Der Waffenbesitz gehört zur DNA der USA – Paul Austers Essay „Bloodbath Nation“

Die Zahlen sind so ernüchternd wie in der politischen Debatte der USA wirkungslos: Die USA haben mehr Menschen im eigenen Land durch Schusswaffen verloren als sie Tote in allen ihren Kriegen – vom Unabhängigkeitskrieg angefangen – zu beklagen haben. Insgesamt kommen aktuell jedes Jahr fast 40.000 Menschen in den USA durch Schussverletzungen ums Leben, etwa genauso viele wie bei Autounfällen. Der bekannte Schriftsteller Paul Auster hat jetzt einen Essay zu diesem Thema veröffentlicht, wohl auch um sich selbst zu erklären, wie ein derartiger Wahnsinn möglich ist. Dabei beginnt Auster sehr persönlich. Er erzählt, wie das Abfeuern einer Waffe für ihn als Teenager nichts Besonderes war und er sogar – ohne Übung – ein Meister im Tontaubenschießen wurde. Freilich hatte er dann andere Interessen, Waffen gehörten für ihn nicht zum Alltag. Seine Familie hasste zudem Waffen. Erst sehr spät erfährt er den Grund dafür, nämlich dass in einer sehr verdrängten Familiengeschichte ein Revolver eine wichtige Rolle spielte. Seine Großmutter hat nämlich seinen Großvater im Affekt erschossen – damals, gleich nach dem 1. Weltkrieg, fand sie einen Richter, der sie aufgrund temporärer Unzurechnungsfähigkeit freisprach.

Auster gibt auch zu, dass er vielleicht anders denken würde, wenn er im Süden der USA aufgewachsen wäre, wo Waffenbesitz einfach zum Alltag gehört. Er erklärt, wie die USA aus einer Miliznation entstanden ist, wo die Bürger ihre Waffen stets griffbereit haben mussten. Bis zur Bürgerrechtsbewegung, als viele weiße Amerikaner sich vor „Black Power“ fürchteten, war die inzwischen berüchtigte Waffenlobbyvereinigung NRA ein kleiner Verein für Sportschützen. Die aller Vernunft spottende Bewaffnung der US-Staatsbürger – es gibt längst mehr Schusswaffen als Einwohner – ist also gar noch nicht so alt. Frustrierend Austers Einschätzung der Zukunft: Selbst wenn es einmal eine Regierung mit großer Mehrheit geben würde, die europäische Gesetze und Prämien für jene, die ihre Waffen abgeben, durchsetzen könnte – eine solche ist aber sowieso nicht in Sicht – würde alles ähnlich sinnlos sein wie das Verbot von Alkohol während der Prohibition, zumal man heute mittels 3D-Drucker einfach selbst Waffen herstellen kann.

Interessant ist Austers Schilderung des einzigen Falls, in dem ein Attentäter durch einen beherzten Mann mit einer Waffe gestoppt wurde – denn die NRA und ihre Anhänger behaupten ja immer, dass man Waffen brauche, um Amokläufern das Handwerk zu legen. Der damalige „Held“ war schwer geschockt, weil er auf Menschen schießen musste, der Attentäter flüchtete zunächst auch noch im Auto, ehe er sich schwer verwundet das Leben nahm. Und erhellend ist auch Austers Vergleich von Schusswaffen mit dem zweiten Heiligtum der USA, dem Auto. Denn beim Individualverkehr ist es durch strenge Gesetze und Auflagen nach und nach gelungen, die Todeszahlen drastisch zu senken. Sicherheitsgurte wurden etwa in den USA lange vor Europa Pflicht.

Ein wichtiges Buch – auch wenn man sich als Europäer natürlich nicht wirklich angesprochen fühlt und Auster keine Lösung dieses Problems für die USA zeigen kann.

Gespenstig sind die im Buch abgebildeten Fotos von Austers Schwiegersohn, des US-Fotografen Spencer Ostrander, der Schauplätze bekannter Waffengewalt-Massaker in den USA in Schwarz-Weiß fotografiert hat – menschenleere Supermärkte, Schulen, religiöse Einrichtungen, die nach den Tragödien geschlossen wurden.


