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Ein indischer Thriller – Der Aufsteigerroman „Zeit der Schuld“ von Deepti Kapoor

Ajay ist ein Kind als plötzlich die Hausziege im Garten eines Nachbarn Gemüse frisst und der sich furchtbar rächt. Der Vater wird erschlagen, Ajay und seine Schwester getrennt gefangen und verkauft. In der Gegend um den Himalaya muss er bei einem Bauern arbeiten, man erzählt ihm, sein Lohn werde an seine Mutter geschickt. Eine Lüge, denn Ajay ist nur ein Leibeigener – und als sein Herr stirbt, hat er nicht einmal eine Bleibe. Im Café, in dem er arbeitet lernt er Sunny kennen, den Sohn eines Reichen und Mächtigen, der ihn schließlich zu seinem persönlichen Diener macht. Ajay gewinnt Ansehen, denn Sunny ist der einzige Sohn aus dem Wadia-Clans – sein Vater Bunty ist ebenso korrupt wie gefürchtet, er macht mit dem Ministerpräsidenten gemeinsame Sache. Doch dann gerät Sunny durch Drogen und Fehlplanungen auf die schiefe Bahn. Ajay muss ihn decken und geht sogar für ihn ins Gefängnis.

Die 1980 in Maradabad geborene Deepti Kapoor arbeitete zunächst als Journalistin ehe sie als Autorin bekannt wurde. „Zeit der Schuld“ ist das erste Buch von ihr, das auf Deutsch erscheint. Der Roman entwickelt von Beginn an einen ungeheuren Sog. Man ist fasziniert vom noch immer herrschenden Clan-System in Indien, wo sich niemand daran stößt, dass Korruption herrscht – das ist eben so und wer reich ist, wird geachtet. Kapoor erzählt geschickt und baut in ihren Roman gleich mehrere Höhepunkte ein. Eine Liebesgeschichte gibt es auch, denn Sunny verliebt sich ausgerechnet in eine junge Journalistin, die sogar von ihm schwanger wird und vom Patriachenvater nach London zum Studieren abgeschoben wird. Es ist wie eine spannungsgeladene Netflix-Serie mit vielen Höhepunkten, unerwarteten Wendungen und Stoff zum Grübeln – und „Zeit der Schuld“ soll auch bereits verfilmt werden. Ein trotz des Umfangs von fast 700 Seiten ein ungemein kurzweiliges Buck.


Deepti Kapoor: Zeit der Schuld
Aus dem Indischen von Astrid Finke
Blessing Verlag
688 Seiten
€ 29,50

19. Wiener Kriminacht mit vielen heimischen Stars

Am 10. Oktober wird schon die 19. Ausgabe des beliebten Krimi-Festivals gefeiert. Mit vielen heimischen Stars.

Alle Autorinnen und Autoren, die einmal bei der Kriminacht in den Wiener Kaffeehäusern waren, schwärmen von der ganz speziellen Stimmung bei diesem Festival, das heuer am 10. Oktober in etwa 30 Locations über die Bühne gehen wird. Denn anders als bei den meisten anderen Lesungen sind die Gäste bei Kaffee oder Spritzer entspannt. Und nachher kommen viele Lesenden mit -ihren Fans ins Gespräch.

Da die heimischen Krimischreiber*innen sehr fleißig sind, können sie fast jedes Jahr einen neuen Thriller vorstellen. So etwa Eva Rossmann, die gleichzeitig auch in Buchingers „Gasthaus zur alten Schule“ als Köchin arbeitet, wann immer sie Zeit hat. Ihr neuer Thriller „Fine Dying“ spielt auch in einem Restaurant. Zur Tradition der Kriminacht gehört es mittlerweile, dass alle Nominierten für den Leo-Perutz-Preis – der beim Kriminacht-Auftakt im Hotel Imperial vergeben wird – bei der Kriminacht lesen. Heuer sind das Markus Deisenberger mit „Winter in Wien“, Peter Lorath mit „Fluch der Venus – Wiener Abgründe“, Beate Maly mit „Aurelia und die letzte Fahrt“, Günther Mayr mit „Herr Kuranaga“ und Kurt Palm mit „Der Hai im System“. Mit dabei sind auch Publikumslieblinge wie Max Gruber, Stefan Slupetzky, Beate Maly, Sabina Naber oder Edith Kneifl. Freier Eintritt bei allen Lesungen.

