte führen, und nicht das Gänsehäufel, das sie bestenfalls vom Hörensagen kennen und wo die Lángos ungestört den Charme und das beständige Öl der 1970er-Jahre versprühen.

Selbst in der Geologie schlägt sich diese tiefe Kluft nieder, nämlich zwischen dem steil aufragenden Leopoldsberg und dem sanft ansteigenden Bisamberg, die gemeinsam die »Wiener Pforte« bilden. Da hilft es wenig, dass der Bisamberg für sich in Anspruch nehmen kann, das östliche Ende der Alpen zu bilden; solche Feinheiten werden durch den Hinweis, dass anno 1683 das christliche Abendland von Kahlen- und Leopoldsberg errettet wurde, mit einer wegwerfenden Bewegung zunichtegemacht, und souverän besiegt das Historische die Natur.

Da hilft es auch wenig, dass der Bisamberg noch ins Treffen führen könnte, dass sich an seinem Fuße das »Erholungsgebiet Seeschlacht« findet, denn auch dies ist bei näherem Hinsehen ein Schotterteich umringt von Fertigteilhäusern für Abteilungsleiter in der IT-Branche.

Die Kluft der Wiener Pforte, durch deren Mitte immerhin die Donau fließt, geht so tief, dass selbst unter den beiderseitig beheimateten Winzern kaum Verbindungen existieren. Findet doch einmal eine Hochzeit zwischen einer Stammersdorferin und einem Nussdorfer statt, so bedeutet dies sozialen Auf-, für den Nussdorfer sozialen Abstieg. Folglich müssen Mannsbilder, die sich – Gott sei’s geklagt – doch hin und wieder in eine Drübige verschauten, danach trachten, sie herüberzuziehen, gleichsam aus dem Schlamm in die zwischen den Villen angesiedelten Winzerhöfe Cisdanubiens, pardon: nach Wien.

Es ist ein weiterer bitterer Triumph der Geschichte, dass noch anderthalb Jahrtausende nach seinem Verschwinden der römische Limes die Zivilisation von der Barbarei trennt.

Meinhard Rauchensteiner, geboren 1970 in Wien, studierte Philosophie, Geschichte, Theologie und Sprachwissenschaften und ist Abteilungsleiters für Wissenschaft, Kunst und Kultur im Stab von Bundespräsident Alexander van der Bellen. Er ist aber auch ein fleißiger Buchautor und Philosoph sowie ein profunder Joyce-Kenner sowie Lehrender an der Universität für angewandte Kunst in Wien. 


Meinhard Rauchensteiner: Gegenverkehr
Miniaturen, Czernin Verlag
ISBN: 978-3-7076-0740-6
132 Seiten
€ 15,–

Buchtipp – Wir sind das Licht, Gerda Blees

Verhungern in den Niederlanden


Gerda Blees‘ Roman über eine sektenähnliche Hausgemeinschaft „Wir sind das Licht“. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.


Eines Nachts ist Elisabeth zu schwach zum Aufstehen und stirbt auf der Luftmatratze, auf der sie seit Monaten im Haus ihrer Schwester schläft. Weder ihre Schwester Melodie noch die beiden Mitbewohner Muriel und Petrus rufen einen Notarzt. Denn die vier nehmen seit Monaten kaum noch Nahrung zu sich, weil sie davon überzeugt sind, dass Licht, Musik und Liebe ausreichen, um einen Körper ausreichend zu versorgen.

Die Niederländerin Gerda Blees erzählt in ihrem Debütroman „Wir sind das Licht“ von einer seltsamen Wohngemeinschaft rund um die dominante Musikerin und Gruppenleiterin Melodie. Eines Tages haben sich die vier – angeleitet von obskuren Kursen und Videos im Internet – darauf geeinigt, dass Nahrung ihre Körper nur vom Wesentlichen ablenkt und behindert. Ihre Gemeinschaft nennen sie „Klang und Liebe“, ihre Zeit verbringen sie mit singen und meditieren. Der Tod der schweigsamen Elisabeth ruft dann freilich die Behörden auf den Plan. Der zuständige Arzt hält ihren Tod für nicht natürlich, der Pathologe stellt eine krasse Unterernährung fest. Die Polizistin Lisa, die selbst Probleme mit ihrer magersüchtigen Tochter hat, untersucht den Fall aufgrund des Verdachts auf unterlassener Hilfeleistung und nimmt Melodie, Petrus und Muriel in Untersuchungshaft. Die Beweisführung ist allerdings schwierig, da alle davon überzeugt sind, das Beste für Elisabeth getan zu haben. Nur langsam kommen bei Muriel Zweifel. Ob sie nach der Freilassung die Gruppe verlässt bleibt aber ungewiss.

Blees‘ Erzählweise ist dabei höchst kreativ. Sie lässt in jedem Kapitel andere Menschen, aber auch Dinge und Gedanken zu Wort kommen. So berichten etwa der „Tatort“, „Klang und Liebe“, ein Kugelschreiber oder die Eltern von Elisabeth aus ihrer Sicht. Zutage kommen toxische Beziehungen innerhalb der Gruppe – Muriel und Petrus sind in ihrer Psyche gefangen und können sich der manipulativen Kraft Melodies nicht entziehen. Petrus leidet an Wutanfällen, Muriel ist hochgradig entscheidungsschwach. Als Anregung diente der Autorin ein Zeitungsbericht über einen ähnlichen Fall. Allerdings hat Blees die Figuren neu erfunden. Sie schafft es aber, dass wir die Geschichte als erschreckend real und durchaus plausibel empfinden. Eine interessante, aber nicht leicht verkraftbare Lektüre.


