Deutschland und Russland vereinen – Ein historischer Roman über eine außergewöhnliche Bolschewikin

Im Schachspiel gibt es den raffinierten Spielzug des Damenopfers, bei dem die wertvollste Figur dem Gegner zum Fraß vorgeworfen wird und – so dieser anbeißt – in wenigen Zügen mattgesetzt werden kann. Steffen Kopetzky lässt in seinem neuen Roman seine Protagonistin Larissa Reissner eben jenen Schachzug machen, um einem Großmaul ebendieses zu stopfen. Die ruhmreiche Kämpferin der Roten Armee und Journalistin Larissa Michailowna Reissner ist freilich eine historische Figur. Obwohl sie bereits mit 30 Jahren an Typhus starb, wurde sie wegen ihrer Schönheit und ihres furchtlosen Einsatzes gegen die monarchistische Weiße Armee zur Legende – zumal sie auch als Spionin agierte.

Kopetzky, 1971 in Oberbayern geboren, ist ein gewiefter Erzähler. In seinem Bestseller „Monschau“ verarbeitete er etwa einen realen Pockenausbruch in den 60er-Jahren zu einem packenden deutschen Wirtschaftskrimi. Im neuen Roman faszinierte ihn ganz offensichtlich eine mögliche Annäherung des wirtschaftlich am Boden liegenden Deutschland nach dem 1. Weltkrieg und der sich mit vielen Schwierigkeit sich entwickelnden Sowjetunion noch unter Lenin. Larissa verbringt die Jahre nach dem Bürgerkrieg mit ihrem Mann, einen verdienten General der Roten Armee, in Afghanistan und findet dort den versteckten Plan eines deutschen Offiziers zum Angriff auf die britische Kolonie Indien von Kabul aus.

Larissa gelingt es – sie ist ja deutscher Herkunft, Deutsch ist ihre zweite Muttersprache – den deutschen Offizier ausfindig zu machen. Gleichzeitig versucht sie als inoffizielle Vertreterin des Politbüros und vor allem Trotzkis die Revolution in Deutschland zu befördern. Gelingt das – so ist nicht nur sie überzeugt – würde das einen Flächenbrand in Europa und sogar in den USA auslösen. Als Geliebte einiger wichtiger Männer bewegt sie sich sowohl in Moskau als auch Berlin zunächst recht frei. Doch Lenin hat seine Nachfolge nicht geregelt, er macht nichts, um Stalin zu verhindern, den er für einen skrupellosen Hitzkopf hält. Und der wesentlich intelligentere Trotzki steht sich bekanntlich selbst im Wege.

In „Damenopfer“ erfahren wir viel über die Stimmung in Deutschland und Russland nach dem Krieg. Zwar überfordert Kopetzky manchmal durch allzu viele Figuren seine Leser, doch in Summe ist dieser Roman ein intellektueller Genuss.


Deutschland und Russland vereinen – Ein historischer Roman über eine außergewöhnliche Bolschewikin.

Steffen Kopetzky: Damenopfer
Hanser
444 Seiten
€ 26,80

Inszenieren gegen den Autor – Frank Wedekinds „Lulu“ in den Kammerspielen

Bild: ©Christian Wind

Nicht zuletzt auch wegen der gelungenen Vertonung durch Alban Berg ist Frank Wedekinds Drama um eine kindliche Femme Fatale, die schließlich selbst zum Opfer ausgerechnet eines Lustmörders wird, noch immer viel auf den Bühnen zu sehen. Man mag die Darstellung der ebenso verhängnisvollen wie naiven Kindsfrau zurecht unzeitgemäß finden. Aber vieles in der Literatur ist eben nur interessant, weil wir es nicht bis ins Letzte verstehen. Und klarerweise muss keine Bühne dieses nicht einfache Stück heute spielen. Aber wenn es gespielt wird, wünscht man sich eine ernsthafte Auseinandersetzung und keine dem Zeitgeist folgende Belehrung durch einen Regisseur.