Paul Auster: Bloodbath Nation
Mit Fotos von Spencer Ostrander
Aus dem Englischen von Werner Schmitz
Rowohlt
180 Seiten
€ 27,50


Yasmina Rezas „James Brown trug Lockenwickler“ in den Kammerspielen

Szenebild aus „James Brown trug Lockenwickler“ – ©Moritz Schell

Die Französin Yasmina Reza kennt man als scharfe und witzige Chronistin unser westlichen Mittelstandsgesellschaft. In „Der Gott des Gemetzels“ treffen etwa zwei Familien, deren Kinder körperlich aneinandergeraten waren, zu einem Versöhnungstreffen aufeinander, was natürlich gründlich schiefgeht. Das Stück wurde auch von Roman Polański höchst erfolgreich verfilmt. In der neuen, erst im Vorjahr in München uraufgeführten Komödie „James Brown trug Lockenwickler“ geht es wieder um eine Familie und deren Sohn. Dieser hält sich seit seinem fünften Lebensjahr für den kanadischen Superstar Céline Dion. Das Stück spielt in einer psychiatrischen Einrichtung – in den Kammerspielen ist man da gleich in einer Art weißen Gummizelle (Bühnenbild: Sabine Freude). Jacob/Celine, gespielt von Julian Valerio Rehl, ist fast in allen Szenen anwesend, oft aber nur stummer Beobachter.  Regisseurin Sandra Cervik unterstreicht das Märchenhafte der Geschichte, denn alle Figuren wirken von der Autorin stark überzeichnet. Die Psychologin (Alexandra Krismer) ist mit ihrem seltsamen Verhalten geradezu das Klischee ihrer Zunft. Was dieser Komödie allerdings abgeht ist ein klarer Konflikt, denn Reza stellt sich keinesfalls der heutigen Identitäts-Problematik. Dass sich Jacob als Frau fühlt, ist zwar für die Eltern nicht angenehm, würde aber wahrscheinlich sogar der konservativen aber unsichere Vater (Juergen Maurer) irgendwie schlucken. Sein insistieren, Céline Dion zu sein, ist allerdings wirklich ein psychischer Defekt, den man mit dem Recht auf die eigene Identität schwer verteidigen kann. Der einzige Freund, der Jacob in seiner Rolle akzeptiert, ist ausgerechnet ein junger weißer Mann, der sich für einen Schwarzen hält. Manche würden das als sozio-kulturelle Aneignung empfinden…

In den Kammerspielen gehen die gut anderthalb Stunden Spiel durch die Professionalität des Ensembles – Maia Köstinger spielt die ratlose Mutter – sehr kurzweilig vorbei. Am Ende bricht die hintere Wand der Zelle weg und Jacob steht glücklich im Sternenhimmel. Na schön, Wohlfühlstücke sind ja heute eh rar.


Infos & Karten: josefstadt.org

Gespenstische Satire – Elias Hirschls neuer Roman „Content“

Mit seinem 2021 erschienenen Roman „Salonfähig“ über die Slim-fit-Polititikerkaste erregte der 1994 geborene Wiener Autor und Slam-Poet Elias Hirschl erstmals größere Aufmerksamkeit. Sein neuer Roman „Content“ spielt in einer nahen Zukunft in einer ungenannten Stadt, die auf stillgelegten Kohlefeldern gebaut wurde. Die Protagonistin will einen Roman schreiben, braucht aber den Job in einer Content-Fabrik, wo Beiträge für soziale Plattformen auf dem laufenden Band hergestellt werden. Die 31-jährige Newcomerin muss Listen erfinden nach dem Motto: Die schlechtesten Promi-Trennungen aller Zeiten oder die Top 10 besten Tipps für ein glücklicheres Leben, immer mit dem Hinweis versehen (Die Nummer 7 wird dich zum Weinen/Lachen/Schmunzeln etcetera bringen). Andere schreddern daneben Handys mit Stabmixer oder Hydraulikpressen, während sie zwischendurch weiter davon träumen, in amerikanischen Late-Night-Shows aufzutreten.