kriminacht.at

„Der Grenzwald“ – Anmerkungen zu Heimito von Doderers Romanfragment zur Einstimmung auf den D-Day am 21. September

Nach dem Riesenerfolg des 1400-Seiten starken Romans „Die Dämonen“ 1956 plante Heimito von Doderer ein noch größeres Werk, das vier Teile umfassen sollte. Fast hätte Doderer ja schon den Nobelpreis errungen, in der deutschsprachigen Literatur machte ihm den Meistertitel niemand streitig. Er war jetzt 60 Jahre alt und hatte noch viel vor. Seinen Romankomplex nannte er im Tagebuch Roman No 7, in Anlehnung an den verehrten Ludwig van Beethoven und seine 7. Symphonie. Den ersten Teil stellte Doderer noch fertig – 1963 erschien mit „Die Wasserfälle von Slunj“ der „Kopfsatz“. Der zweite Satz „Der Grenzwald“ sollte aber unvollendet bleiben, den Doderer starb 1966 an einem zu spät erkannten Darmkrebs.

„Der Grenzwald“ erschien 1967 als Fragment und unterscheidet sich in vielfacher Hinsicht von Doderers bisherigem Werk. Der zweite Satz einer Symphonie ist für gewöhnlich ein langsamer. Wir erfahren von einigen jungen Männern, die bald schon in den Kriegsdienst einrücken müssen und bald auch schon in russische Gefangenschaft geraten. Sie landen in einem Lager im tiefsten Sibirien. Da sie aber allesamt Offiziere sind, geht es ihnen in der Gefangenschaft erstaunlich gut. Sie lernen Fremdsprachen – vor allem Russisch, können musizieren und sich mit Büchern oder mitgefangenen Gelehrten auch weiterbilden. Sogar ein Ausgang ist möglich und nach und nach übernehmen die Gefangenen auch viele Arbeiten im Lager aber auch im nahen Städtchen. Einer von ihnen – Heinrich Zienhammer aus einem (erfundenen) niederösterreichischen Dorf – wird sogar Verantwortlicher für die Holzbesorgung, denn aufgrund des Bürgerkriegs nach der Revolution liegt es mit der Organisation auch der notwendigen Infrastruktur schlimm im Argen. Im Lager gibt es aber natürlich die verschiedenen Nationalitäten der k.u.k. Monarchie, von der man freilich bereits hört, dass sie zerfallen ist. Und so wird Zienhammer Zeuge eines Massakers der Tschechen an den Ungarn, ja er soll diese sogar verraten haben. Aus den Tagebucheintragungen wissen wir, dass Zienhammer nach der Befreiung in Wien Angst hat, vor Gericht gestellt zu werden und einen Mitwisser umbringt. Der vorliegende Text des Romans behandelt freilich nur das Lagerleben und einen missglückten Versuch, mit der Eisenbahn wieder nach Deutschland oder Österreich zu kommen.

Was auffällt ist, dass Doderer im „Grenzwald“ einen für ihn ungewöhnlichen einfache Stil schreibt. Er setzt kurze Sätze ein, manche lässt er sogar bewusst unfertig. Es wirkt vielfach wie stenografiert. Natürlich arbeitet Doderer im „Grenzwald“ seine eigene Kriegsgefangenschaft in Sibirien auf – er war ja nicht weniger als 4 Jahre lang unfrei. Was man noch an dem 240-Seiten-Fragment auffällt: Doderer geht es immer mehr um Atmosphäre, um den Raum und weniger um die Personen. Zienhammer ist kein Verbrecher, sondern ein unscheinbarer Mitläufer, der aufgrund der Ereignisse schuldig wird. Im Tagebuch schreibt Doderer noch 1966: „Zienhammer ist ein wahrer Repräsentant unserer Zeit: ein Mann der routinehaften, impotenten Wurstigkeit, unansprechbar aber auch unangreifbar: es ist daher ganz selbstverständlich, daß er siegt, daß er vernichtet, was ihm in den Weg gerät.“

Und: „Das Tempo Null bleibt der Kern erzählender Prosa…“ Doderer war und ist vielleicht moderner, als viele nur oberflächliche Leser vermuten würden.