In den Kammerspielen macht Elmar Goerden aber genau letzteres. Er beginnt schon damit, dass seine Lulu nicht als Lustobjekt vor dem Maler Eduard, ihrem späteren ersten Ehemann, sitzen will und kurz verschwindet, ehe sie sich trotzig doch wieder hinsetzt. Bei jeder Gelegenheit wird über den Text gelästert und am Schluss kommen endlich alle darauf, dass sie das gar nicht hätten spielen sollen. Johanna Mahaffy als Lulu kann da nur verlieren. Sie muss verführerisch, kaltblütig, naiv und gleichzeitig emanzipiert sein – das ist unmöglich zu schaffen. Das Stück funktioniert aber nur dann, wenn man über sie rätseln kann und nicht wenn man erklärt bekommt, was alles daran falsch ist. Rechts auf der mit einem abstrakten Muster überzogenen Bühne ist in einem beleuchteten Schrein sogar der Theatertext präsent. Als Dr. Schön legt sich Joseph Lorenz mächtig ins Zeug, er gibt den abgebrühten Schauspieler, der spielt, was man von ihm verlangt. Als Lulu verfallene lesbische Gräfin wird Susa Meyer ausgenützt und gedemütigt – was natürlich auch nicht ohne Kommentar passieren darf.

Nun soll Goerden der Josefstadt-Direktion selbst Wedekinds „Lulu“ vorgeschlagen haben, man versteht leider wirklich nicht, was er damit bezwecken wollte. Will jemand klüger sein als die Urheber klassischer Stücke, geht das doch fast immer schief. Und wenn es schon – was längst aus der Mode gekommen ist – dekonstruiert werden muss, dann bitte bis zur letzten Konsequenz und nicht so halbherzig wie in den Kammerspielen.

Infos & Karten: josefstadt.org

Ingeborg – im Gewitter der welkenden Rosen

Bild: ©Polyfilm

Otto Brusatti zum Film „Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste“.

In letzter Zeit sind wieder einmal die – vielleicht – spannenden Frauen im Kino dran. Leider etwas simpel und schlimmer. Eine lesbische Super-Dirigentin namens Tár, die nicht dirigieren kann (und schon gar nicht Gustav Mahler). Dessen leicht betrügerische Frau, Alma, von der wundersamen Emily Cox gegeben und mit der Mahler-Frau wenig bis nichts zu tun habend. Von diversen Sisi/Sissi-Behübschungen reden wir lieber nicht. Apropos – eine davon ist ja die ebenfalls intensive Vicky Krips, welche aktuell in einem Frau-Trotta-Film, wie es genannt wird, „Ingeborg Bachmann – [auf der] Reise in die Wüste“ verkörpert. Man vermittelt dort die vier Jahre dauernde Beziehung der Poetin zu Max Frisch und dann – in einigen zwischengeschnittenen Film-Fetzen – Bachmanns Reisefluchtversuch vor allem nach Ägypten, gemeinsam mit ihrem Liebhaber Adolf Opel, lustig und erotisch auf der Suche nach Erholung aus der Trennungspsychose von Frisch. Und apropos Frisch – da agiert auf der Leinwand ein umgänglicher, dicklicher, oft gemütlicher, grinsender Mann, der wenig mit dem wiewohl brutalen wie ihr manchmal hündisch nachlaufenden wie sie betrügenden Schweizer Dichter zu tun hat.

Gleichviel. Sozusagen Pilcher für Maturanten. Beziehungsgewitter, nicht solitär.

Das Pech für die Regisseurin und Gestalterin ist, dass in den letzten Monaten sowohl Bachmanns Traumdarstellungen zur Eigentherapie als auch der ziemlich umfangreiche Briefwechsel zwischen den beiden herausgekommen ist. Und dort steht ganz was anderes, auch wüstes, auch peinigendes. Die Veröffentlichungen handeln von außergewöhnlichen, sich peinigenden Menschen. Sie zeigen Ingeborg Bachmann bereits am Weg in den selbst herbeigeführten Untergang, zeigen – wie viele Bilder es vermitteln – eine eitle, nur um sich kreisende, durchaus faszinierende Frau, die bereits mit 25 Jahren begann auszusehen, wie von einem heftigen Holzschnitzer gefertigt. Frisch hingegen, der von Bachmann wohl tausend Mal in ihrem Schreiben als ihr Mörder apostrophiert wird und der – zugegeben – seine heftigsten Affären in wunderbare Romane gezwängt hat, der noch diesbezüglich bis vor kurzem von der Frauenforschung gehasst worden ist, kommt vor allem als fader Kumpel rüber.