Das mit dem Roman wird immer schwieriger, denn bald kann sich die Erzählerin auf nichts mehr konzentrieren, was mehr als 30 Sekunden Aufmerksamkeit erfordert. Zwischendurch passieren Unfälle, die an Monty-Pyton-Sketche erinnern. Eine Mitarbeiterin greift absichtlich in die Hydraulikpresse, weil sie die Taubheit rundherum nicht mehr erträgt, und ein Autor stürzt in ein plötzlich sich bildendes Riesenloch. Ein Lover – Sex ist allerdings so spannend geworden wie ein Klogang – gründet derweilen ein Start-up nach dem anderen. Nach einer privaten Feuerwehr, die kalte Getränke an Brandopfer und Schaulustige verkauft, gründet er ein Unternehmen, das Wasser abpumpt – da versinken allerdings bereits ganze Häuser in der vom Bergwerk ausgelösten Überschwemmung. Der Erzählerin entgleitet nach und nach ihr Leben. Selbst ihr Social-Media-ich wird gekapert – sie muss zusehen, wie sie heiratet und ihre Eltern mit ihr glücklich werden. Irgendwann hat die Heldin dann eine KI so konfiguriert, dass ihr das Listenschreiben abgenommen wird und sie gar nicht mehr ins Büro kommen braucht.

Elias Hirschl schafft in „Content“ eine Welt, die von der unseren vielleicht nur noch um einen Dreh entfernt ist. Das ist satirisch witzig, aber auch gespenstisch. Denn die Millionen Videos auf den Plattformen müssen ja tatsächlich irgendwo hergestellt werden. Und wer mit der U-Bahn fährt, sieht schon heute kaum mehr Menschen, die nicht auf ihr Smartphone starren. Die Wirklichkeit ringsum ist längst out.


Gespenstische Satire – Elias Hirschls neuer Roman „Content“.

Elias Hirschl: Content
Zsolnay
224 Seiten
€ 24,50

Pioniere der KI – Benjamin Labatuts Wissenschaftsthriller „MANIAC“

Über KI machten sich Menschen schon Gedanken, als es noch nicht einmal Taschenrechner gab und findige Programme besiegten Profispieler in Schach und Go lange vor Rechnern mit heutigen Kapazitäten. Davon erzählt der Roman „Maniac“ des in Rotterdam geborenen und in Chile lebenden Autors Benjamin Labatut.

Er beginnt mit dem Wiener Physiker Paul Ehrenfest, der Einstein verteidigte und zu dessen Freund wurde – bis er zunehmend verzweifelnd an den politischen Umständen sich und seinen am Down-Syndrom leidenden Sohn 1933 in Amsterdam erschoss. An Ehrenfest zeigt Labatut wie die Physik durch die Quantentheorie und die Mathematik durch Kurt Gödels Unvollständigkeitssatz erschüttert wurden.

Den größten Teil des Buches macht aber die Schilderung des ungarischen Mathematikgenies John von Neumann aus. Neumann arbeitete an der Quantenmechanik, erfand die Spieltheorie, arbeitete an entscheidender Stelle am berühmten Manhattan-Projekt zur Schaffung der ersten Atombombe mit – er berechnete etwa den besten Zeitpunkt der Detonation, um die maximale Zerstörungskraft zu entwickeln – und schuf die ersten modernen Computer. Der Buchtitel MANIAC steht für Mathematical Analyzer Numerical Integrator And Computer, die Architektur eines funktionierende Rechners, die noch heute gültig ist. Als er unheilbar krank im Spital lag, bewachte das US-Militär sein Zimmer, damit niemand noch im letzten Moment eventuelle neue Ideen von Neumann mitschreiben konnte. Labatut beschreibt Neumann aber nie direkt, sondern lässt ihn durch Menschen aus seiner Umgebung – Mitarbeiter, seine Frauen, seine Mutter – sehen.

