„Das dritte Königreich“ ist auch der dritte Band von Knausgårds Sternenepos

Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård wurde mit einem sechsbändigen autofiktionalen Roman zum Starautor. In der Pandemie begann er ein fiktionales Romanprojekt, in dem ein plötzlich erscheinender Stern am Himmel als Zeichen oder Katalysator für eine Reihe von Protagonisten fungiert. Die beiden ersten Bände – „Der Morgenstern“ und „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ haben beide an die 1000 Seiten, der dritte Roman der Reihe – „Das dritte Königreich“ – ist mit 650 Seiten vergleichbar dünn. Aber das ist egal, denn Knausgård ist ein begnadeter Erzähler, der uns auch Figuren, die nicht interessant erscheinen, mit Spannung folgen lässt. Und dann will man natürlich wissen, wie es weiter geht – in Erwartung von mehreren folgenden tausend Seiten. Vor allem freut man sich fast schon darauf, den einmal abgeschlossenen Romankomplex zur Gänze noch einmal in einem Zug lesen zu können.

In „Das dritte Königreich“ begegnen wir vielen Figuren aus den ersten beiden Bänden. Da ist die manisch-depressive Malerin Tove, die eine Stimme hört, wenn sie ihre Medikamente absetzt, weil sie wieder voll für ihre Familie da sein will. Ihr Mann schreibt an einem Roman, aber vielleicht weiß er längst, dass er nicht das Zeug zu einem Schriftsteller hat. Da gibt es die 19-jährige Line, die in den Dark-Metal-Musiker Valdemar verknallt ist, der nur für eine kleine Gemeinschaft auftritt und jegliche Aufnahmen seiner Musik verbietet. Valdemar ist überzeugt, dass auf das Reich Gottes das Reich Jesu folgt und dann das des Heiligen Geistes – das dritte Königreich. Beim Sex ritzt er sie, weil er sich völlig sicher sein will, dass seine Gefühle echt sind. Line flieht begreiflicherweise entsetzt, kann sich aber seinem Einfluss nicht entziehen, zumal sie bald weiß, dass sie schwanger ist.

Knausgård erzählt alles in der 1. Person, wir schlüpfen also in die diversen Gedankenwelten seiner Figuren. Sogar in die eines Menschen, der laut Medizin klinisch tot ist. Die Diskussionen zwischen zwei Freunden – der eine ist der behandelnde Arzt und der andere ein Hirnforscher – gehören zu den spannendsten des Buches. Denn der Forscher verweist auf Alan Turing, der feststellte, dass etwas Komplexes nur von etwas noch Komplexerem erklärt und erfasst werden könne, sprich: ein Gehirn kann kein Gehirn entschlüsseln. Und dann gibt es etwa noch einen Polizisten, der im Fall einer satanistisch hingerichteten Metal-Band ermitteln soll. Er glaubt auf dem Foto einer Überwachungskamera den Teufel selbst hervorluken zu sehen.

Wir erleben eine Gesellschaft im relativen Wohlstand – ein durch Fleiß reich gewordener Bestattungsunternehmer wundert sich etwa, dass sieben Tage hintereinander niemand stirbt – auf der Suche nach Sinn. Knausgård setzt dabei Mystik sehr wohldosiert ein. Ein bisschen Horror darf aber schon sein. Die ideale Sommerlektüre für Menschen, die nicht nur am Strand lesen. Am Ende verschwindet der Stern so plötzlich wie er gekommen ist, aber das muss ja nicht für immer sein.


Karl Ove Knausgård „Das dritte Königreich“
Aus dem Norwegischen von Paul Berf
Luchterhand
656 Seiten
€ 29,50

Amouröse Verwirrungen in der Sommerfrische mit viel Italianità!

Foto: ©Astrid Knie

Das Theater in der Josefstadt spielt Carlo Goldonis „Trilogie der Sommerfrische” mit starker Ensembleleistung.