Am 21. September feiern wir wieder den D-Day für Doderer – und zwar um 18.30 Uhr im Justizpalast, denn es geht diesmal mit dem Historiker Alfred Pfoser und der Schauspielerin Chris Pichler um den Brand des Justizpalasts in den „Dämonen“. Eintritt frei, keine Anmeldung möglich.


Billie sucht ihren Vater – Der spannende Entwicklungsroman „Paradise Garden“ von Elena Fischer

Auch mit zwei Jobs – im Krankenhaus und in einer Bar – reicht das Geld kaum aus, um Mutter Marika und ihre 14-jährige Tochter Billie im reichen Deutschland ein Leben oberhalb der Armutsgrenze zu ermöglichen. Doch Trübsal blasen ist nicht ihr Ding. Marika gelingt es immer wieder, das Leben in der Sozialsiedlung mit Witz und Phantasie aufzuheitern. Nur wenn Billie wissen will, wer ihr Vater ist, schweigt die Mutter beharrlich.

Die junge deutsche Schriftstellerin Elena Fischer erzählt aus der Perspektive von Billie, als Leser schlüpft man in die Gedankenwelt des Teenagers ein, ihre Sprache ist einfach und direkt, will Billie doch Schriftstellerin werden. Der Roman beginnt mit dem Tod von Marika, der erste Teil ist also eine Rückblende. Das Unglück der beiden beginnt, als Billies Großmutter aus Ungarn bei ihnen in die kleine Wohnung einzieht, weil sie den Ärzten ihrer Heimat Ungarn nicht vertraut. Die können nämlich keinen Grund für ihre Beschwerden finden – wie bald darauf auch ihre deutschen Kollegen. Beim Streit mit Oma fällt Marika fatalerweise auf den Glastisch und stirbt. Billie steht plötzlich vor den Trümmern ihrer Kindheit, sie kommt in ein Heim für Minderjährige, woraus sie allerdings bald flieht – sie will unbedingt ihren Vater suchen, obwohl sie kaum Hinweise und kaum Geldmittel besitzt. In der Klapperkiste ihrer Mutter startet sie in den Norden, wo ihre Mutter nach ihrer Migration aus Ungarn wohnte.

„Paradise Garden“ ist streckenweise ein Road Novel, durch die kindlichen Gedanken Billies gerät die Erzählung bisweilen in die Nähe von Klischees. Doch Fischer weiß, wie sie die Nöte eines Teenagers darstellen kann. Der Showdown mit ihrem Beinahe-Vater gibt uns das Bild einer beschaulichen Biografie im Norden Deutschlands auf einer Insel mit nur wenigen wortkargen Menschen. Sozusagen ein Gefühls-Thriller.


Elena Fischer: Paradise Garden
Diogenes Verlag
348 Seiten
€ 24,50

Kultur trifft Wellness: Karl Markovics liest im Kurhaus Marienkron

Bild: ©Marienkron/Steve Haider

Am 5. August gibt es im Kurhaus Marienkron ein ganz besonderes Kultur- & Wellness-Angebot. Tagsüber das einzigartige Spa genießen und sich kulinarisch verwöhnen lassen – den Tag krönt am Abend Schauspielerlegende Karl Markovics mit einer Lesung aus Alfred Polgars „Über die Menschen“.