Im letzten Kapitel geht es um die berühmten Duelle Mensch gegen Maschine anhand von Schach und Go. Die Schachgroßmeister gaben bald w/o, aber das weitaus komplexere chinesische Go-Spiel schien lange Zeit für Rechner zu komplex. Erst 2016 schlug das Programm AlphaGo die koreanische Go-Legende Lee Sedol, der daraufhin zu spielen aufhörte. Der Kampf wird spannend wie ein Krimi erzählt – ein Buch für Menschen, die über die Zukunft unserer Welt im Schatten von Maschinen nachdenken wollen.


Benjamin Labatut: MANIAC
Aus dem Englischen von Thomas Brovot
Suhrkamp
400 Seiten
€ 27,50

Science-Fiction auf der Bühne – „Die Angestellten“ im Volkstheater

Szenenbild aus „Die Angestellten“. – ©Marcel Urlaub

7 Darstellerinnen und Darsteller in bunten Kostümen (von Felix Siwiński) bewegen sich mit oder gegen den sich drehenden Bühnenuntergrund, in dessen Zentrum eine Keramikskulptur von Ulrike Zerzer steht. Dazu riesige Videowalls, die das sparsame Geschehen auf der Bühne übertragen – gefilmt von einem schwenkbaren Industrieroboter. Wir sind im 22. Jahrhundert und Menschen und Androide arbeiten gemeinsam auf einem Raumschiff – äußerlich völlig ununterscheidbar. Aus dieser Konstellation kann man, wie bereits vielfach geschehen (etwa durch Stanislaw Lem oder in den Alien-Filmen), spannende Storys machen. Im Volkstheater bastelte der Münchner Regisseur Alexander Giesche aus dem Debütroman der 38-jährigen Dänin Olga Ravn „Die Angestellten“ ein „Visual Poem über Arbeit im 22. Jahrhundert“ so die Selbstbeschreibung.

Über die Arbeit auf dem Raumschiff erfahren wir allerdings herzlich wenig und auch der naheliegende Konflikt zwischen Mensch und Maschine wird höchstens angedeutet und schlägt sich nicht in einer Handlung nieder. Das engagierte Schauspielteam (Elias Eilinghoff, Frank Genser, Hasti Molavian, Lavinia Nowak, Nick Romeo Reimann, Uwe Rohbeck, Birgit Unterweger) darf nach und nach Monologe halten – ein Lichtstab zeigt an, wer dran ist. Spätestens wenn dann alle gemeinsam Monopoly spielen, beginnen bereits Zuschauer abzuwandern. Der Rest schaltet irgendwann ab oder genießt bestenfalls die Theatertechnik – Videos werden arg verfremdet und die Nebelmaschine darf zeigen, was sie kann (Bühne und Lightdesign: Matthias Singer). Es ist schon seltsam wie oft zurzeit an Wiener Bühnen den Stärken des Theaters – etwa dem Dialog – misstraut wird und das Publikum stattdessen mit filmischen Effekten entschädigt werden soll.

Infos & Karten: volkstheater.at

„Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ ist der zweite Band von Knausgårds Morgenstern-Trilogie

Zunächst einmal: Das waren die kürzesten und angenehmsten 1000 Seiten (genau 1050) der letzten Jahre. Karl Ove Knausgård, der mit extremer und auch extrem ausufernder Autofiktion bekannt wurde, kann zweifelsohne interessant erzählen. Wenn er etwas spezieller schildert, dann hat das bei ihm einen Grund. Denn im zweiten Band seiner Morgenstern-Trilogie (der Abschlussband soll noch heuer erscheinen und liegt im Original bereits vor) befinden wir uns – bis auf einigen Einsprengseln – im Kopf zweier Geschwister.

Etwa 500 Seiten erzählt Syvert, der 1986 nach seinem Militärdienst in das Haus seiner Familie in Südnorwegen bei Bergen zurückkehrt, wo nur noch seine Mutter und sein kleiner Bruder Joar leben, denn der Vater ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Syvert weiß nicht so recht, was er mit seinem Leben anfangen soll – für die Uni bräuchte er noch ein paar Kurse und es ist sowieso Sommer. Mutter arbeitet viel und sein Bruder ist zwar unheimlich schlau, aber sozial etwas eigen. Er hört Heavy Metal, trifft frühere Freunde und verliebt sich schließlich in ein etwas kompliziertes Mädchen. Weil die Familie Geld braucht, tritt er einen Aushilfsjob bei einem Bestatter an.