Endlich Sommer, endlich ans Meer! Auch Giacinta, eine moderne, unabhängige Frau, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen möchte, will der Großstadthitze entfliehen, zuvor soll sie sich allerdings noch für einen Heiratskandidaten entscheiden: Ihre Wahl fällt auf Leonardo. Auf dem Land gerät Giacinta jedoch schnell in einen Konflikt zwischen Liebe und Loyalität, denn Guglielmo, der wiederum mit Leonardos Schwester Vittoria verlobt wird, hat nun ihr Herz erobert. Am Ende bleiben zwei enttäuschte Paare in Vernunftehen zurück.

Regisseur Janusz Kica bringt Goldonis Tragikomödie aus dem Jahr 1761 mit Tempo, Slapstick und viel Musik auf die Bretter der Josefstadt. Große Paneele ermöglichen schnelle Szenenwechsel. Charaktere und Sprache der Personen sind auch heute noch interessant. Juliette Larat lässt als Giacinta etwas an Erotik vermissen, Paula Nocker spielt sowohl die nervtötende Zicke als auch die unglücklich liebende Vittoria sehr überzeugend. Claudius von Stolzmann lässt als Leonardo schon einmal seinen Schuh in den Schnürboden fliegen und zertrümmert beinahe einen Sessel vor Eifersucht, ganz leidenschaftlicher Liebhaber in Bedrängnis. Sein Gegenspieler Gugliemo (Alexander Absenger) tut so als ginge ihn das alles nichts an, während Raphael von Bargen mit nackter Brust im Goldoutfit den Loverboy für die Witwe Sabina (herrlich unaufgeregt und glaubwürdig Marianne Nentwich) mimt. Höhepunkte des fast dreistündigen Abends liefert Marcello De Nardo als Leonardos Diener Cecco, der italienische Sommerhits perfekt ins Mikrofon trällert.

Insgesamt bieten die 14 Schauspielerinnen und Schauspieler in der Inszenierung, die ohne allzu viele Plattitüden auskommt, eine überzeugende Ensembleleistung zwischen Komik und Tiefgang.


josefstadt.org/karten

Düstere neue Welt – Andrea Grills Roman „Perfekte Menschen“

In „Perfekte Menschen“ sind wir – wie in so vielen aktuellen Romanen – irgendwann und irgendwo in einer nahen Zukunft, die keine gute ist. Zwar geht es den Eltern von Michael nicht schlecht – der Vater ist Programmierer, die Mutter eine erfolgreiche Schwimmerin, sie wohnen in einem schönen Haus – aber die Welt hat sich vollkommen digitalisiert und dadurch inhaltsleer gemacht. Gespielt wird auf technisch ausgefeilten Konsolen, Bildung und alles weitere erhalten alle über „Fieelys“, deren Besitz sogar verpflichtend ist. Die Schrift ist längst abgeschafft, man kommuniziert ausschließlich über Videos und die Natur scheint ebenfalls nicht mehr gebraucht, weil zu gefährlich.

Da wird Michael als 8jähriger von bewaffneten Soldaten – der Regierungsgewalt? – in ein weit entferntes Camp gebracht, wo Buben zu Kämpfern ausgebildet werden und er seinen neuen Namen – Balaban – erhält. Dort ist es noch trostloser als zu Hause, denn natürlich fehlt dem Buben seine Mutter. Sonst hat er ja sowieso kaum soziale Bindungen.

Andrea Grill lebt in Wien und Amsterdam, ist promovierte Evolutionsbiologin und übersetzt aus dem Albanischen. Aus Albanien stammt auch der Mythos von Balaban Badera, der – von Soldaten verschleppt – gegen die eigenen Landsleute kämpfen muss. Aber in „Perfekte Menschen“ wird nicht gar erzählt, wozu der Staat seine Kämpfer ausbildet. Es ist eine Welt, in der sich zu leben sowieso kaum lohnt. Zubetonierte Flüsse, kein Grün und keine Insekten. Es stellt sich also bald die Frage, wohin der kleine Michael fliehen soll mit seiner kleinen Hoffnung, dass es überall besser als im Lager ist. Zumal wir inzwischen wissen, dass seine Mutter ermordet wurde.