Dennoch, ein hübscher Streifen. Man hat aber von dem wohl nichts, wenn man über dessen literarhistorische Voraussetzungen nichts weiß.

Und nun doch noch was – was Böses vielleicht und mehr. Ingeborg Bachmann ist, ob mancher ihrer vor allem Gedichte und den Roman „Malina“ als besondere Poetin zurecht geschätzt. Allein, und nun kommt das Böse: Wird einmal es auch zu einer Bachmann-Neubewertung, -deutung, -abfuhr gar kommen, wenn, getragen vielleicht zunächst durchaus von wissenschaftlich-analytischer Seite dokumentiert ist, wie viel (um nicht zu sagen: wie beinahe alles) sie aus den Bildern in der Lyrik des Frisch-Vorgängers Paul Celan gezogen hat. Abgesehen davon, dass ihr fertiggestelltes Oeuvre, so sehr man es auch bereits bis hin zur letzten Skizze auseinandergenommen hat, schmäler ist als bei fast allen tatsächlich Großen der Literatur des 20. Jahrhunderts.

Aber – Frau Krips (die im Film maximal für 5 Sekunden auch als schreibende I.B. agieren darf) ist lieb und hübsch und hat eine Ausstrahlung. Immerhin doch.

In den Wiener Kinos wie z.B. Admiral, Filmcasino, Votiv, De France und mehr.

Das Grauen im Beziehungsalltag – Barbi Marković und ihr „Minihorror“

Mini und Miki sind ein Paar und leben in Wien. Sie ist Schriftstellerin und kommt aus Serbien, er arbeitet im Büro und stammt aus der Steiermark. Sie wollen „nett sein, aber nichts ist einfach“, heißt es gleich zu Beginn, denn überall außerhalb ihrer Beziehung lauert sowieso der Horror. Schon in der ersten der Geschichten über die beiden schleicht sich eine Cousine von Mini ein, die ganz harmlos tut, aber laut Mini ein „fleischfressendes Monster“ ist. Muss man schnell loswerden.

Schaurig auch die Story, in der Mini plötzlich in den sozialen Netzwerken die Befugnis erhält, fremde Beiträge zu löschen und sich gar nicht mehr von ihrem Smartphone trennen lässt oder wie Miki auf einen Arzt trifft, der ihn nicht zu Wort kommen lässt weil er ihm ununterbrochen von seinen eigenen Leiden und Symptomen erzählt. Zwischendurch trennt sich Mini von Miki, weil der zum Guru wird und erst kein Fleisch und dann nur noch Obst isst. Entlarvend komisch auch das Interview Minis mit einer Fernsehredakteurin.

Am Ende gibt es – bei den „105 weitere mögliche Horrors mit Mini und Miki“ als Draufgabe Zeichnungen der Autorin.

Barbi Marković, in Belgrad geboren und seit 2006 in Wien ansässig, schreibt in kurzen, einfachen Sätzen, die einen aber manchmal wie Axthiebe treffen. Sprachliche Verschleierungen sind ihre Sache nicht. Und deshalb wirkt ihr Alltagshorror auch so stark und unmittelbar. Ein ungemein gelungenes Buch, das man ungern aus der Hand legt, weil man immer noch mehr Geschichten von Mini und Mike lesen möchte.