Aber da ist das Thema des Romans sowieso bereits eingeleitet. Denn den Tod seines Vaters kann Syvert einfach nicht verstehen. Und dann findet er noch Briefe an den Vater in Russisch. Er hatte gar nicht gewusst, dass sein Vater diese Sprache beherrschte. Er lässt sie von einem schrulligen Privatgelehrten übersetzen und erfährt, dass sein Vater eine Geliebte in der Sowjetunion hatte. Ja mehr noch – vor seinem Tod, gesteht ihm die Mutter, wollte sein Vater die Familie verlassen. Reichlich Stoff zum Nachdenken für einen noch nicht 20jährigen, auch wenn Syvert nicht gerade als Intellektueller beschrieben wird. Zumal Vaters Geliebte im letzten Brief andeutet, schwanger zu sein. 1986 ist auch das Jahr, in dem Tschernobyl explodiert – die Nachrichten werden immer beunruhigender. Doch Knausgård schlachtet das überraschend wenig aus. Viel interessanter scheinen ihm die Ideen der Evolution oder was lebendige und unbelebte Materie voneinander unterscheidet. Bekanntlich ist ja alles, was jemals existierte und jemals existieren wird, bereits mit dem Urknall da und geht nicht verloren.

Im zweiten Part des Buches ist dann Alevtina die Hauptperson – wir sind etwa 40 Jahre später in der Jetztzeit, denn Alvetina ist das Kind der Briefschreiberin und somit Syverts Halbschwester in Russland. Sie ist ausgebildete Biologin, hat aber in den letzten Jahren ihren Job gewechselt und arbeitet nun als Ärztin. Erst als ihr Vater stirbt, hat sie den Mut, einen vor Jahren geschriebenen Brief Syverts zu beantworten und ein Treffen in Moskau vorzuschlagen. Dieses  Zusammentreffen, das zunächst völlig schief zu gehen scheint, ist sozusagen der Abschlusshöhepunkt des Romans. Alvetina hat natürlich ihren leiblichen Vater niemals kennengelernt. Als junge Biologin wollte sie beweisen, dass die Bäume gemeinsam mit den mit ihnen in Symbiose lebenden Pilzen eine Art Bewusstsein haben. Eine Dichterfreundin interessiert sich währenddessen für einen russischen Utopisten, der nichts Geringeres als die Wiedererweckung all jener Toten in Angriff nehmen wollte, die jemals auf der Erde gelebt haben. Im Zuge ihrer Recherchen lässt sie sich Tanks zeigen, in denen heute schon Menschen für die Ewigkeit eingefroren werden. Die Transhumanisten im Silicon Valley sind da sicher schon weiter…

Alle Nebenstränge auch nur anzudeuten, ist kaum möglich. Wir erleben Schlägereien, Gewaltausbrüche, Überfälle und diverse Alkohol- und Drogenräusche. Am Ende erscheint auch wieder der helle Stern aus dem ersten Band auf dem Horizont und plötzlich sterben mehrere Tage lang keine Menschen.

Knausgårds „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ ist ein faszinierender Roman über den Tod und die Versuche ihn zu überwinden, dargebracht in einer Familiengeschichte – bekanntlich das langlebigste und erfolgreichste Genre überhaupt.


Karl Ove Knausgård: Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit
Aus dem Norwegischen von Paul Berf
Luchterhand
1056 Seiten
€ 31,50

Nosferatu nach Bram Stoker im Burgtheater

Bild: ©Susanne Hassler-Smith

In Krisenzeiten haben Horrorgeschichten angeblich Konjunktur – und das hat ja durchaus Sinn. So sollen etwa während der Pandemie Liebhaber von „The Walking Dead“ und Co. besser mit den psychischen Beeinträchtigungen zurande gekommen sein als andere.