Andrea Grill hat einen Roman geschrieben, der im Tonfall und in der erzählerischen Logik an J. M. Coetzees Jesu-Romantrilogie erinnert. Das ist verstörend – auch wenn sie am Ende keine wirkliche Auflösung bietet.


Andrea Grill: Perfekte Menschen
Leykam Verlag
168 Seiten
€ 24,50

Milo Raus „Medea’s Kinderen“ war ein Höhepunkt der Wiener Festwochen

Foto: ©Michiel Devijver

Euripides „Medea“ ist nicht nur ein Flüchtlings-Drama, sondern auch ein Stück über einen unerhörten Kindermord verübt durch die Mutter der Opfer. Dass eine Mutter ihre Kinder umbringt entzieht sich völlig unserem Verständnis, gilt doch die Mutterliebe als  geradezu heilig. Festwochenintendant Milo Rau hat jetzt die antike Medea mit einem tatsächlichen Kindermord vor 15 Jahren in Belgien verwoben. Und: er lässt das durch 6 Kinder im Alter zwischen 8 und 14 Jahren spielen.

Der Abend im Jugendstiltheater beginnt ganz harmlos. Wir sollen glauben, dass die Vorstellung schon vorbei ist und jetzt ein Publikumsgespräch stattfindet. Ein Spielleiter fragt die Kinder – gespielt wird in Niederländisch mit Übertiteln – wie es ihnen denn so ergangen ist am Theater. Nach und nach wollen die Buben und Mädchen aber doch wieder spielen und wir erleben sowohl die Geschichte der Medea als auch das tragische Schicksal einer Familie in Ostende. Dort hatte eine Frau ihren 5 Kindern nach und nach die Kehle aufgeschlitzt, um dann an ihrem eigenen Selbstmord zu scheitern. Ihr Mann, ein Marokkaner war mutmaßlich auch homosexuell, er hatte jedenfalls einen reichen Gönner und war immer länger bei diesem geblieben. 

Sehr klug arrangiert Rau die Szenen und durchaus atemberaubend performen die Kinder – sie schlüpfen in mehrere Rollen, immer wieder werden auch Hintergründe auf einer Leinwand aufgezogen. Fast unerträglich nah sehen wir dann am Schluss auch die Morde – eine emotionelle Zumutung. Mit vielen Fragen und überwältigt vom Können der Darstellerinnen und Darsteller bleibt das Publikum nachdenklich zurück. Anders als in Raus Mozart-Opern-Version des Tito wirkt hier nichts aufgesetzt oder erzwungen. Eine beispielhafte Theaterarbeit. 


festwochen.at

13 neue Kurzgeschichten vom Meister – T.C. Boyle „I walk between the Raindrops“

Kurzgeschichten haben es bei uns noch immer schwer. Die meisten, die sich überhaupt für Literatur interessieren, lesen lieber Romane. Möglicherweise weil Stories schwieriger zu konsumieren sind, denn man muss sich in jeder Geschichte erst zurechtfinden – wer ist der „Held“?, wo spielt das Ganze und in welcher Zeit? Das mag in den USA nicht anders sein, aber dort hatte man immerhin lange Zeit Magazine, die regelmäßig Kurzgeschichten servierten. Der Markt ist kleiner geworden, aber die höhere Achtung für Short Stories ist geblieben. Und so überrascht es nicht, dass die aktuellen Meister dieses Genres aus den USA kommen. T.C. Boyle gehört zweifelsohne dazu, wobei das deutsche Publikum nur einen Bruchteil seines tatsächlichen Outputs kennen.