Angebot in Marienkron: Tagsüber das Spa genießen und abends bei kulinarischer Verwöhnung der Schauspielerlegende Karl Markovics lauschen.
Am 5. August um 19.00 Uhr liest Karl Markovics aus Polgars Werk „Über die Menschen“ im Kurhaus Marienkron. – ©Stefan Diesner

Lesung

„Der Erzähler Polgar hatte viele Themen. An seinem Tisch im Kaffeehaus – für Polgar ein „Ort der Leidenschaften“ – schrieb er über Städte und Landschaften, Dinge und Tiere. Doch vor allem schrieb er über die Menschen – und nicht zuletzt auch immer über sich selbst.“

Alfred Polgar war ein österreichischer Schriftsteller und Kritiker des 20. Jahrhunderts. Bekannt für seinen scharfen Verstand und Humor, prägte er die Literaturszene seiner Zeit. Mit seinen Werken hinterließ er einen bleibenden Eindruck bei seinen Zeitgenoss*innen. Polgars brillante Beobachtungsgabe und feinsinnige Analyse machten ihn zu einem bedeutenden Intellektuellen seiner Ära. Am 5. August um 19.00 Uhr liest Karl Markovics aus Polgars Werk „Über die Menschen“.

Kombination Lesung & Regenerations-Day Spa inkl. Kulturgenuss am Abend: € 155,- p.P.

Mittags- & Abendbuffet mit vegetarischer Kulinarik und Fisch
1x Entspannungswickel
1x Meditation
1x Bewegungstraining
1x Schnupperguss
Nutzung Indoorpool mit großer Liegeterrasse zum Naturpark, Sauna & Dampfbad, Kneipptretbecken, flauschiger Bademantel, Badepantoffel Tageszimmer für den persönlichen Rückzug
KULTUR.Genuss & Sektempfang mit Karl Markovics am Abend um 19:00

Lesung inklusive Sektempfang: € 30,- p.P.

Karl Markovics liest Alfred Polgar „Über die Menschen“ ab 19.00 Uhr


KARTEN & INFO
5. 8. 2023
19.00 Uhr
02173 80205 0
info@marienkron.at
marienkron.at/kultur

KAFKA am Semmering – Sprache & Musik im Südbahnhotel

Bild: Für die musikalische Darbietung sorgt Nikola Djoric. – ©Nancy Horowitz

Im Rahmen des Sommerprogramms („Liebst du um Schönheit“) im Südbahnhotel gestaltet der Schriftsteller, Regisseur, wienlive-Autor und Moderator Otto Brusatti an zwei Sonntagen im August um 13.30 Aufführungen zu Franz Kafkas Erzählung „Ein Landarzt“. Die musikalische Darbietung besorgt der bekannte Akkordeonist Nikola Djoric. Mit dem Cellisten Valentin Erben (Alban Berg Quartett) gründete Djoric das Duo „Ex Equo“ und mit dem Bariton Bo Skovhus schuf er eine besondere Interpretation von Schuberts Winterreise. 

Otto Brusatti bereitet im echomedia buchverlag zu Franz Kafkas 100. Todestag 2024 ein Buch mit neuen Kurzgeschichten von österreichischen und internationalen Autorinnen und Autoren im Andenken an Franz Kafka vor.

Die Performance findet statt im Rahmen des Mottos: Das 20. Jahrhundert im Brennpunkt eines Menschen statt.

Franz Kafka: Ein Landarzt  –  Gestaltung: Otto Brusatti/ Musik (Akkordeon): Nikola Djoric


Sonntag, 6. August & Sonntag 13. August 2023 – jeweils 13.30 Uhr
Südbahnhotel
+436641261140