Barbi Marković: Minihorror
Residenz Verlag
192 Seiten
€ 25,-

Wem nützt ein Krieg? – Shakespeares „Heinrich V.“ im TAG

Bild: ©Anna Stöcher

In England spielt man William Shakespeares Königsdrama „Heinrich V.“ öfters als seinen „Hamlet“, obwohl sich das Stück nur auf den ersten Blick für patriotischen Stolz eignet. Klar, hier vernichtet im sogenannten Hundertjährigen Krieg ein entkräftetes englisches Heer eine ausgeruhte französische Übermacht, doch schon wie es zum Krieg kommt, erinnert mehr an die Filmsatire „Wag the Dog“ als an Heldenepen. Die mächtigen Adeligen um den Erzbischof von Canterbury wollen eine drohende Reichensteuer abwenden und machen dem jungen König Heinrich Frankreich als lukrativere Beute schmackhaft. Mittels eines uralten obskuren Erbfolgegesetzes soll der französische König abgesetzt werden. Zudem werden an Engländern verübte Massaker von Franzosen fingiert.

Im Theater TAG in der Gumpendorfer Straße inszeniert Hausherr Gernot Plass sehr direkt und flott und sehr frei nach Shakespeare. Herausgekommen ist ein dramatischer Appell gegen den Krieg. Die meisten der 7 Darsteller und Darstellerinnen (Andreas Gaida, Markus Hamele, Michaela Kaspar, Raphael Nicolas, Lisa Schrammel, Georg Schubert) müssen in mehrere Rollen schlüpfen, nur Jens Claßen bleibt immer der junge König. Chargierend zwischen jugendlichem Ungestüm und der Weisheit eines Landeschefs macht er das sehr glaubhaft. In 100 Minuten sehen wir eine Parabel auf die Perfidie des Krieges, denn die Engländer können sich ihres Sieges nicht lange freuen. Der König erkrankt wenig später und stirbt, während sich in Frankreich eine Jungfrau anschickt, ihr Heimatland wieder von den Besatzern zu befreien.

Interessant ist, dass die Ansprache Heinrichs vor seinen zahlenmäßig eklatant unterlegenen Soldaten trotzdem zu einem Baustein des englischen Selbstbewusstseins wurde. „We few, we happy few, we band of brothers“ – die St.-Crispins-Tag-Rede – wird immer dann hervorgeholt, wenn England gerade wieder im Krieg ist und klingt gerade in unseren unruhigen Zeiten umso befremdlicher.

Infos & Karten: www.dastag.at

Lesen & Leben – Navid Kermanis „Das Alphabet bis S“

Navid Kermani ist ein deutscher Autor, dessen Eltern schon lange vor seiner Geburt aus dem Iran in die Bundesrepublik geflohen waren. Der studierte Orientalist arbeitete als Journalist u.a. beim SPIEGEL, für seinen Roman „Dein Name“ erhielt er den Kleist-Preis.

In seinem neuen Buch erzählt er von einer in Köln lebenden iranstämmigen erfolgreichen deutschen Schriftstellerin, deren Mutter gerade gestorben ist und deren betagter Vater die Realität nicht mehr wahrhaben will. Dazu erleidet ihr minderjähriger Sohn einen Herzinfarkt, was die namenlose Erzählerin natürlich ziemlich mitnimmt. Außerdem hat sie sich von ihrem Mann getrennt – es gäbe also viel zu reflektieren, zumal der Roman eigentlich ein Tagebuch ist. Doch viel mehr als alles Persönliche scheint sie ihre nach dem Alphabet geordnete Bibliothek zu beschäftigen, als sie beschließt, den bisher ungelesenen Autoren eine zweite Chance zu geben. Und so finden wir in dem fast 600 Seiten starken Buch viele Zitate und Meinungen zu so unterschiedlichen Autoren und Autorinnen wie Peter Altenberg, Emil Cioran, Emily Dickinson, Salvador Espriu, Fukazawa Shichiro oder Julien Green und Hermann Hesse. Sie kommt dabei – wie der Titel vermuten lässt – nur bis S.  