13 Stories bringt Hanser jetzt heraus, die die Vielseitigkeit seine Oeuvres wieder einmal beweisen. Da machen wohlhabende Kalifornier in einem kleinen Ort in Arizona Bekanntschaft mit dem seltsamen Personal einer Bar. Zwei Welten treffen aufeinander. Eine Geschichte spielt in der Zukunft, wo selbstfahrende Autos auch gegen den Willen ihrer Besitzer entscheiden, wer einsteigen darf und in einer anderen sind wir beim Ausbruch einer Pandemie auf einem Kreuzfahrtschiff. Diese Story hat Boyle geschrieben, als wir von Corona noch so gut wie gar nichts wussten. Das Thema ist aber sowieso, wie sich Menschen verhalten, die auf engstem Raum tagelang quasi eingesperrt werden.

Boyle kann das nämlich perfekt, mit wenigen Sätzen eine Stimmung erzeugen und Personen so knapp beschreiben, dass ihre Handlungen glaubhaft werden. Und er schert sich wenig um die sogenannte political correctness. Am College haben fast gleichaltrige Lehrerinnen und Schüler sexuelle Beziehungen – ein Minenfeld fürwahr, aber dem Autor geht es nicht um Moral, sondern nur um die persönlichen Erfahrungen seiner Protagonisten. Wir sind ja in der Literatur und nicht in einem Gesetzesentwurf. Boyle liebt es auch, Unerwartetes zu bringen – in einer Geschichte sind wir etwa in Frankreich nach dem Weltkrieg, als eine Mutterkorn-Vergiftung einem ganzen Dorf Horror-Halluzinationen verschafft. Lustiger ist die Geschichte, in der selbsternannte Führerinnen Menschen 50 Dollar abknöpfen, damit sie für 2 Stunden im Wald vor der Haustüre allein sein können. Eine echte, schmerzhafte Begegnung mit der Natur erfährt ein Teilnehmer aber erst, als eine Klapperschlange in seinem Vorgarten auftaucht.


T. C. Boyle: I walk between the Raindrops. Stories.
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren und Anette Grube
Hanser
274 Seiten
€ 26,50

Eine Arbeiterfamilie im Sauerland – Martin Beckers Standortbestimmung seiner Herkunft in „Die Arbeiter“

Sagt heute noch jemand barabern oder hackeln? In Deutschland heißt das malochern und bedeutet hartes, körperliches Arbeiten. In den 70er-Jahren waren noch etwa 40 Prozent der Menschen in Österreich und Deutschland Arbeiter, heute sind es gerade einmal noch unter 20 Prozent. Viele Jobs sind verschwunden, aber sehr viele wurden einfach aus dem Arbeitsrecht rausgerechnet, man nennt das Scheinselbständigkeit. Der Neoliberalismus hat übernommen. Nicht geändert hat sich, dass Menschen dieser Klasse durchschnittlich etwa 5 Jahre früher sterben.

Martin Becker wurde 1982 in einer Kleinstadt im Sauerland geboren. Sein Vater war Bergmann und wechselte nach einem Unfall in eine Fabrik, wo er ebenfalls mit schwerem Gerät hantieren musste. Die Mutter versuchte sich als Schneiderin für ein Versandhaus. Geld war immer knapp. Wenn es sich ausging, fuhr man an die Nordsee, übernachtete aber nicht am Strand, sondern billiger im Landesinneren und ernährte sich von Dosensuppen. Den Traum vom Eigenheim erfüllte man sich mit immensen Schulden, das Reihenhaus wurde niemals abbezahlt. Als der Kinderwunsch sich nicht erfüllen wollte, nahm das Paar ein Waisenkind auf – allerdings verschwiegen die Behörden, dass Lisbeth schwer behindert zur Welt gekommen war. Als den Eltern ihr Verhalten seltsam vorkam, bot man ihnen an, das Kind wieder zurückzunehmen – was die Arbeiterfamilie empört ablehnte.