Wir sind das Licht von Gerda Blees
Aus dem Niederländischen von Lisa Mensing
Erschienen im Zsolnay Verlag
ISBN: 978-3-552-07274-9
240 Seiten
€ 23,70

Nachruf: Gerhard Roth

Nachruf: Gerhard Roth (1942 – 2022)


Text: Helmut Schneider / Foto: Christian Jobst


Der gebürtige Grazer Gerhard Roth wohnte lange Zeit auch in Wien, in der Nähe von Ingeborg Bachmanns Wohnung in Erdberg. Und Roth war nicht nur gefeierter Romancier, der ein wahrlich riesiges literarisches Werk hinterließ, er war auch ein begnadeter Essayist und Fotograf. Als solcher hat er viel zur Erforschung der Wiener Schattenseiten beigetragen. 1991 erschien seine Essaysammlung „Eine Reise in das Innere von Wien“, die ihn etwa ins ehemalige Judenviertel in der Leopoldstadt, nach Gugging, in die Katakomben oder ins verschlafene Heeresgeschichtliche Museum brachte. Aber auch ins Blindeninstitut beim Prater, wo ich ihn einmal interviewen durfte. Ich kann mich noch gut erinnern mit ihm über die richtige Auswahl von Notizbüchern gesprochen zu haben, denn er ging zeitlebens niemals ohne die Möglichkeit, seine Gedanken zu notieren, außer Haus. Gerhard Roth war ebenso dabei als wir eine Ausgabe von Wienlive den Gugginger Künstlern widmeten, denn er kannte sie alle bereits seit Jahren. Fürs Heft erlaubte er den Abdruck eines Essays über seinen ersten Besuch in Gugging.

Mit Gerhard Roth verlieren wir einen ungeheuer neugierigen und bis ins Alter agilen Künstler und Alltagsethnografen. In der Literatur bleibt eine Lücke, die wohl nie mehr gefüllt werden kann.


Buchtipp: Uns zusammen halten, Mirthe van Doornik

Aufwachsen in prekärer Lage


„Uns zusammen halten“ von Mirthe van Doornik – oder vom Aufwachsen in prekärer Lage & zwei Schwestern in den Niederlanden. Ein Buchtipp von Helmut Schneider.


Am Beginn des Romans ist Kine 11 und Nico 15 und die kleine Schwester bewundert die größere, die cooler ist und Menschen mit Blicken töten kann. Am Ende taumelt Nico nach den Anschlägen von Nine Eleven aus purer Angst vor Gefahren und Unglücksfällen durch ihr Leben, während Kine zu studieren beginnt und im Job erfolgreich ist. Dazwischen das Drama eines Aufwachsens in höchst schwierigen Verhältnissen in einem Sozialghetto mit einer alkoholkranken Mutter, die bis zuletzt das Bild einer intakten Familie aufrecht erhalten will. Tageweise gibt es nur Nudeln mit Ketchup, manchmal ist gar nichts Essbares da, wenn das Geld nur noch für die Weinflaschen reicht, die die Mutter bis zum Abend braucht. Der Vater lebt längst woanders und kann nur sporadisch aushelfen.

Mirthe van Doornik arbeitet als Dokumentarfilmerin, der Roman „uns zusammenhalten“ ist ihr autobiografisch gefärbtes Debüt und ein Buch, das von Beginn an berührt. Doornik erzählt die Geschichte abwechselnd aus der Perspektive von Kine und Nico und trotz der vielen sozialen Katastrophen mit einem lakonischen Humor. Es wird klar was es heißt, nicht am allgegenwärtigen Wohlstand in einem der reichsten Ländern Europas teilhaben zu können – etwa mit aus den Sammelstellen für die Dritte Welt aufgeklaubten Kleidern in die Schule zu gehen oder im Supermarkt klauen zu müssen. Mutter Nina versucht immer wieder ihren Kindern auch etwas zu bieten. Sie gewinnen bei einem Bastel-Wettbewerb den Besuch im Disneyland oder machen einen Ausflug zu einer Hippiekolonie in Amsterdam. Zeitweise lebt ein Indianerfan in einem Tipi im Wohnzimmer bei ihnen. Aber die Tücken des Alltags holen sie immer wieder ein – Armut ist eine große Herausforderung und purer Stress.

Nach der emotionalen Stärke der Geschichte und der gelungenen erzählerischen Umsetzung müsste „uns zusammenhalten“ ein Bestseller werden.


„Uns zusammen halten“ von Mirthe van Doornik – oder vom Aufwachsen in prekärer Lage & zwei Schwestern in den Niederlanden.

Mirthe van Doornik: Uns zusammenhalten
Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann
Haymon Verlag
ISBN: 978-3-7099-8126-9
312 Seiten
€ 22,95