Das gibt Kermani Gelegenheit, über so ziemlich alles in der modernen Welt eine Meinung zu verbreiten – zumal aus weiblicher Sicht. Banales findet sich da neben allerlei Geistreichem. Schließlich ziehen sich die Themen Tod und Verlust durch den ganzen Text – die Autorin erlebt etwa eine Papst-Audienz, bei der sie das Oberhaupt der Katholiken bittet, um ihn zu beten. So nebenbei besucht sie mit ihrem Vater die Verwandten in Teheran oder fährt ans Meer. Sie scheint dabei ein wenig aus der Zeit gefallen, sucht etwa nach einem Labor, das noch analoge Fotos entwickelt und mokiert sich darüber, dass in Deutschland auch gute Freunde die Rechnung im Lokal teilen. Manchmal ist sie auch selbstkritisch: „Ärgere mich über die Nichte, weil sie keinen Bikini mehr trägt, seit sie fromm ist, keinen kurzen Rock, kein enges T-Shirt. Ich selbst trug noch nie dergleichen, jedoch aus anderen, den richtigen Gründen, versteht sich.“, notiert sie.

Der Umfang des Buches sollte nicht abschrecken – die einzelnen Notate lassen sich auch überspringen, wenn sie gerade nicht interessieren. Alles in allem ein bemerkenswerter Lesestoff.


Navid Kermani: Das Alphabet bis S
Hanser Verlag
592 Seiten
€ 33,95

In Antiochia steht ein Café Central – Händels Oratorium „Theodora“ im MuseumsQuartier

Bild: ©Monika und Karl Forster

Na so was: Intendant und Regisseur Stefan Herheim lässt Händels Oratorium „Theodora“, die Neuproduktion des Theater an der Wien im MQ, doch tatsächlich im Wiener Café Central – dem Lieblingscafé der Stadttouristen – spielen. Dabei ist die Handlung dieses Stücks so gar nicht kaffeehauslike, sondern ziemlich grausam, geht es darin doch um den Märtyrertod von Christen zur Zeit Kaiser Diokletians in Antiochia. Aber ja, das Kaffeehaus war früher schließlich der Laufsteg der Wiener Gesellschaft, wo vieles auch verhandelt wurde. Das passt vor allem vor der Pause, denn da wird einmal lange das römische Gesetz, wonach dem obersten Gott Jupiter geopfert werden muss, verhandelt. Wer sich dem widersetzt, droht der Tod. Im Mikrokosmos Kaffeehaus ist der Statthalter der Cafetier und seine Kellnerinen und sein Kellner die ersten Christen. Die Kaffeehausgäste sind das wankelmütige Volk, das sich leicht mit Kuchen aus der Vitrine bestechen lässt. Angeblich war „Theodora“ des Komponisten liebstes Stück, trotz des Misserfolgs bei der Uraufführung 1750 in London.

Bejun Mehta, der in Wien bestens bekannte und vielfach gefeierte Countertenor, debütiert im akustisch nicht optimalen MuseumsQuartier als Operndirigent. Am eindrucksvollsten gelingen die Chorpassagen, der Arnold Schönberg Chor leistet aber auch darstellerisch wirklich Großartiges. Sängerisch überzeugen das Publikum vor allem Mezzosopranistin Julie Boulianne als Theodoras Kollegin und Unterstützerin Irene und der Countertenor Christopher Lowrey als Theodoras Befreier Didymus, im Drama ein römischer Offizier und Kriegsheld, im Café aber natürlich ebenfalls ein Kellner. Er kann nicht sehen wie Theodora – Sopran Jaqueline Wagner – nicht nur eingesperrt, sondern sogar zur Prostitution gezwungen werden soll. David Portillo, wie auch alle anderen Sängerinnen und Sänger aus den USA, gibt als Statthalter den Bösewicht. 

Zauberhaft ist Händels Musik vor allem bei den Übergängen, aber nach der Pause können auch einige Arien das Herz rühren. Da wird das Kaffeehaus dann zum Kerker, was nicht mehr so gut passt – aber Umbauten sind im MQ wohl schwierig, zumal das Central wirklich detailgerecht nachgebaut wurde. Das Publikum schien mit der Aufführung musikalisch zufrieden, Herheims Inszenierung wurde weniger beklatscht. Sehenswert ist „Theodora“ aber allemal.