Das Burgtheater liefert uns jetzt in unseren schwierigen Zeiten eine Fassung von Bram Stokers „Dracula“ und Murnaus Stummfilmklassiker „Nosferatu“. Der Text stammt von Gerhild Steinbuch, die Regie besorgte Adena Jacobs, das Bühnenbild Eugyeene Teh. Der Abend (zwei Stunden) ist allerdings weniger zum Gruseln als zum Wundern. Alle Darstellerinnen – ja auch der Graf ist eine Frau – monologisieren abwechselnd, während sich komplexe Videoaufnahmen und dunkle Szenen auf der Bühne abspielen. Es gibt kein Schloss, sondern ein großes Haus, in dem sich – nach Drehung – ein Sanatorium offenbart.

Nosferatu im Burgtheater: Viel Blut fließt, aber es lässt sich nur selten lokalisieren. – ©Susanne Hassler-Smith

Markus Meyer gibt als einzige männliche Stimme den fliegenfressenden Diener Nosferatus, der offenbar aus Therapiegründen gefesselt wird. Viel Blut fließt, aber es lässt sich nur selten lokalisieren. Das Unerhörte des Stoffes – ein untoter Mann krallt sich eine Jungfrau und saugt sie aus – hat bei dieser Produktion niemand interessiert. Stattdessen werden Anspielungen auf KZs gemacht. Ohne Dialoge wirken die Szenen – trotz hervorragender Schauspielerinnen wie Sylvie Rohrer, Elisabeth Augustin oder Bibiana Beglau – wie Rezitationsübungen. Die irritierenden Bilder bleiben indes nicht wirklich lange im Gedächtnis. Auch das Premierenpublikum schien nicht wirklich erfreut.


Infos: burgtheater.at (am Spielplan wieder am 27.1. und 4. 2.)

Das ungeheure Ungeziefer – Lucia Bihler inszeniert Kafkas „Die Verwandlung“ im Akademietheater

Bild: ©Marcella Ruiz Cruz

Auf den jungen Mann lastet schon eine große Verantwortung, nachdem sein Vater nicht mehr arbeiten kann oder will und seiner Schwester noch eine Ausbildung ermöglicht werden soll. Doch nach „unruhigen Träumen“ findet sich Gregor Samsa „eines Morgens“ zu einem „ungeheuren Ungeziefer verwandelt“ wie es in dem berühmten ersten Satz in Franz Kafkas wohl bekanntesten Erzählung „Die Verwandlung“ heißt. Die Metamorphose legt die Ängste und Spannungen im doch bisher geordneten Leben eines diensteifrigen Handlungsreisenden bloß. Seine Stellung als Ernährer der Familie fällt in sich zusammen, bis er am Ende nur noch als Belastung wahrgenommen wird. So radikal und schonungslos wie Kafka hat niemand noch die Reduktion des Menschen auf seine Funktion in der Gesellschaft beschrieben.

Die Metamorphose legt die Ängste und Spannungen im doch bisher geordneten Leben eines diensteifrigen Handlungsreisenden bloß.
Die Metamorphose legt die Ängste und Spannungen im doch bisher geordneten Leben eines diensteifrigen Handlungsreisenden bloß. – ©Marcella Ruiz Cruz

Die junge deutsche Theaterregisseurin Lucia Bihler übersetzt den inneren Monolog Gregor Samsas in bunte, expressionistische Bilder (Bühne: Pia Maria Mackert). Ihr Ungeziefer (gespielt von Paulina Alpen) spricht nicht und ist auch kein Käfer, sondern ein grotesk überzeichneter Mensch in einem orangen Überrock. Mutter (Dorothee Hartinger), Vater (Philipp Hauss) und Schwester (Stefanie Dvorak) tragen meistens Marionettenköpfe und als Erzähler in schwarz tritt Franz Kafka himself auf (Jonas Hackmann). Dabei verschieben sich die Räume unaufhörlich – Samsa wird klein wie eine Puppe, Figuren bewegen sich auf der Decke oder an der Wand. Der Text der „Verwandlung“ wird abwechselnd gesprochen und oft auch wiederholt. Dabei entsteht in anderthalb Stunden ein beklemmendes Gesamtbild, das uns den vor hundert Jahren gestorbenen Autor näherbringt. Sollte man erlebt haben.