Ich scheine, also bin ich – der Hochstaplerroman „Mindset“ von Sebastian Hotz

Dass jetzt ausgerechnet ein Social-Media-Star wie Sebastian Hotz, der als El Hotzo auf Twitter und Instagram als Satiriker mehr als 1 Million Follower hat, einen Roman über einen jungen Mann, der sich im Netz mit teuren Uhren und Autos als reicher Anleger präsentiert, schreibt, erscheint schlüssig. Schließlich hat Hotz sicher Erfahrungen als digitale Berühmtheit. Doch ein Typ wie Maximilian Krach, der aus der deutschen Provinz kommend das Studium hinschmeißt – schließlich haben das alle Erfolgreichen wie Steve Jobs oder Elan Musk gemeinsam –, um gleich an das große Geld zu kommen, macht leider noch keinen Roman. Auch wenn seine Inszenierung als Big Spender, während er in Wirklichkeit als Pizzabote arbeitet, durchaus amüsant zu lesen ist. Und so hat Hotz seinem Protagonisten eine Figur gegenübergestellt, die dessen Consulting-Geschwafel von den belämmerten Schafen und den erfolgreichen Wölfen auf den Leim geht. Mirko ist IT-Mann in einer ebenso faden wie soliden Firma und langweilt sich nicht nur im Job zu Tode. Maximilians „Mindset“ kommt ihm da gerade recht.

Mirko reibt sich freilich mitten in seiner größenwahnsinnigen Winner-Blase immer wieder am Alltag in einer deutschen Kleinstadt – Schützenfest inklusive. Das ist witzig beschrieben, „Mindset“ eignet sich bestens als leichte Strandlektüre. Richtig böse und scharf pointiert wird Hotz – im Gegensatz etwa zu Kollegen wie Heinz Strunk freilich nicht. Dem Buch fehlen mit Sicherheit weitere interessante Protagonisten – die Rezeptionistin Jasmin bleibt etwa zu blass beschrieben. Markos Arbeitskollegin Angela ebenso.

Trotzdem – ein Roman mit einigen originellen Wendungen und immer wieder aufblitzendem Humor. Warum sich Hotz freilich den kleinen Würstchen widmet und nicht den wirklich großen Playern im Consulting-Geschäft, wo sich bestimmt viel tiefere Abgründe auftun, ist freilich rätselhaft.  


Ich scheine, also bin ich – der Hochstaplerroman „Mindset“ von Sebastian Hotz. Buchtipp von Helmut Schneider.

Sebastian Hotz: Mindset
Kiepenheuer & Witsch
288 Seiten
€ 24,50

Am 21. September wird wieder Heimito von Doderer gedacht – Gedanken zu Doderers Kriminalroman „Ein Mord den jeder begeht“

Am 21. September wird wieder Heimito von Doderer gedacht – Hier ein paar Gedanken zu Doderers Kriminalroman „Ein Mord den jeder begeht“.

„Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln wie er will.“

Mit dieser sarkastischen Feststellung beginnt einer der untypischsten Krimis der Weltliteratur, nämlich Heimito von Doderers 1938 bei C. H. Beck erschienener Roman „Ein Mord den jeder begeht“ – bis 1951, dem Erscheinen der „Strudlhofstiege“, das einzige Buch Doderers mit nennenswertem Erfolg. Außerdem ist der Roman quasi ein Auftragswerk seines endlich gefundenen neuen Verlages, Doderer gab auch wie geplant zeitgerecht das Manuskript ab.

Der beschriebene Kriminalfall ist freilich kein geplanter Mord. Der Todesfall ist aber trotzdem entscheidend für das Schicksal des Protagonisten Conrad, dessen Jugend – sehr untypisch für einen Krimi – detailliert beschrieben wird. Doderer spart auch nicht mit eindrücklichen Bildern, die fast nach einer psychoanalytischen Auslegung schreien – etwas, das sich Doderer freilich verbeten hätte.