Martin Becker – der Autor lässt uns nie im Unklaren, dass es seine Geschichte ist, die er hier erzählt – kommt als Nachzügler zur Welt, sein Bruder Kristof ist da schon der Vernünftige in der Familie. Becker wird Autor, aber anders als seine französischen Kolleginnen/Kollegen Annie Ernaux oder Didier Eribon, die die Autofiktion zur Kunstform erhoben haben, bleibt er ziemlich unsentimental nahe am Geschehen. Er schreibt sich frei von seiner Wut auf die Eltern, versucht zu verstehen und weiß immer ganz genau, dass deren Geschichten und Sehnsüchte auch seine sind.

Bald schon zerfranst die Familie an ihren Widersprüchen. Mutter ist aufbrausend bei ihrer Jagd nach Schnäppchen, Vater meistens still, am Wochenende trinkt er Korn – für Andersdenkende hat man wenig Verständnis, aber immerhin wählt man immer SPD und keine Rechtsradikalen. Alle sind viel zu dick. Erst am Schluss, als die Brüder sich ihrer Verantwortung für die siechen drei Verwandten stellen müssen, werden Gespräche versucht. Gefühle haben keinen Platz in dieser Wirklichkeit.

„Die Arbeiter“ ist ein nachdenklich machendes Buch über einen schweigenden Teil unserer Bevölkerung, ihre Träume und Wünsche. Am Strand der eiskalten Nordsee stehend, versichert man sich dennoch immer, was für ein schönes Leben man doch hat.


Martin Becker: Die Arbeiter
Luchterhand
302 Seiten
€ 22,70

Gedanken von Otto Brusatti

©Gemeinfrei

Vor hundert Jahren, am 3.Juni 1924, starb Franz Kafka in Kierling bei Klosterneuburg an Lungentuberkulose. Gedanken von Otto Brusatti.

Franz Kafka hat mehr Konjunktur als erwartet, als gedacht noch vor ein paar Jahren, als überhaupt vermutet etwa vor ein paar Jahrzehnten. Er ist zur Nr.1 im Andenken-Jahr 2024 geworden (also jedes für Bruckner oder Kraus, Kant oder Schönberg, Bittner oder Schmidt, Schütz oder Brando, Lenin oder Mayröcker und so fort). 

Warum? Ja, zugegeben, das Geheimnisvolle, Gefährliche, Undurchschaubare oder die schwarzen Seelen vor allem Erkundende, das man zurecht seiner Literatur nachsagt, es fasziniert allemal. Andererseits: Kafka zu lesen erfordert nicht nur Ausdauer, sondern auch Mut (die Romane selbstverständlich, die Erzählungen in ihrer Unterschiedlichkeit, die Tagebücher als Kafka- oder schlicht Psyche-Geheimtipp). Und nun doch noch eine Anmerkung: Ja, es wird ungemein viel über Kafka und seine Werke publiziert. Es herrscht die einhellige Übereinstimmung, dass er zu den prägendsten Literatur-Menschen des ganzen 20. Jahrhunderts zählt, er, der noch vor seinem 41. Geburtstag (ziemlich elend) verstarb. Viel wird aber auch geschrieben, ohne wirklich über die Voraussetzungen firm zu sein – das bürgerliche Leben um und während des 1. Weltkriegs etwa, die Position von Frauen als hehre Gattinnen, Verehrte und gebrauchte Huren, die altösterreichische Literatur-Situation an sich oder bloß rein Praktisches, was in den Texten viel mehr eine Rolle spielt als zunächst zu vermuten wäre.

Dennoch: Der Selbsterkennungswert bei Kafka-Lektüre ist auch um den 100. Todestag so gewaltig wie nur bei ganz wenigen Meistern des Faches. 

Aber noch eines, bloß erzählt: Diesen Franz Kafka konnte man – noch und geradezu brutal – verstehen, nachvollziehen und mehr, ging man etwa in den Hoch-Kommunismus-Jahren (also so zwischen 1970 und 1980) in Prag spazieren. Man begegnete in den Gassen, die damals noch immer aussahen, als hätte sie ein Expressionismus-Stummfilm-Regisseur errichtet, engen, schaurigen oder verstörenden Bildern, Szenen, Menschen, wie aus Angstträumen entsprungenen Situationen, als befände man sich eng zwischen Kafka-Buchseiten.