Termine noch am 21., 23., 25., 27. und 29. Oktober – www.theater-wien.at

Spiel mit realem Personal – Buchtipp von Helmut Schneider

Gleich nach der Wahl 2021 wird der über 2G nachdenkende Corona-Gesundheitsexperte Professor Bernburger als neuer Minister gehandelt, während sein Sohn ganz andere Theorien über den Lauf der Welt anhängt und ein paar Freunde in die schwerbewachte Wohnung des Vaters einlädt. Und die literarische Szene Berlins erwartet mit Spannung den Auftritt des französischen Starautors Bernard Entremont, der sich mit seinen Ausfällen gegenüber anderen – namentlich muslimischen – Kulturen einen Namen gemacht hat.

Christoph Peters, Autor bereits zahlreicher Romane und Erzählungen, setzt den zweiten Teil seines Deutschlandromanprojekts „Trilogie des Scheiterns“ in die heikle Nach-Corona- und Neue-Regierungs-Zeit in Berlin an. Sein Personal hat – wie unschwer zu erkennen ist – reale Vorbilder. Konkret den kettenrauchenden, trinkenden Michel Houellebecq und den pastoral gestimmten deutschen Gesundheitsminister Karl Lauterbach. Es macht natürlich Spaß, den französischen Skandalautor durch das Luxushotel wanken zu sehen oder wie der Gesundheitsminister in spe gegenüber Jugendlichen ausfällig wird. Doch Peters bringt auch noch andere, weniger lustige Figuren ein. Etwa einen Flüchtling, der gelinkt und in Selbstverteidigung zum Mörder wird, eine Mutter, die ihre Tochter nur als Belastung empfindet – zumal diese gerade einen Türken heiraten will. Vorurteile feiern fröhliche Urstände. Der Imam wartet schon auf das heiratswillige Paar. Und selbstverständlich darf auch ein Schriftsteller mit Schreibhemmung nicht fehlen, ebenso wie Gesellschaftsdamen, Escort-Girls und Halbstarke. Peters hat durchaus den Ehrgeiz, ein Panoptikum der heutigen Berliner Szene zu schaffen. Dass sich der Roman so gut liest, liegt an der Kunst des Autors mit wenigen Sätzen Stimmungen zu erzeugen und Personen zu charakterisieren.

Christoph Peters: Krähen im Park
Luchterhand
320 Seiten
€ 25,50

Roman über die sterbende Provinz – Gabriele Kögls „Brief vom Vater“

Meist sind Menschen erstaunt, wenn sie erfahren, dass die Suizidrate am Land viel höher ist als in Wien. Die geborene Steirerin Gabriele Kögl hat einen Roman geschrieben, in dem eine einfache Frau, die als Friseurin in einer Kleinstadt lebt, gleich zwei Selbstmorde zu verkraften hat, wie schon auf den ersten Seiten klar wird. Rosa hat keine großen Ansprüche, aber ein bisschen Luft und Freiraum für sich – etwa mit Freundinnen einen Kaffee zu trinken – braucht sie schon. Und so wird ihr die früh eingegangene Ehe mit dem Tischler Sigi bald unendlich langweilig. Sigi hat sie als Schützenkönig auf allen Volksfesten zuerst begeistert, doch bald muss sie erfahren, dass er sonst nichts im Leben anstrebt, als rauchend vor dem Fernseher zu sitzen. Als sich der Drogeriebetreiber Klaus für die hübsche Rosa interessiert, lässt sie Sigi zurück im schlecht isolierten Haus, das sie von ihrer Mutter geerbt hat. Und den inzwischen geborenen Sohn Severin kann sie mitnehmen in die neue Ehe. Damit steigt sie in die bessere Klasse auf – Klaus verkehrt mit dem Juristen und den Ärzten des Städtchens. Aber natürlich gibt es auch Schattenseiten. Auch Klaus hat Besitzansprüche, die größer sind als seine prachtvolle Wohnung. Und bald zieht die neue Zeit in das Städtchen und schafft Probleme für die Geschäfte im Ort. Ein Einkaufszentrum zieht die Bewohner magisch an – mehr Auswahl, billigere Preise. Und so ist Klaus bald pleite. Schlimmer noch – er wird krank und stirbt.