Der Junge Conrad fängt Molche und bewahrt einzelne Exemplare in seinem Zimmer auf. Sie gedeihen im Dunkeln, es riecht modrig und einmal bringt Conrad einfach so auch eine kleine Schlange um. Ein Spiegel im Vorzimmer lehrt ihn das Gruseln oder eher die Faszination des Abgründigen. Im Großen und Ganzen hat Conrad freilich – als Sohn eines reichen Tuchhändlers – eine sehr unspektakuläre Jugend, wenngleich seine Mutter stirbt und sein Vater ziemlich unzugänglich ist. Doch Conrad, von dem Doderer immer wieder betont, dass er eher kein Geistesblitz ist (er ist „klein Denker vom Beruf“), erhält nach dem Studium die Chance, sich im Betrieb eines Geschäftsfreundes seines Vaters in Württemberg zu bewähren. Bald heiratet er Marianne, die Tochter des Fabriksbesitzers, und erfährt – über ein Bild – vom Schicksal seiner Schwägerin Louison, die mutmaßlich einem Raubmord im Zug ums Leben gekommen ist. Wie sich später über viele Umwege herausstellt, trägt ausgerechnet Conrad selbst Schuld daran – indem er bei einem Ulk unter Jugendlichen mitmachte. Wichtiger ist freilich, wie Conrad in den Bann seiner toten Schwägerin gerät und den Kriminalfall lösen will. Dabei entgleitet ihm freilich sein unspektakuläres Leben. Schon bald nach der Hochzeit, findet er seine Frau nicht mehr begehrenswert und er sieht – trotz Warnungen aus seiner Umgebung – zu, wie sich Marianne nur noch mit ihren Sportsfreunden die Zeit vertreibt. Im Showdown fährt Conrad dann nach Berlin, wo er den längst entlasteten vermeintlichen Raubmörder verfolgt. Der Zufall spielt ihm dann den Aufklärer zu – jenen Jugendlichen, der mit ihm im Nebenabteil saß und der Louison einen Streich mit einem Totenkopf spielen wollte. Conrad fährt nach Hause, wo er seine Frau mit ihrem Liebhaber antrifft, er schleicht sich aus der Wohnung und kommt im Haus eines Freundes wiederum durch einen dummen Unfall ums Leben. Sein Tod scheint fast wie die Strafe für ein ungenütztes Leben zu sein. Denn, wie Doderer im Roman ausführt, bedeutet leben zu wissen, wer man selbst ist. Was natürlich an die berühmte Inschrift am Orakel zu Delphi erinnert.

Interessant ist, wie Doderer in diesem Roman noch jedes Detail der Erzählung auf die Wirkung und das Ende hin anordnet. So erklärt er etwa in der Mitte des Romans, wie eine elektrische Klingel funktioniert und dass es dabei zu einem Funkenschlag kommen kann. Ein solcher löst dann die Explosion aus, nachdem eine unglücklich liebende Bedienstete mittels Gas Selbstmord verüben will. Dass der Roman im III. Reich erscheinen konnte, bedingte natürlich Doderers Mitgliedschaft bei der Reichsschrifttumskammer. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.


Am 21. September wird um 18.30 Uhr der Historiker und frühere Leiter der Büchereien Wien Alfred Pfoser im Justizpalast über Doderers Darstellung des Justizpalastbrandes in den „Dämonen“ sprechen. Chris Pichler liest ausgewählte Passagen. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.

Aufwachsen in Rom, leben zwischen Berlin und Italien – Veronica Raimos Familienroman „Nichts davon ist wahr“

Eine Tochter im Schatten des als Genie angesehenen Bruders – mit einem Vater, der die kleine Wohnung mit Zwischenwänden zu einem Labyrinth mach und einer Mutter, die ihren Kontrollzwang an ihren Kindern auslebt. Veronica Raimo erzählt in Ich-Perspektive von einem Leben, das ihrem ziemlich gleicht. Raimos Bruder ist ebenfalls Autor und sie pendelt gerne zwischen Berlin und Rom. Es ist ein Buch voller kleiner und großer Katastrophen – vom Leiden unter Verstopfung, einem gescheiterten Ausbruchsversuch als Teenager bis zu für sie schrecklichen Besuchen bei der Familie in Apulien und Freundinnen, bei denen der Kontakt abbricht.