Die ersten Produktionen der Wiener Festwochen – „Blutstück“, „Barocco“ und „La clemenza di Tito“

Foto: ©Fabian Hammerl

Der neue Festwochen-Intendant Milo Rau, geboren 1977 in Bern, aber global produzierend, will die Wiener Festwochen bekanntlich zu einem gesellschaftspolitischen Projekt machen – mit einer „Freien Republik Wien“, einem Rat der Intellektuellen und Produktionen, die Fragen der Zeit behandeln. Wenn man im Theater sitzt, ist das freilich alles nicht wirklich relevant, sobald das Licht im Zuschauerraum ausgeht zählt nur, ob das Gebotene interessieren kann. Die ersten Premieren zeigen ein lebendiges Bühnengeschehen, das nicht immer gefällt, aber zumindest Positionen vertritt.

Gleich die erste Premiere – „Blutstück“ nach dem Roman „Blutbuch“ von Kim de l’Horizon – kommt dabei wie ein Gruß aus längst vergangenen Hippie-Welten daher. Es geht um unseren menschlichen Körper, aber eigentlich um Identität und die Scham, das Individuum zu sein, das man ist.  Die deutsche Regisseurin Leonie Böhm hat aus dem Roman eine Art Feelgood-Musical mit Menschen auf Selbsterfahrungstrip gemacht. Der Autor spielt selbst mit. Das ist ja alles sympathisch und man gönnt ja auch allen Zeitgenossen mit sich und ihrem Körper glücklich zu sein – aber warum soll ich mir die kindlich-naiven Dialoge im Plastik-Bühnenbild mit aufblasbarer Hand, deren Finger wie Penisse aussehen, antun? Das Publikum war freilich sehr zufrieden und feierte die neue Wokeness.

Solcherart gewarnt wird man von „Barocco“ geradezu umgehauen. Der russische Regisseur Kirill Serebrennikov hat noch im Hausarrest an einem Musikdrama über die Freiheit und den Protest gegen jegliche Repression gearbeitet. Ausgehend von berühmten Selbstverbrennungen aus Protest gegen den Vietnamkrieg oder den Einmarsch des Warschauer Pakts in der Tschechoslowakei, setzt er an diesem Abend einiges in Brand. Und er konterkariert es mit der größten überirdischen Schönheit, die es zu haben gibt, nämlich Barockarien von Monteverdi, Händel und Bach. Die Musik wird mit einem Mini-Orchester live gespielt, aber elektronisch aufgefettet. Ballettnummern setzen zusätzlich dramatische Akzente. Es sind durchwegs starke Bilder und manches – wie der Auftritt eines singenden Zauberkünstlers – scheint auch unnötig. Aber die positiven Eindrücke überwiegen. Einmal muss Daniil Orlov mit nur einer Hand spielen – die andere hält ein Ordnungsmann in Handschellen. Am Schluss explodiert mehrfach eine Villa auf der Leinwand – man ist da an die berühmte letzte Szene von Antonionis „Zabriskie Point“ erinnert.