Infos & Karten: burgtheater.at (nächste Spieltage: 3.2. und 10.2.)

Frauen und Mädchen in England heute – Saba Sams‘ Kurzgeschichtenband „Send Nudes“

Die 1996 in Brighton geborene Saba Sams gewann unter anderem den BBC Short Story Award und gilt jetzt bereits als eine der talentiertesten jungen Autorinnen Englands. Nach der Lektüre ihrer 10 Geschichten in „Send Nudes“ kann man nur sagen zurecht. Ihr gelingen nämlich höchst eindrucksvolle Porträts von Frauen und Mädchen, die alle – wie man heute sagen würde – gewisse Defizite aufweisen. Oder aber sie spiegeln exakt unsere heutige kaputte Gesellschaft wider. Da ist etwa die Studentin, die sich in eine Kommilitonin verliebt, die nichts als Partys, Sex und den großen Rausch im Kopf hat. Oder eine Zwölfjährige, die von der viel älteren Stieftochter dafür gehasst wird, weil ihr Vater eben eine neue Beziehung mit deren Muttereingegangen ist. Zwei Mädchen leben da den ganzen Sommer auf Festivals, weil ihre Mütter dort als Trapezkünstlerinnen auftreten. Und eine junge Frau freundet sich so mit dem großen Hund ihres Liebhabers an, dass dieser schließlich nur noch auf sie hört. Die Titelgeschichte zeigt uns eine Frau, die ihre gnadenlose Einsamkeit in einem Internetforum loswerden will.

Mehr noch als die Geschichten selbst fasziniert der Stil der jungen Britin. Da scheint kein Wort zu viel zu stehen, die Dialoge sind prägnant und künstliche Melancholie oder Larmoyanz ist nirgendwo auszumachen.


Saba Sams: Send Nudes. Storys.
Aus dem Englischen von Sophie Zeitz
Piper
208 Seiten
€ 23,50


„Der Sandmann“ als musikalisches Schauermärchen im Theater Das TAG

„Der Sandmann“ ist ein Stück gegen den aufstrebenden Transhumanismus. – ©Stefanie Kleindopp / Anna Stöcher

Spätestens mit der Romantik beginnen Dichter intensiv darüber zu reflektieren, was Maschinen – zumal menschlich aussehende – mit uns machen. Und deswegen ist es nicht weit hergeholt, wenn Regisseur Bernd Liepold-Mosser aus der Horrorgeschichte „Der Sandmann“ mit der künstlich lebendigen Aufziehpuppe Olimpia ein aktuelles Stück gegen den Transhumanismus macht. Schließlich zieht bereits bei Hoffmann die Geliebte gegen die Maschine den Kürzeren im Kampf um den Studenten Nathanael. Denn Olimpia widerspricht nicht, sondern sieht ihn stets mit verliebtem Blick an.

Das musikalische Schauermärchen hätte eigentlich schon 2020 uraufgeführt werden sollen – doch die Pandemie vereitelte dies. Und so ging die Produktion stark überarbeitet und mit mehr Musik ausgestattet zuerst nach Villach und hatte jetzt in der Gumpendorfer Straße Premiere. Naked-Lunch-Mitbegründer Oliver Welter spielt seine Musik – unterstützt von Alf Peherstorfer  live auf der Bühne – er performt sogar einige Songs solo. Das ist nicht nur gut zum Transport der Message, sondern macht auch echt eine besondere Stimmung. Jens Claßen, Michaela Kaspar, Raphael Nicholas, Lisa Schrammel und Georg Schubert spielen die Rollen. Quasi die Seele der Puppe sind die Augen, die der Wetterglashändler Coppola herstellt und sorgsam bewacht. Dass der Sandmann Coppelius heißt, legt nahe, dass es ein und dieselbe Person ist. In der Romantik liebte man die Andeutung. Nach 80 Minuten musikalisches Theater haben Besucher jedenfalls viel zum Nachdenken.

Infos & Karten: dastag.at