Diese Aufzählung lenkt allerdings davon an, wie witzig dieses Buch zu lesen ist. Die Lektüre ist ein großes Vergnügen, denn Raimo besitzt eine stupende Lebensweisheit. Und natürlich nimmt man als Leser an, dass – konträr zum Titel des Buches – alles so oder so ähnlich geschehen ist. Die Langeweile in der Kindheit, die seltsamen medizinischen Behandlungsmethoden des Vaters, die dauernden Anrufe der Mutter und eine Abtreibung, die für sie doch nicht so easy wie gedacht abläuft. Und jede Familie hat auch ihre Geheimnisse – die Tochter kommt dahinter, dass ihr Vater eine Geliebte hatte und Mutter wahrscheinlich davon wusste. Am Ende stellt sich Raimo jener Frage, die sich Schriftsteller immer stellen müssen: Warum schreibt sie? Nämlich konkret sogar über „zwiespältige und frustrierende Dinge“. Wenn das Ergebnis so unterhaltend ist wie dieses Buch, können wir nur hoffen, dass Raimo damit weitermacht.


Veronica Raimo: Nichts davon ist wahr
Aus dem Italienischen von Aufwachsen in Rom, leben zwischen Berlin und Italien – Veronica Raimos Familienroman „Nichts davon ist wahr“ von Koskull
Klett-Cotta
224 Seiten
€ 22,70


Arm in der Schweiz – Lukas Bärfuss „Die Krume Brot“

Der 1972 in der Schweiz geborene Autor und Theatermacher Lukas Bärfuss ist bei uns weniger bekannt, in Deutschland aber – dank Büchner-Preis und vielen Theaterprojekten – ein Star. Er gilt als scharfer Sozialkritiker und sein neuer Roman „Die Krume Brot“ handelt auch von einer Frau, die für ein bescheidenes Leben hart kämpfen muss. Und das in der von Wohlstand geprägten Schweiz. Wir sind in den 70er-Jahren, viele Italiener arbeiten – ohne sozial halbwegs abgesichert zu sein – in Zürich. Adeline hat zwar auch eine italienische Herkunft – die Familiengeschichte ihrer Großeltern und Eltern wird breit erzählt –, sie wächst aber schon in der Schweiz auf – ihr Vater hinterlässt ihr allerdings nur Schulden, die sie aus Stolz auch noch übernimmt. Als Schweizerin wird sie von den Hiesigen aber trotzdem nie anerkannt. Dazu kommen eine sehr dürftige Schulbildung und die Unvorsichtigkeiten der Jugend – sie heiratet aus Liebe einen italienischen Arbeiter und bekommt eine Tochter als der schon wieder in den Süden Italiens abgetaucht ist. Für Adeline spricht ihr Fleiß und ihr starker Wille, sich und das Kind mit harter Arbeit in der Fabrik durchzubringen. Als sie dann einen Schweizer Grafiker und Unternehmer kennenlernt, scheint sich – obwohl sie ihn nicht liebt – das Blatt zu wenden. Doch natürlich stellt sich auch dieser als Schuft heraus, der eigentlich nur an dem Kind interessiert war. Adeline gerät in ihrer Verzweiflung über das von ihm entführte Kind sogar in die Nähe von Aktivisten der berüchtigten Brigate Rosse, deren Kampf sie als Deklassierte natürlich nachvollziehen kann. Sie lässt sich als Botin missbrauchen – im Gegenzug soll sie ihr Kind wiederbekommen. Das Ende scheint vorgezeichnet, Hoffnung spendet Bärfuss nicht. Aber hat Adeline überhaupt ein Recht auf ihr Kind, wenn sie ihm keine Zukunft bieten kann? Das muss sie sich als Mutter fragen.

„Die Krume Brot“ ist ein gut lesbarer Roman zu einem Thema, vor dem sich bekanntlich viele Autoren drücken. Bärfuss kenn das Milieu aber genau, er hat Erfahrungen als Arbeiter und war in seiner Jugend sogar mehrfach obdachlos. In einem Interview erklärte er: „Ich weiß, was es heißt, arm zu sein.“ Ein Buch, das nachdenklich machen sollte.


Lukas Bärfuss: Die Krume Brot
Rowohlt
224 Seiten
€ 23,50