Festwochen-Chef Milo Rau himself bringt in Wien jetzt seine stark veränderte Fassung von Mozarts letzter Oper „La clemenza di Tito“. Ein Abend der Thesen, bei der Mozarts Werk nur als Gerüst für Überlegungen zu Kunst und Politik herhält. Der Kaiser darf bei Rau nicht mildtätig und gerecht sein, denn er gehört ja zum Establishment. Alles nur Show und so ist sein Tito ein Malerfürst, der versonnen ab und zu mit einem riesigen Pinsel an einem großen Bild werkt. Dazu hat Rau 19 Wienerinnen und Wiener mit Migrationshintergrund gecastet, deren Geschichten auf einer Filmleinwand – oft parallel zu den gerade gesungenen Arien – erzählt werden. Überhaupt gibt es viel Text zu verdauen, der üblicherweise im Programmheft seinen Platz hat. Mozart machte 1791 keine Revolution, die fand bekanntlich in Paris statt. Dass der aufgeklärte, freimaurerische Komponist mit dem Tito dem österreichischen Kaiser die Utopie eines idealen Herrschers vor die Nase hielt, war Rau wohl zu wenig spektakulär. Man tröstet sich an diesem Abend im MuseumsQuartier aber mit der wunderbaren Musik, die Camerata Salzburg spielte unter Thomas Hengelbrock ganz famos und auch die Sängerinnen und Sänger leisteten – den plumpen Regieeinfällen zum Trotz – eine sehr gute Arbeit.

Weitere Festwocheninfos: festwochen.at

Zwischen USA und Irland – Colm Tóibíns Roman „Long Island“, die Fortsetzung seines Erfolgs „Brooklyn“

Der Ire Colm Tóibín ist einer der besten europäischen Erzähler. Mit „Brooklyn“ – 2010 auf Deutsch erschienen – gelang ihm ein Aussiedlerroman, der zeigte, dass selbst für Menschen, die dieselbe Sprache sprechen und aus demselben Kulturkreis kommen, Migration alles andere als leicht ist. „Brooklyn“ wurde 2016 auch erfolgreich verfilmt. Jetzt erschien – gut 15 Jahre später – eine Fortsetzung mit dem gleichen Personal. Thema ist wieder die kulturelle Differenz verschiedener Kulturkreise und die Unfähigkeiten der Menschen zur Kommunikation. Über weite Strecken bestimmt das Ungesagte die Handlung.

Der Roman beginnt mit einem Paukenschlag. Eines Tages taucht bei der in Long Island mit ihrem Mann Tony und den zwei halbwüchsigen Kindern lebenden Eilis ein Mann auf, der ihr erklärt, er werde das Kind, das Tony mit seiner Frau gezeugt hatte, nach der Geburt vor ihre Haustüre legen. Eilis ist entsetzt – den Seitensprung hätte sie ihm wahrscheinlich verziehen, aber ein anderes Kind will sie unter keinen Umständen aufziehen. Tonys italienische Familie sieht das anders, seine Mutter erklärt sich bereit, das Kind zu sich zu nehmen. Doch man wohnt in der Siedlung Haus an Haus, Eilis würde das Ergebnis von Tonys Seitensprung täglich sehen müssen. Sie flüchtet geradezu zu ihrer Mutter, die in Kürze ihren 80. Geburtstag feiern wird – in Enniscorthy, im Westen Irlands. Eilis hatte ihre Heimat vor 20 Jahren das letzte Mal besucht, als sie schon heimlich mit Tony verheiratet war und eine Liebschaft mit dem Pubbesitzer Jim eingegangen war. Ihr Schwanken zwischen Jim und Tony machte die Spannung von „Brooklyn“ aus. Und natürlich trifft Eilis jetzt wieder auf Jim, der sich gerade mit Eilis‘ Freundin Nancy verloben will. Wieder bleibt bis zum Ende offen, wie die Liebesgeschichten ausgehen, wenn man so will, lässt Tóibín sogar noch Raum für einen dritten Roman.

In der Nacherzählung klingt das natürlich wie der Inhalt eines Groschenhefts. Doch Colm Tóibín ist eben ein großartiger Erzähler, der das Unvermögen seiner Protagonisten, sich verständlich zu erklären, genau beobachtet. Er braucht dazu auch keine großen sprachlichen Kunststücke – die Einfachheit seines Stils entspricht perfekt dem Gehalt seiner Geschichte. Der Roman wird abwechselnd von Eilis, Nancy und Jim erzählt, wir sind ganz nahe bei ihnen und verstehen komplett ihre Dilemmata. Mit Zeitangaben ist der Autor sparsam, wir sind in der 2. Hälfte des 20. Jahrhundert, Eilis Kritik daran, dass amerikanische Jungs in Vietnam sterben müssen, hat einen Verweis aus Tonys Großfamilie zur Folge und verweist uns in die 70er-Jahre. Ein Roman für Menschen, die sonst keine Liebesromane lesen.