Doch auch Sigi hat in der neuen Ehe in Tirol nicht das große Glück gefunden. Als seine zweite Frau ihren Liebhaber nicht aufgeben will, bringt er sich in seinem neuen Mercedes um – Autos waren für ihn immer wichtig gewesen. Der Sohn Severin hatte immer zu seinem Vater gehalten, zumal er von den Kindern von Klaus immer nur drangsaliert wurde. Er findet keinen Platz im Leben und bringt sich ebenfalls um – Rosa bleibt allein zurück.

Gabriele Kögl ist ein ebenso stiller wie brisanter Roman über die sterbende Provinz gelungen – die Beweggründe ihrer Figuren sind nachvollziehbar. Natürlich ist das auf den ersten Blick düster, aber mit Rosa schildert sie eine Frau mit erstaunlicher Resilienz. Die Frauen im Buch scheinen mit den neuen Gegebenheiten, die sich nicht so leicht ändern lassen, besser zurechtzukommen.

Gabriele Kögl: Brief vom Vater
Elster & Salis
208 Seiten
€ 25,50

Das zweite Leben des Erik Montelius – Daniel Wissers Schelmenroman „012“

Wenn jemand 30 Jahre nach seinem frühen Tod wiederkommt, um sein früheres Leben wieder aufzunehmen, ergibt das natürlich Komplikationen. Welche, das hat der in Wien lebende Autor Daniel Wisser in seinem neuen Roman erforscht. Sein Protagonist und Erzähler Erik Montelius lässt sich – weil sein Krebs nicht heilbar ist – nach durchaus erfolgreicher Karriere als Computerpionier einfrieren. In der Gegenwart wird er operiert und wacht auf – als erster Mensch, der die kryotechnische Konservierung sozusagen überlebt. Im ersten Teil denkt er, im Krankenhaus liegend, viel über sein voriges Leben nach. Trost und Rat holt er sich von Beatles-Songs, denn „Abbey Road“ war im ersten Leben quasi seine Bibel. Turbulent wird es erst, als er zu seiner früheren Frau Kris heimkehrt, denn diese hat inzwischen seinen Kompagnon und Freund geheiratet. Sein Sohn ist natürlich längst erwachsen. Montelius erlebt die Seltsamkeiten unserer Zeit mit der Brille der 90er-Jahre: Autos sind groß wie Panzer und fahren noch immer mit Benzin, Plastik ist sowieso überall und unvermeidlich. Erst zögerlich bedient er sich Neuerungen wie Smartphones. Nicht ganz unbegründet nimmt er an, dass sein ehemaliger Partner ihn beim Verkauf ihrer Firma betrogen hat. Als er einer Journalistin vom Lokalfernsehen ein Interview gibt, läuft die internationale Medienmaschinerie an – sogar CNN fragt an. Auch ein Verlag hat Interesse an seiner Biografie – was wir lesen ist sozusagen das launige Manuskript, das Montelius abgeben will.

Zum eigentlichen Problem wird allerdings, dass er offiziell gar nicht existiert, denn er hat ja nur seinen Totenschein. Und ausgerechnet mit der eigenwilligen Tochter seines Kompagnons beginnt er eine neue Beziehung – wissend, dass er mutmaßlich wegen seiner wiederkehrenden Krebserkrankung und dem schlechten Zustand seiner Organe nicht mehr lange leben wird. Montelius landet schließlich zuerst im Gefängnis und dann in einen Asylantenheim – als Existenz, die es gar nicht geben kann. Dazwischen brennen SUVs und Menschen sterben unter ungeklärten Ursachen.

Daniel Wisser ist ein sehr flüssig zu lesender Roman über unsere Zeit gelungen. Mit scharfer Beobachtungsgabe zeigt er die Verwerfungen unseres Daseins auf. Der phantastische Plot ist nur die Folie, um Spießertum und Gedankenlosigkeit sichtbarer zu machen.


Daniel Wisser: 012
Luchterhand Verlag
450 Seiten
€ 26,50