Colm Tóibín: Long Island
Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini
Hanser Verlag
316 Seiten
€ 27,50

Abwechslungsreicher Dreiteiler

©Ashley Taylor

Das Wiener Staatsballett zeigt mit „Les Sylphides“ Choreographien von Michel Fokine und Uwe Scholz sowie eine Uraufführung von Adi Hanan.

 Die Premiere von Les Sylphides 1909 in Paris sorgte für großes Aufsehen. Ihr Choreograph, Michel Fokine, hatte zu Musik Frédéric Chopins das erste »Ballet Blanc« ohne eine konkrete Handlung geschaffen. Voller Poesie entfalten sich Bilder eines jungen Mannes, der in einem mystischen Wald wundersamen Sylphiden begegnet. Viele kleine Details werden in Soli und kleinen Formen vom gesamten Ensemble getanzt. Olga Esina zeigt überaus elegant ein Prélude, Elena Bottaro tanzt eine Mazurka,und Ionna Avraam führt einen großen Walzer an. In der Volksoper wählte man die Orchestrierung von Frederic Chopins Klavierstücken durch Benjamin Britten, die kurzzeitig verschollen und nun erstmals auch in Wien erklingt.

Nach der Pause brilliert die israelische Künstlerin und Ensemblemitglied Adi Hanan mit einer Uraufführung für das Wiener Staatsballett. In Eden wirft die junge Choreographin zu Musik von Franz Schubert und Arvo Pärt einen frischen Blick auf eine der berühmtesten biblischen Geschichten – Adam und Eva im Garten Eden – und konfrontiert animalisch-wilde Paradies-Vorstellungen mit der Erforschung des Verlusts der Unschuld und der Bewusstwerdung des Menschen im eigenen Körper. Zwei genderfluide Vierergruppen tanzen in raschem Wechsel.

Hinter der Gruppe sind zwei Tänzer*innen in nicht sehr ansprechenden Kostümen – Claudine Schoch und Marcos Menha – die sich, in einen weißen Kokon, bewegen. Schließlich werden sie vom „Wächter des Gartens“ (Yuko Kato) aus dem Stoff geschält.
Das letzte Stück des Abends „Jeunehomme“ in der Choreografie des 2004 früh verstorbenen Uwe Scholz zu Mozarts 9. Klavierkonzert war musikalisch und tänzerisch herausragend. Das Orchester unter der Leitung von Ido Arad und das Ensemble des Wiener Staatsballetts harmonieren perfekt. In einem engen Miteinander agieren Tanz und Komposition, vereinen Dramatik und Leichtigkeit und erschaffen im gemeinsamen Rhythmus eigene Ballettwelten: Bilder von Hingabe und Zweifel, Nähe und Ferne. Jeunehomme, 1986 für Les Ballets de Monte-Carlo choreographiert, gilt bis heute als eine der bedeutendsten Schöpfungen des Choreographen. In Wien wird die Choreographie erstmals seit der Uraufführung wieder im kompletten Bühnen- und Kostümbild Karl Lagerfelds zu sehen sein, das den Geist der Mozart-Zeit aus der Perspektive des zeitgenössischen Couturiers kongenial einfängt. 

 
LES SYLPHIDES
Musik Frédéric Chopin in einer Orchestrierung von Benjamin Britten

EDEN (URAUFFÜHRUNG)
Musik Franz Schubert & Arvo Pärt

JEUNEHOMME 
Musik Wolfgang Amadeus Mozart
Choreographie Uwe Scholz


wiener-staatsoper.at